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Im Regen

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Der Regen klatscht schon seit einiger Zeit ans Fenster ihres Zimmers. Mir ist dadurch im Grunde nicht unbehaglich zumute, nur fühle ich mich etwas beklemmt. Bei Sonnenschein würden wir uns bestimmt nicht so still gegenüber sitzen, denke ich. Ich habe keine Lust, mich zu produzieren. Ich weiß nur all zu gut, wie ich in ähnlichen Situationen schon durch mein sinnloses Gerede das Gespräch, das ich eigentlich beabsichtige, verhindert habe. So begnüge ich mich jetzt damit, sie anzusehen. Ihre offene, fast kindliche Art kommt mir dabei hilfreich entgegen. Nicht jeder Mensch kann so ohne weiteres mit jemandem zusammensein und sich einfach nur ansehen, ohne dabei zu sprechen. Und wie schon gesagt, fühle ich mich dabei auch nicht ganz wohl.

Dann jedoch blitzt es und wenig später kommt das Donnergeröll. Sie ist begeistert, springt sofort auf, um aus dem Fenster zu sehen. Ich bleibe erst noch sitzen und betrachte ihren Körper. Sie steht auf ihren Zehen, ihre Arme auf die Fensterbank gestützt mit durchgedrücktem Rücken, und wartet angespannt den nächsten Blitz ab. Der Anblick ihrer Figur lässt mich noch einige Zeit auf meinem Sitzplatz verweilen. Wieder bin ich von dem, was vor sich geht, überfordert. Ich kann mir noch nicht vorstellen, dass ich mich einfach so neben sie stellen kann, um das Naturschauspiel gemeinsam mit ihr zu erleben. Sie sieht einladend zu mir rüber und schwärmt von Sommergewittern. Der nächste Blitz geht nieder, und ich bin fasziniert von ihrem Temperament. Gleichzeitig wächst meine Schüchternheit, und ich weiß nicht, was ich zu tun habe. Ich will auch so euphorisch sein. Sie blickt wieder erwartungsvoll aus dem Fenster. Ich kann unmöglich einfach sitzen bleiben, denke ich. Ich stehe auf und gehe zu ihr. Im ersten Moment bin ich erleichtert, mich zu dieser Handlung durchgerungen zu haben. Aber dann stehen wir nebeneinander. Mein Versuch, gespannt in den Himmel zu sehen und dem nächsten Blitz entgegen zu fiebern, scheitert. Das Gewitter macht keinen all zu starken Eindruck auf mich. Ich habe keinen nützlichen Gedanken, fühle nur all zu stark ihre Nähe und beobachte, wie die Regentropfen an der Scheibe zerplatzen und das Wasser zerläuft. Wie früher, wenn meine Eltern mich mit dem Auto irgendwo hin mitnahmen und es regnete, denke ich. Ich hatte damals auch immer das verlaufende Wasser auf den Scheiben verfolgt, um mich zu beschäftigen oder aber auch abzulenken. Die Tropfen beschäftigen mich so sehr, dass ich schließlich nicht mehr in der Lage bin, mit meinem Blick die Scheibe zu durchdringen. Es sieht bestimmt so aus, als wenn ich die Scheibe anstarre, denke ich. Ich würde gerne wissen, was sie macht, kann meinen Blick aber nicht von der Scheibe lösen. Am liebsten würde ich mich wieder hinsetzen, aber ich will jetzt nicht kneifen, wie schon so oft. Vielleicht, wenn ich ihre Hand nehme, denke ich, traue mich aber noch weniger, als sie einfach nur anzusehen. Ich spüre, wie mein Körper anfängt sich zu verkrampfen, und habe Angst, im nächsten Moment gelähmt zu sein oder ihr sonst irgendwie behindert zu erscheinen. Ich muss mich aus meiner Starre lösen und weiß mir nicht anders zu helfen, als zu reden. Ich konzentriere mich auf meine Stimme, um nicht unpassend zu klingen:

»Weißt du, woran ich gerade denke?«

Ich spüre, dass sie mich ansieht, erwidere den Blick jedoch nicht, sondern sehe immer noch aufs Fenster. Allerdings bin ich nun froh, dass ich dem vorherigen Moment entkommen bin und wirke wohl eher gedankenverloren. Ich weiß, dass sie nicht mehr glaubt, ich würde verkrampft starren, wie sie es zuvor vielleicht geglaubt hat.

»Der Regen erinnert mich an eine Geschichte, die ich letztens gelesen habe.«

Meine Stimme ist sehr übertrieben und klingt, als wenn ich einen Geschichtenerzähler aus dem Radio imitiere. Ich finde gefallen an meiner Rolle.

»Es geht da um einen Jungen, der an einem ähnlichen Abend wie diesem hier zu einer kleinen Geburtstagsfeier gegangen war. Auf dem Hinweg hatte er noch große Lust gehabt, sich den Gesprächen hinzugeben, jedoch hatte sich für ihn bisher noch keines ergeben, das seinen Vorstellungen gerecht wurde, und so war seine Stimmung nun getrübt. Auch wenn er aufgehört hatte, noch länger auf Besserung seiner Lage zu hoffen, so war er aber trotzdem geblieben, weil er nicht wusste, wo er hingehen sollte. Zusammen mit einer Flasche Rotwein saß er abseits der anderen auf dem Fußboden, den Rücken an die Wand gelehnt, sein Blickfeld auf die Sitzgarnituren der anderen. Je mehr er trank, desto mehr schwand in ihm die Lust oder der Wille, sich an den Gesprächen der anderen zu beteiligen. Er hatte aber nicht das Gefühl, betrunken zu sein. Hätte er gewollt, hätte er den Kontakt zu den anderen ohne weiteres herstellen können. Aber er wollte nicht, konnte nicht, weil er nichts zu erzählen hatte. Er beobachtete die anderen, wie die anderen auch ihn beobachteten. Man tat es jedoch unauffällig. Er jedenfalls wollte die anderen nicht offensichtlich ansehen, weil er daraufhin in ein Gespräch verwickelt zu werden fürchtete. Er versteifte sich regelrecht in den Gedanken, nicht reden zu wollen, nur des Redens willen, so wie die anderen es seiner Meinung nach taten. Zwar konnte er nicht verstehen, was sie redeten, weil die Musik zu laut war, als dass die Stimmen noch zu seinem einsamen Ort getragen worden wären, aber er dachte es sich. Irgendwann dachte er, sie redeten über ihn. Immer wieder trafen ihn Blicke. Er wollte aber nicht als Gesprächsthema herhalten und wollte wissen, was vor sich ging, um sich zu verteidigen, konnte sich nun aber nicht mehr so ohne weiteres in das Gespräch einmischen, weil er fürchtete, lächerlich zu wirken und den Spott der anderen zu ernten. So versuchte er das Gerede der anderen zu ignorieren und beschäftigte sich mit dem Wein. Das lenkte ihn wieder ab, und er blieb alleine, ohne etwas zu entbehren. Als er dann nichts mehr zu trinken hatte, konnte er sich aber dann nicht mehr mit sich selbst beschäftigen, zu präsent waren die Gespräche der anderen. Er wollte wissen, was da vor sich ging, sah aber keine Möglichkeit, es herauszubekommen. Er hatte sich zu weit von den anderen entfernt und fühlte sich in ihrer Gegenwart elend. Am liebsten wäre er alleine gewesen, allein mit sich und seinen Gedanken. Er brauchte die anderen nicht. Von dieser, seiner Erkenntnis angetrieben, stand er auf, holte sich eine neue Flasche, sagte dem Gastgeber, er wolle etwas frische Luft schnappen und ging. Die anderen sahen ihm zu, wie er aufstand, durchs Zimmer wankte und schließlich mit der Flasche in der Hand theatralisch den Raum verließ. Auch wenn die Rolle des einsamen Schweigers für ihn Realität geworden war, für die anderen bot er nur großes Theater. Sie nahmen es nicht ernst und wunderten sie sich nur darüber, was er wohl vorhabe im Regen. Er wusste es selbst nicht und war einfach nur erleichtert, als er die Tür hinter sich zu machte und die anderen verließ. Er fühlte sich, als stünde er vor einem Neuanfang und ließe alles Vergangene zurück. An der Eingangstür des Hauses wurde ihm erst wieder bewusst, dass er nicht wusste, wohin er nun gehen sollte. Außerdem regnete es in Strömen. Er ging trotzdem raus und ließ die Haustür hinter sich zufallen, stand nun auf einer Steintreppe, die zur Haustür führte, und war schon nach wenigen Sekunden durchnässt. Er setzte sich auf die Steintreppe, genoss die Regentropfen, wie sie auf ihn niedergingen und nahm sich die neue Flasche vor. Es dauerte jedoch nicht lange, höchstens ein Viertel der Flasche, bis er eine Bekannte mit dem Fahrrad in die Straße einbiegen sah. Sie grüßten sich. Sie stellte ihr Fahrrad ab und fragte ihn, warum er denn alleine im Regen säße. Er sagte, er habe da Lust drauf. Es sei halt ein tolles Gefühl, und er habe das noch nie gemacht, einfach nur dasitzen und sich im Regen betrinken. Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und sah sie dann an. Sie war wie er durchnass und hatte es auch nicht als unangenehm empfunden. Außerdem hatte die Art, wie er gesprochen hatte, sie beeindruckt und so setze sie sich zu ihm auf die Treppe und trank auch etwas. Nun spürte sie, was er gemeint hatte. Sie fühlte auch, etwas besonderes zu erleben. Beide genossen nun den Augenblick und schwiegen dabei. Die Musik der anderen drang zu ihnen herunter. Bei einem Lied, dass ihm besonders gefiel, fragte er dann, ob sie tanzen wolle. Sie war offen für seine verrückten Vorschläge und so tanzten sie. Sie tanzten im Regen. Anfangs waren sie noch etwas steif. Sie tanzten ungefähr so. Aber dann wurden ihrer Berührungen intensiver. Er fasste sie ungefähr so an und schließlich tanzten sie eng umschlungen.«

Schon während der Erzählung habe ich ihr des öfteren tief in die Augen geschaut. Nun halte ich sie dabei sogar im Arm, nachdem ich ihr gezeigt habe, wie der Junge und das Mädchen eng umschlungen tanzten. Trotzdem traue ich mich nicht, sie zu küssen. Wir sehen uns an. Sie geht nicht weiter auf die Geschichte ein und wir schweigen wieder. Ich bin eigentlich froh darüber, dass ich den Moment nicht zerrede, habe das alles wohl auch eher mir selbst erzählt, um mir Mut zu machen und meiner Phantasie Leben zu geben. Für meine Zuhörerin bestand darin wahrscheinlich auch der wahre Erzählgehalt, denke ich. Nun bleibt eigentlich nur noch eins zu tun, aber ich mache mir trotzdem Gedanken. Ich denke an das Ende der Geschichte und traue mich immer noch nicht, sie zu küssen. Die Geschichte wird in mir wieder lebendig.

Während das Mädchen und ich uns damals im Tanz drehten, und ich in den Regen hinein sehen wollte, fiel mein Blick auf das Fenster der anderen. Ich sah ihre Gesichter. Man beobachtete unseren Tanz. Ich sagte es ihr und wir brachen den Tanz ab. Sie winkte den anderen zu und wollte zu ihnen. Ich aber wollte nicht zurück. Sie bat mich eindringlich, küsste mich sogar, um mich zu überreden, aber für mich war der Moment vorbei. Ich war und bin der festen Überzeugung, dass ich auf der Party nicht mehr der Mensch gewesen wäre, der im Regen mit ihr getanzt hatte, und ich wollte nicht zurück zu den Gesprächen der anderen. So ließ ich sie gehen. Ich setzte mich kurz wieder und trank, machte mich aber dann auf den Weg, um konfus umherzulaufen und die Flasche leer zu trinken. Allerdings bedeutete mir all das, was ich zuvor noch so tief in mich aufgesogen hatte und mich so glücklich allein im Regen sein ließ, nichts mehr im Vergleich zu dem Tanz und auch ihrem Kuss. Ich fühlte mich wieder elend. Alles was ich noch hatte, war das Bewusstsein, den Moment, der mir vollkommen erschien, nie wieder so erleben zu können. Ich war damals einsamer denn je.

Ich fange schon wieder an, zu starren, denke ich. Ich ertrage den Moment nicht mehr, lasse sie los und drehe mich zum Fenster. Auch sie ist wohl enttäuscht von mir. Ich entschuldige mich und gehe.

Geschrieben Juni 2002

Ertrunken

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