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Jugendliebe

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Damals, im Winter 1978/79, war das ganze Land überzogen mit einer Decke aus leuchtendem Eis und Schnee. Besonders an Tagen, an denen die Sonne schien, erstrahlten Hügel und Felder. Bäume sahen aus wie Skulpturen, die die Natur zur Preisung ihrer eigenen Herrlichkeit erschaffen hatte. Es war eine Wonne, sich den malerischen Horizont anzuschauen, wenn man einen Blick dafür hatte.

Sie hatte diesen Blick, saß in ihrem Zimmer und genoss die Aussicht, die durch das Fenster zu ihr durchdrang. Das anschauliche Stillleben der Natur wirkte beruhigend auf sie, ihre Gedanken waren daher klar und ungewöhnlich tiefgreifend. Im Sommer war sie noch das kleine Schulmädchen gewesen, dem die Eltern erzählten, was sie zu tun hatte. Nun wohnte sie zwar immer noch bei ihnen, hatte aber nach der Schule eine Lehre angefangen, die ihr das Gefühl gab, vollwertiger, eigenständiger Teil der Gesellschaft zu sein. Das Leben einer Erwachsenen, auf das sie sich schon immer so gefreut hatte, hatte also nun endlich auch für sie begonnen.

Allerdings war aufgrund der katastrophalen Witterung die letzten Tage in der ganzen Region der Notstand ausgerufen worden. Die Straßen waren unbefahrbar, gearbeitet werden konnte nicht. Ungeachtet dem Umstand, dass sie nun also wieder ihre Zeit bei den Eltern fristete, waren es dennoch sehr schöne Tage für sie, die sie nutzte, um sich ihre Zukunft zu erträumen und in Phantasien zu schwelgen.

Während sie also auch jetzt wieder selbstgefällig über die Veränderung in ihrem Leben nachdachte, und darüber, was ihr das Leben noch alles zu bieten hatte, betrat ihre Mutter das Zimmer.

»Laura, was ist mit Frühstück? Du solltest lieber noch was essen.«

»Ja, später. Ich habe jetzt noch keinen Hunger.«

»Das geht nicht. Wir müssen gleich los. Die Tülldorfer sind über Nacht zugeschneit und ich hab unsere Hilfe schon zugesagt.«

»Ach Scheiße, da hab ich schon mal Urlaub und nun soll ich auch noch so ’n Mist mitmachen! Können sich die Tülldorfer nicht selbst helfen?!«

»Tut mir leid, aber das muss sein! Also junge Dame, iss noch was und dann geht’s los. Nicole und Melanie helfen auch mit. So schlimm wird’s bestimmt nicht werden.«

Laura war dann wieder allein in ihrem Zimmer. Die Ruhe, die sie vorher noch verspürt hatte, war nun dem Ärger gewichen. Trotzig stand sie auf, machte Musik an und verließ das Zimmer in Richtung Küche.

Auch auf dem Weg zur Hilfsaktion hatte sie immer noch das Gefühl, die Welt sei ungerecht. Die Natur erschien ihr kalt und hart und hatte ihren vorherigen Anmut eingebüßt.

Als sie den Weg Richtung Tülldorf einbogen, war dort schon der größte Teil des Dorfes im netten Plausch versammelt. Ihre Freundinnen waren im Gespräch mit den Jungs des Dorfes und Laura gesellte sich zu ihnen.

Es dauerte nicht lange und sie hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Der Grund hierfür lag vor allem in einem jungen Mann, mit dem sie sich schon einmal unterhalten hatte. Das war im Sommer gewesen, als seine kleine Schwester und sie zusammen ihren Schulabschuss gefeiert hatten. Damals hatte sie sich schon überlegt, warum sie ihn nicht schon öfter im Dorf getroffen hatte. Es war sehr angenehm, sich mit ihm zu unterhalten, und seine teilweise spitzen Anspielungen machten die Sachen für das Mädchen besonders reizvoll. Seine Schwester hatte nach dem Abschlussfest gesagt, dass er in Hamburg studiere, aber auch schon vorher kaum zu Hause gewesen wäre, sondern sich mehr in der Stadt mit Schulfreunden herumgetrieben hätte. Auf Anfrage bekam Laura nun von ihm zu erfahren, dass er über die Feiertage seine Eltern besucht hatte und dann hier eingeschneit worden war, so dass sich seine Abreise wohl noch einige Tage hinauszögerte. Er sehe darin jedoch mittlerweile keinen Nachteil mehr, da der Winter auf dem Lande viel schöner sei als in der Stadt. Sie konnte dem nur zustimmen, hatte sie nicht vorhin erst die Schönheit in sich aufgesogen.

Die Hilfsaktion, die sie zuvor noch als schreiende Ungerechtigkeit empfunden hatte, verwandelte sich nun also rasch in ein wunderschönes Ereignis. Laura wich dem jungen Studenten nicht mehr von der Seite. Auch der Dorfgemeinschaft, die gerade in einem solch harten Winter wie damals zusammengeschweißt wurde, fiel auf, was die beiden doch für ein schönes Paar abgäben.

Als der Durchbruch zu den Leuten aus Tülldorf geschafft war, wurde sich in den von Holzöfen geheizten Häusern des Dorfes aufgewärmt, und heißer Punsch erwärmte nicht nur die Körper. Die Stimmung der Dorfbevölkerung war nach getaner Arbeit ausgelassen fröhlich.

Auch Laura fühlte sich sehr wohl nach diesem Tag. Jedoch war er ja noch nicht zu Ende, und die Lust auf ein nächtliches Fest stieg in ihr auf.

Nachdem sie sich einen Punsch hatte geben lassen, ging sie wieder zu ihrem neuen Freund, der abseits des geselligen Treibens draußen vor dem Haus auf einem Holzbalken saß. Er schien gerade nachzusinnen, sah Laura aber an und sagte etwas Nettes, als sie sich neben ihn setzte. Ihre Hand neben seiner.

Es ist ein schönes Bild, das die beiden vor dem erleuchteten Haus, umrahmt von der winterlichen Idylle bei untergehender Sonne, abgeben. Im Hintergrund hört man das fröhlich Treiben im Haus. Der Junge beschreibt ihr seine Eindrücke und Gedanken. Er erzählt von seinem Studium, redet allgemein über das Leben in der Stadt, über seine Freundin, die er sehr liebe, und wie schön doch der Winter daheim sei, obwohl er sie vermisse. Er ist fast ebenso glücklich wie seine kleine Zuhörerin, nur hat er nicht dieses prickelnde Gefühl im Bauch, das sie selig beflügelt. Sie verliert ihre Gedanken in seinen, obwohl sie eigentlich nicht mehr richtig zuhört, und weiß selbst nichts mehr zu erzählen vor Glück. Sie spürt nur allzu stark, wie ihrer beider Hände nebeneinander liegen. Am liebsten wäre es ihr, er würde sein Gerede beenden und sie zärtlich berühren. Ein Kuss, eine herzliche Umarmung wären für den Anfang auch nicht schlecht. Schlafen würde sie wahrscheinlich noch nicht gleich mit ihm, sondern ihn erst noch ein bisschen zappeln lassen. Schließlich haben sie ja auch noch mehrere Tage und Nächte, bis er wieder abreist. Sie sieht ihn an, doch er arbeitet gerade ein Jugenderlebnis auf. Als sie seine Hand berührt, macht der sich in einen Erzählrausch Gesteigerte eine kleine Pause, die sie nutzt, um ihm zu sagen, wie sie fühlt:

»Ich habe mich heute in dich verliebt.«

»Ich glaube nicht, dass du mich wirklich liebst. Sicher, wir hatten heute einen netten Tag zusammen, und du bist ein tolles Mädchen. Aber ich glaube, du wirst noch viele Tage wie diesen erleben, mit vielen netten Jungs, in die du dich verlieben wirst, und irgendwann wird dann auch der Richtige dabei sein. Ich bin schon in einem Alter, in dem man mehr verlangt als diese Jugendspielerei«, bekommt sie als Antwort, die sie im gleichen Plauderton vernimmt wie das vorher Erzählte.

Da sie aber noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, sagt sie, dass sie schon viel erwachsener sei, als er glaube, und schon genau wüsste, was sie wolle. Er sagt, er wäre auch mal jung gewesen und verstehe sie ganz gut, aber für ihn sei sie doch viel zu jung. Außerdem habe er eben nicht irgendeinen Schwachsinn geredet und sie würde ihm seine Freundin ganz bestimmt nicht ersetzen können. Dann steht er auf, um sich noch einen Punsch zu holen.

Als sie nun allein vor dem Haus zurückblieb, war Laura sich über ihre Gefühle nicht im Klaren. Eben hatte sie noch ihre Liebe gestanden und nun sah sie in dem schönen Studenten einen dummen, eingebildeten Idioten. Anders als in ihrem sonstigen Trotz, in dem um sie herum alles verdarb, beeindruckte sie jedoch diesmal die Schönheit der Natur weiterhin und schien ihr Trost zu geben, so dass das Mädchen, das eben seine große Liebe verlor, nicht traurig wurde.

Nach einer Weile, die sie noch zu stillem Nachdenken nutzte, ging sie ins Haus und schloss sich dem herrschenden Treiben an. Den Studenten jedoch ließ sie auflaufen, als er sich wieder mit ihr unterhalten wollte.

Geschrieben Februar 2001

Ertrunken

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