Читать книгу Trollingermord - Hendrik Scheunert - Страница 5
Prolog
ОглавлениеUhlbach, die kleine Gemeinde am Rande von Stuttgart, die im Jahre 1247 erstmals urkundlich erwähnt und 1937 in die Landeshauptstadt eingemeindet wurde, lag friedlich zwischen den Weinreben des Rotenberges. Hoch über dem Ort thronte, vom Mond angestrahlt, die Grabkapelle, die König Wilhelm von Württemberg zu Beginn des 19. Jahrhunderts für seine verstorbene Gattin, Katharina Pawlowna, hatte erbauen lassen.
Ganz so friedlich ging es unten in der Wirtschaft des Weingärtners Andre Kalter nicht zu. Jener arbeitete früher für eine Automobilfirma im Stuttgarter Norden, bis er die Liebe zum Wein entdeckte und seinen bisherigen Beruf aufgab. Mit seinen 46 Jahren war er nun Vorsitzender des Weinkonvent Uhlbach, einer Weinbaugenossenschaft von Winzern aus den Orten Rotenberg und Uhlbach. Seither mühten sie sich redlich, aus ihren Reben den besten Ertrag herauszuholen. Mit Erfolg. Der Wein wurde über die Landesgrenzen hinaus geschätzt, doch, so die Meinung des Vorsitzenden Andre Kalter, wäre eine weitere Expansion erstrebenswert. Dies stand jetzt auf der Tagesordnung ihrer vierteljährlichen Sitzung.
»Wir müssen lokal denken, aber global handeln. Dann können wir noch mehr aus unseren Reben rausholen. Wir haben hier die besten Voraussetzungen. Mit den Badenern oder Pfälzern halten wir doch locker mit, was die Qualität angeht. Wenn wir nicht sogar besser sind. Think local and act global.«
»Der Spruch hert sich bled a. Think local and act global. Mir sen a Weingenossenschaft, ond des wellet m’r au bleibe. Da kannscht d’r dein Spruch sonscht wo no bebbe.«
Die Antwort von Gerd Bäuerle, einem der Wengerter aus Uhlbach, kam nicht überraschend.
»Weil i da grad was von global g’hört hab, wo isch dei Klo. De Viertele wellet raus.«
Hans Kupernick, Sohn schlesischer Einwanderer, mit fast 90 Jahren der Älteste der Runde, erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl, was angesichts von vier Viertele kein Wunder war. Verwunderlich schien eher, dass seine Blase dem Druck solang standhalten konnte.
»Gang runter, dann links«, antwortete Kalter, der zweifelte, ob er die Toilette finden würde.
»Aber ned, dass du mir bei de Mädle nei goascht«, feixte einer der Winzer.
»Halt dei Gosch, du bleder Bachel«, kam es als prompte Antwort vom alten Hans, der sich im Watschelschritt seinem Ziel näherte.
»Mir hen nix davo, wenn dann so an Haufe Tourischte aus was weiß i woher kommet. D’r oinzige, wo sich freit, bisch du, weil dei Zimmer elle ausgebucht sen. Aber i han da koi Luscht druf. Sag i dir ganz ehrlich. Mir han jetzt scho kaum Parkplätz, weil die Seggel überall Radweg napflanze müsset. Mit mehr Tourischte wird’s no schlimmer. Noi, da beischt du bei mir uff Granit«, gab Wolfgang Sulzgrieser zu bedenken.
»Ond die viele Busse mit denne Asiate. Bloß ned«, jammerte der alte Hans, der, augenscheinlich erleichtert, wieder von der Toilette zurückkam.
Andre Kalter merkte, heute konnte er mit keinem der Wengerter einen Deal machen, geschweige denn vernünftig reden. Zum Glück, so dachte er nicht ohne Hintergedanken, waren die meisten von ihnen schon in einem Alter, wo sich die Erben die Hände rieben.
»Meinetwegen«, versuchte er, die Winzer zu beruhigen, »dann diskutieren wir eben ein anderes Mal darüber.«
Dafür erntete er ein zustimmendes Nicken.
»Dein Zwiebelrostbraten ist aller Ehren wert. Da musst du deinen Koch mal loben. Auch die Trollingersoße. Da könnt ich mich reinlegen«, meinte Holger Bühler. Er war etwas älter als Andre Kalter und stand kurz vor dem 50. Geburtstag. Jener unterstützte, als einer der wenigen, seinen Vorschlag nach einer Expansion des Weinkonvents Uhlbach.
»Ich werd’s ihm ausrichten«, tat Kalter das durchaus ernst gemeinte Lob an seinen Koch beiläufig ab.
Sie ließen den Abend gemeinsam ausklingen. Langsam, aber sicher näherte sich den angeheiterten Winzer die Sperrstunde. Daraufhin verschwand ein jeder wieder nach Hause zu seiner Gattin, über die eben noch gelästert worden war. Daheim sah die Welt dann freilich ganz anders aus.
Nachdem alle Wengerter gegangen waren, saß Gerd Bäuerle allein am Tisch und schlotzte seinen Lemberger vom Uhlbacher Götzenberg.
»Trink aus, ich muss gleich zu machen, sonst hab ich die Leute vom Ordnungsamt am Hals«, rief ihm Kalter zu, der hinter dem Tresen die leeren Gläser von Hand spülte.
»Ich denke, wir sollten uns mal unterhalten«, begann Bäuerle, während er sein Glas auf dem Tisch im Kreis drehte.
»Wir haben uns doch jetzt die ganze Zeit unterhalten. Was willst du noch besprechen?«
»Es geht um deinen Weinberg«, fuhr Bäuerle fort und ließ dann eine kurze Pause folgen. »Du weißt so gut wie ich, die Menge, die du verkaufst, lässt sich niemals mit dem Ertrag aus deinem Weinberg erreichen. So etwas ist unmöglich.«
Andre Kalter trocknete die Weingläser ab und stellte sie fein säuberlich ins Regal oberhalb des Tresens. Danach legte er sein Geschirrtuch beiseite.
»Was willst du mir damit sagen?«, fragte er lauernd.
»Tu nicht so blöd. Ich kann rechnen.« Bäuerle tippte sich mit dem Finger an seinen Kopf.
»Na, wenn du so gut rechnen kannst, dann weißt du ja, was du mir für den Rostbraten und die sechs Viertele schuldig bist«, gab der Wirt unbeeindruckt zurück.
»Du denkst, du kannst dich blöd stellen? Warts mal ab!«, drohte Bäuerle, stand auf und knallte ihm mit der Bemerkung: »Stimmt so«, 50 Euro auf den Tresen, um grußlos durch die Tür hinaus in die kalte Januarnacht zu verschwinden.
Im Türrahmen stehend drehte er sich noch einmal um.
»Du vergisst, wer dir damals den Arsch gerettet hat, als du kurz vor der Pleite warst.«
Er tippte sich mit dem Finger auf seine Brust.
»Ich habe dir deinen Daimler abgekauft, sonst hättest du die Schulden bei der Bank niemals tilgen können.«
Kalter zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht, was du willst«, gab er zurück. »Dafür hast du ja zu einem ziemlich fairen Preis, wie ich meine, den schicken Oldtimer bekommen. Es ist ja nicht so, dass du mir dieses Geld geschenkt hast. Immerhin warst du schon eine Weile scharf auf den Wagen.«
»Pah!« Bäuerle drehte sich um, dann verschwand er in der Dunkelheit.
»Maurizio, mach Feierabend«, rief Kalter in die Küche. »Kommt Raffael morgen?«
»Si, der kommt. Sicher. Was wollte der grad eben von Ihnen?«, erkundigte sich der Koch mit den schwarzgelockten Haaren.
Maurizio Carnevale war seit einigen Jahren bei Kalter angestellt. Beide hatten sich bei der Besichtigung eines Weingutes in Südtirol kennengelernt. Vom dortigen Winzer, einem nahen Verwandten, wurde er in den höchsten Tönen gelobt. Da Kalter für sein Restaurant einen neuen Koch benötigte – der alte hatte aufgrund von Meinungsverschiedenheiten, was die Speisekarte anging, hingeschmissen – einigte man sich recht schnell. Der kleine Italiener, Anfang 50, stellte sich derweil als Glücksgriff heraus.
Die Kochkünste des aus Sizilien stammenden Mannes machten sein Lokal weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und sorgten dafür, dass auch unter der Woche nie ein Mangel an Gästen herrschte. Einzig die Tatsache, am Wochenende nicht arbeiten zu wollen, nahm er widerwillig zur Kenntnis. Der Ersatz, ein Cousin von Carnevale, den er stattdessen schickte, stand dessen Kochkünsten aber in nichts nach.
»Nichts weiter«, gab Kalter auf die Frage seines Kochs zurück. »Nur etwas Belangloses. Aber dein Zwiebelrostbraten wurde über die Maßen gelobt.«
»So etwas freut mich«, lachte er mit seinem italienischen Dialekt, »dann kann ich ja jetzt Schluss machen.«
»Mach’s gut«, rief Kalter hinter ihm her, als der Koch wenig später durch die Tür in die Nacht verschwand. Er hörte noch, wie der Italiener seinen alten Fiat 500 nach einigen Versuchen zum Laufen brachte. Kurz darauf schaltete er dann selbst das Licht aus.