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1. Kapitel
ОглавлениеMontag
Tübingen lag an diesem kalten Januartag, es herrschten Temperaturen um die minus zehn Grad, ruhig am Ufer des Neckars, schien sich für jenes bevorstehende Ereignis, welches hier stattfinden würde, nicht sonderlich zu interessieren. Mit der 1477 gegründeten Eberhard Karls Universität gehörte sie zu den ältesten Universitätsstädten in Deutschland. Die Lehranstalt ruhte umgeben von sattem Grün mitten in der Stadt. Eine fast schon gespenstische Ruhe lag an diesem frühen Morgen auf dem Campus. Was sich bald ändern würde, wenn Heerscharen von Studenten sowie Dozenten hereinströmten.
Ähnlich sah die Sache bei Walter Riegelgraf, dem Rechtsmediziner aus Stuttgart, aus. Er sollte just an diesem Tag von der Universität Tübingen seine Ehrendoktorwürde erhalten. Davon hatte er insgeheim nicht nur geträumt, sondern auch darauf gehofft. Es war, so seine Meinung, nur eine Frage der Zeit gewesen, bis man ihm diesen Titel verlieh. Doch heute, am Ziel seiner Träume angelangt, überkam ihn ein mulmiges Gefühl.
Die Laudatio, die sein ehemaliger Professor auf ihn halten würde, war die angenehme Seite der Medaille. Doch er kam nicht umhin, selbst eine Rede vortragen. Dabei würden sich alle Augen, insbesondere die seiner geschätzten Kollegen von der Kripo Stuttgart, die sich dieses Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen wollten, auf ihn richten. Allein die Vorstellung trieb ihm trotz des kalten Wetters Schweißperlen auf die Stirn.
Wochenlang feilte er an seiner Rede, schrieb diese mehrmals um, korrigierte sie, warf den Zettel weg, kramte ihn wieder hervor. Doch jetzt, wenige Stunden vor seinem Auftritt, hätte er am liebsten kehrtgemacht, um sich in seinem Büro im Untergeschoss des Katharinenhospitals zu verstecken. Aber alles Jammern half nichts, er musste da durch.
Aus der Ferne hörte er das bekannte sonore Brummen eines V8 Motors. Dabei konnte es sich nur um Frank Jonas’ Mercedes handeln. Wie er seinen Kollegen, Oberkommissar Richard Bauer, kannte, nutzte dieser die Gelegenheit, ganz die schwäbische Gewohnheit, sich chauffieren zu lassen.
Er selbst besaß einen alten blauen VW Käfer aus dem Jahre 1977 mit weißen Ledersitzen. Der Oldtimer durfte trotz des kürzlich verhängten Dieselfahrverbotes in die Stadt, da er über ein sogenanntes H-Kennzeichen verfügte, doch allein die Abgase aus diesem Auto hätten gereicht, die Grenzwerte am Neckartor für mindestens ein Jahr zu überschreiten.
Frank Jonas stellte seinen weißen E-Klasse Kombi auf dem Parkplatz vor den Vorlesungsräumen der Universität in der Nauklerstraße neben dem blauen VW Käfer ab.
Er stieg aus und umarmte Walter Riegelgraf.
»Na, schon aufgeregt Herr Doktor honoris causa?«, grinste er schelmisch.
Kommissarin Lisa Danninger, die ebenfalls mitgekommen war, nahm ihn zur Begrüßung in den Arm, was der offenkundig genoss.
»Wir sind ja da«, fügte sie aufmunternd hinzu.
»Das ist es, was mich nervös macht«, seufzte er.
Richard Bauer kam auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Sei froh, wenn’s Pult etwas höher ist, dann sieht man deine Plauze nicht«, lachte er, als er Riegelgraf begrüßte. »Die könnte sonst zu sehr von deiner Rede ablenken.«
»Der Tag wird kommen, an dem du bei mir auf dem Tisch liegst. Wenn du so weitermachst, dann kommt er sehr bald«, drohte ihm Walter Riegelgraf mit einem Augenzwinkern.
Inzwischen traf auch Adelbert Herzog mit ihrem neuen Chef Horst Müller-Huber ein.
Nachdem ihr früherer Kriminaldirektor, Hans-Jürgen Engler, beim letzten Fall versucht hatte, etwas von dem sichergestellten Geld für sich abzuzweigen, nutzten Frank und Richard die Gunst der Stunde, den allseits ungeliebten Vorgesetzten loszuwerden. Jener ließ sich daraufhin in seine Heimatstadt Hamburg zurückversetzen. Auf eigenen Wunsch natürlich.
Ihr neuer Chef war ein umgänglicher Mittfünfziger, der bis jetzt einen positiven Eindruck hinterließ. Ruhig und unaufgeregt ging er die Sachen an. Einzig die Tatsache, jedes Mal aufs Klingeln seines Telefons mit einem lang gezogenen »Och neee« zu reagieren, erschien allen etwas befremdlich. Ansonsten schien er ein leutseliger Mensch zu sein, im Gegensatz zu ihrem früheren Chef.
Als Letzter trudelte wenig später Manfred Gühring ein, der von Richard aufgrund seiner Figur sowie dessen nicht so üppigen Haarwuchses die Bezeichnung »Schwaben-Tyson« verpasst bekam.
»Habt ihr alle auf mich gewartet?«, fragte er mit unschuldiger Miene in die Runde.
»Selbstverständlich«, meinte Walter Riegelgraf. »Wir würden doch nie ohne dich anfangen.«
Es kamen noch ein paar alte Weggefährten des allseits beliebten Rechtsmediziners dazu, unter ihnen seine flippige Assistentin Yvonne, sodass sich die Anzahl der Personen letztlich auf 20 belief.
Im Gebhard-Müller-Saal waren für die Veranstaltung extra vier Stuhlreihen mit je fünf Sitzplätzen zurechtgestellt worden.
Nachdem alle Platz genommen hatten, begab sich Professor Hugo Brackmayer, sein früherer Lehrmeister und heutiger Dekan der Universität Tübingen, ans Rednerpult.
»Mein lieber Walter«, begann er, »vor etwas mehr als 30 Jahren hast du diese Räume hier zum ersten Mal betreten. Lang ist es her. Wer von uns konnte damals ahnen, dass wir uns heute wieder treffen, um dir die Ehrendoktorwürde unserer Universität zu verleihen. Aber ich denke, in Anbetracht der Leistungen, die du in den letzten Jahren vollbracht hast, ist dies nur allzu gerecht. Ich wünsche dir noch viele weitere erfolgreiche Jahre im Kreis deiner Kolleginnen und Kollegen.«
Es folgte tosender Applaus, als ein offenkundig bewegter Walter Riegelgraf mit einer Träne der Rührung im Auge sich erhob, um von Professor Brackmayer seine langersehnte Ehrendoktorwürde in Empfang zu nehmen.
Dann stellte er sich vors Rednerpult, um den Zettel mit seiner Rede hervorzuholen.
»Vielen Dank erst mal, Professor Brackmayer, für diese Ehre. Aber ohne mein Team sowie die hier anwesenden Kollegen wäre ich nie imstande gewesen, mich so weit zu entwickeln. Auch euch gebührt mein Dank.«
Erneut brandete Applaus auf, dann fuhr Walter Riegelgraf fort.
»Man muss allerdings dazusagen, denn dies ist die dunkle Seite an meinem Beruf, täglich werden wir mit dem Leid anderer Menschen konfrontiert. Den Schmerz über den Verlust können wir ihnen nicht abnehmen, aber lindern, indem wir alles versuchen, die Tat aufzuklären. Dazu trage ich, tragen meine Kollegen der Kripo Stuttgart ihren Teil bei. Obwohl wir manchmal glücklicher wären, wenn wir nicht so viel zu tun hätten.«
Er schloss seine Rede und begab sich wieder an seinen Platz.
Die Universität hatte aus ihrem Budget für den neuen Ehrendoktor in der Mensa einen kleinen Umtrunk bereitgestellt. Diesen, zusammen mit ein paar Häppchen, ließen sie sich kurz darauf schmecken. Horst Müller-Huber war derweil damit beschäftigt, alle Köstlichkeiten durchzuprobieren, während die anderen Small Talk betrieben.
»Ist das jetzt unser Mittagessen?«, erkundigte sich Frank bei Richard, der an einem Glas Sekt nippte.
»Nein, keine Angst. Walter hat uns zum Abendessen eingeladen. Wir sollen es aber nicht so groß rumerzählen, weil er sonst alle mitnehmen müsste. Er wollte nur die engsten Kollegen dabei haben.«
»Versteh ich«, erwiderte Frank, »schließlich versorgen wir ihn ja mit Arbeit. Wohin geht’s denn heute Abend?«
»Ein sehr gutes Lokal in Uhlbach. Kalter Besen heißt es. Ich bin noch nie dort gewesen, aber Walter schwärmt davon, dort gibt’s den besten Zwiebelrostbraten der Region. Mit einem italienischen Koch.«
»Ein italienischer Koch, der Zwiebelrostbraten machen kann? Da bin ich gespannt.«
Frank bewegte sich aufs Buffet mit den Häppchen zu.
»Na, Herr Jonas, noch hungrig? Man weiß ja nie, wann wieder was kommt«, lachte Horst Müller-Huber. Auch ihn hatte Walter Riegelgraf heute Abend mit eingeladen.
»Da gebe ich Ihnen uneingeschränkt recht, Chef«, grinste Frank. Er fand ihn bis jetzt konziliant, war er doch das genaue Gegenteil seines früheren Vorgesetzten. Statistiken interessierten ihn nicht im Geringsten. Anfragen nach solchen bügelte er mit der Begründung »Dafür gibt es ein Statistisches Landesamt« ab. Einzig die Tatsache, dass er aufs Klingeln seines Telefons mit erhöhter Nervosität reagierte, konnte man ihm als Schwäche auslegen. Ansonsten aber fand Frank bis jetzt kein Haar in der Suppe, was für seine Verhältnisse bemerkenswert war.
»Ich sehe, ihr zwei sorgt dafür, dass nichts übrigbleibt«, gesellte sich ein erkennbar erleichterter Walter Riegelgraf zu ihnen.
»Wenn nicht wir, wer dann?«, gab Müller-Huber zurück.
»Habe ich vorher Tränen der Rührung in deinen Augen gesehen?«, zog Frank ihn auf.
»Nein, da täuschst du dich. Lag wahrscheinlich an der trockenen Luft«, redete sich Riegelgraf raus, um dann hinzufügen: »Ihr wisst, wie man nach Uhlbach in den Kalten Besen kommt?«
»Mach dir keine Sorgen, wenn’s ums Essen geht, brauch ich kein Navi, dann verlass ich mich auf meinen Magen«, grinste Frank, um sich zur Bestätigung über den Selbigen zu reiben.
In der letzten Zeit ging es etwas geruhsamer zu. Seit dem schwierigen Fall im September war es, bis auf den Personalwechsel, zu keinem größeren Ereignis gekommen.
Doch dies sollte sich bald ändern.
*
Walter Riegelgraf hatte in dem Restaurant Kalter Besen einen Tisch etwas abseits des normalen Publikumsverkehrs reserviert. Das Lokal lag inmitten des kleinen am Rande von Stuttgart von Weinbergen umgebenen Örtchens Uhlbach, gleich neben der Alten Kelter, die schon im Jahre 1366 erstmals amtlich erwähnt wurde. Für einen Montagabend war das Restaurant sehr gut besucht, somit machte es durchaus Sinn zu reservieren.
Frank, Richard sowie Lisa kamen etwas später an, weil dieser partout nicht auf seinen Kollegen hören wollte, der ihn vor dem Stau auf der B27 warnte und empfahl, über die Straße am Flughafen auszuweichen. Allen Unkenrufen zum Trotz standen sie dann eine gefühlte Ewigkeit auf der B27 im Feierabendverkehr.
»Habt ihr’s doch noch geschafft«, erkundigte sich Walter Riegelgraf, und Manfred Gühring fügte frech hinzu: »So groß kann der Hunger von Frank nicht gewesen sein, sonst wärt ihr mindestens eine Stunde vor uns dagewesen.«
Der murmelte was in seinen nicht vorhandenen Bart, dann setzte er sich mit den beiden an den runden Tisch in der Ecke des Restaurants.
Andre Kalter, der Inhaber des seinen Namen tragenden Lokals, begrüßte sie freundlich und erkundigte sich nach den Getränkewünschen der Anwesenden.
Anschließend ließ er seine Gäste mit der Auswahl der Speisen allein.
»Du sagst, der Rostbraten hier wäre gut?«, fragte Richard.
»Nicht nur gut, sondern ausgezeichnet«, korrigierte ihn Walter Riegelgraf.
Mit Blick auf dessen Bauch fragte der: »Welchen Salat isst du?«
Frank konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, stieß Richard aber trotzdem in die Seite. »Schon vergessen, er zahlt heute. Also gönn ihm den Spaß.«
»Von mir aus gern«, hob dieser frech grinsend seine Stimme an. »Meine Plauze ist es ja nicht.«
Bis auf Manfred Gühring, der sich für die geschmälzten Maultaschen in einer Bratensoße entschied, folgten alle anderen Gäste der Empfehlung von Walter Riegelgraf und nahmen den Rostbraten mit Spätzle, beziehungsweise im Fall von Frank mit Bratkartoffeln.
Die Stimmung in der Runde war gelöst. Horst Müller-Huber gab einen kleinen Einblick in seine bisherige kriminalistische Laufbahn. Für einen Lacher sorgte dieser, nachdem er erzählte, wie er einst aus Versehen mit dem Traktor durchs Rosenbeet seiner Frau fuhr. Jenes daraus resultierende blaue Auge, so berichtete er es seinen Kollegen, hätte er sich bei der Verhaftung eines Verdächtigen zugezogen.
Kurz darauf kündigte sich der von allen mit Spannung erwartete Zwiebelrostbraten an. Frank nahm mit seiner Nase zuerst Witterung auf, daraufhin setzte er die anderen vom herannahenden Essen in Kenntnis.
Tatsächlich landete der Rostbraten in Kombination mit den Bratkartoffeln sowie der obligatorischen Trollingersoße, auf seiner internen Hitliste sehr weit oben. Frank, ein Kenner auf dem Gebiet, musste es wissen.
»Puh, jetzt bin ich aber pappsatt«, stöhnte ein rundum zufriedener Walter Riegelgraf.
»Ich auch«, antwortete Richard, »bis Mittwoch brauch ich nichts mehr.«
Man trank einen Obstler lokaler Herkunft zur besseren Verdauung des Essens, dann erzählte man sich einige Anekdoten aus den gemeinsamen Dienstjahren. Lisa Danninger lehnte sich zufrieden an die Schulter von Frank Jonas.
Als sie kurz darauf aufbrachen, die Zeiger der Uhr zeigten 22 Uhr abends, und bis auf ein paar Stammgäste hatten die meisten Gäste das Lokal bereits verlassen, ertönte aus heiterem Himmel ein heftiger Wortstreit aus der Küche.
»Du biste blöd in deinem Kopf«, schimpfte eine italienische Stimme. »Kannste nix mal eine Soße umrühren, du bleder Grieche.«
»Halt dein Maul, du Meterfünfzwerg, sonst häng ich dich am Kleiderhaken auf. Dann sollst du dort versauern, bis die Ratten dich fressen«, kam die ebenso freundliche Antwort.
Man hörte etwas fliegen, was stark an Geschirr erinnerte, dann herrschte Ruhe.
Die Gäste am Stammtisch grinsten, während sich die Runde um Walter Riegelgraf fragend anschaute.
»Was war das denn?«, erkundigte sich Adelbert Herzog, der an diesem Abend noch nicht groß durch Wortbeiträge auf sich aufmerksam gemacht hatte. Aber der Experte auf dem Gebiet der Spurensicherung galt sowieso nicht als ausgewiesenes Redetalent. Sein Wissen jedoch reichte weit über die Grenzen der Landeshauptstadt hinaus, auch sein fachlicher Rat wurde allseits geschätzt und geachtet.
»Hat man doch gehört«, erwiderte Frank lakonisch, »die Soße war nicht gut. Anscheinend hat das Geschirr sein Ziel erreicht, sonst wär jetzt keine Ruhe.«
»Vielleicht kriegt der Walter demnächst wieder Arbeit«, feixte Richard. Alle anderen grinsten.
»Lieber nicht, nicht heute«, antwortete der mit einem tiefen Seufzen in der Stimme.
Als Andre Kalter die Gäste verabschiedete, erkundigten sie sich nach dem Vorfall in der Küche.
»Ach, nichts weiter. Mein Koch und unser Kellner, die sind wie ein altes Ehepaar. Das kennen wir hier schon. Manchmal ist es ganz amüsant. Aber heute hat’s der Grieche wieder mal übertrieben. Morgen ist die Sache wieder vergessen.«
»Der Zwiebelrostbraten hat wirklich sehr gut geschmeckt«, sagte Frank. »Loben Sie den Koch, er hat es sich verdient.«
»Ich werd’s ihm ausrichten. Er freut sich immer, wenn die Gäste zufrieden sind«, antwortete Andre Kalter.
Sie verabschiedeten sich alle voneinander, was nochmals eine gefühlte Ewigkeit in Anspruch nahm, und fuhren dann ein jeder in sein Domizil.