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Der Berggeist
ОглавлениеMissmutig bahnte sich der Postbote seinen Weg durch den Wald. Es war für ihn immer besonders ärgerlich, wenn er einen Brief für einen der umliegenden Höfe zu überbringen hatte. Zwar war sein Bezirk der Gemeinde Ascheffel im Vergleich zu manch anderen wenig arbeitsintensiv, aber gerade deshalb waren etwas umfassendere Touren ein bitterer Wermutstropfen. Besonders die Route, die er heute zu absolvieren hatte, kam ihm wie eine Tortur vor. Wegen dieses einen Briefes für den Reimerhof musste er, ohne es mit einem weiteren Ziel verbinden zu können, den unwegsamen Waldweg entlang sein Fahrrad schieben; zumindest erschien ihm das weniger beschwerlich. Obwohl an diesem Herbsttag die Sonne die Blätter der Bäume herrlich durchdrang und manch anderer sich an dieser Wanderung durch die Hüttener Berge erfreut hätte, drehten sich die Gedanken des Beamten nur um seine Arbeit. Der Brief, den er bei sich hatte, kam ihm seltsam vor; Willi Reimer bekam sonst nie Post und nun war nicht einmal ein Absender vermerkt. Und die Aussicht auf ein Schwätzchen mit dem alten Reimer war ganz bestimmt kein Anlass zur Freude. Aber vielleicht hatte der Postbote ja Glück und es war niemand zu Hause, so dass er den Brief einfach nur einzuwerfen brauchte.
Der Reimerhof lag am Ende des Weges. Er war nicht stattlich, dafür aber aufgeräumt und übersichtlich. Der Hofherr genoss gerade seine Pfeife auf seiner Bank vor seinem Wohnhaus. Als sich die beiden Männer sahen, ließen sie sich nicht anmerken, wie unangenehm ihnen ihre Begegnung war. Der Bote schob beflissen sein Fahrrad die restlichen Meter, und Willi Reimer begrüßte freundlich den Ankommenden:
»Guten Tag. Schöner Tag heute, nicht?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Sagen sie bloß, sie haben Post für mich! Wer kann mir denn schon geschrieben haben!?«
»Das weiß ich nicht. Es steht kein Absender drauf.«
Der Bote bockte sein Fahrrad auf, drehte seine schwarze Ledertasche, die er über die Schulter am Rücken getragen hatte, nach vorne, öffnete sie, entnahm den Brief und händigte ihn aus.
Willi Reimer bedanke sich kurz und legte den Brief neben sich auf die Bank, ohne noch weiter darauf einzugehen:
»Ich hoffe, diese Extratour hält sie nicht zu sehr von ihren sonstigen Pflichten ab. Es ist ja immer eine kleine Reise, wenn man zu uns gelangen will.«
»Ach, nein. Man tut halt seine Arbeit so gut man kann. ... Sagen sie, ist ihre Frau nicht zu Hause?«
»Nein, die ist zu Besuch bei ihren Freundinnen. Sie wissen ja, wie Frauen sind. Bei einer Tasse Kaffee über dies und das klatschen und die Welt ist für sie in Ordnung.«
»So, so. Macht sie sich heute also auch einen gemütlichen Tag.«
»Na ja, das Leben besteht doch schließlich nicht nur aus Arbeit.«
»Ja, ja. Na, ich werd dann mal wieder.«
Die beiden sahen sich noch kurz ins Gesicht, bevor der Bote sich auf sein Fahrrad schwang und davonfuhr. Willi wünschte ihm dabei freundlich einen schönen Tag.
Als er den Boten in den Wald verschwinden sah, zog Willi noch mal an seiner Pfeife und wandte sich dem Brief zu. Der alte Reimer erwartete keine Post und kannte auch niemanden, der ihm schon mal geschrieben hatte. Und nun lag dieser Brief neben ihm. Er nahm ihn mit der linken Hand und betrachtete ihn. In der Tat war der Absender nicht vermerkt. Aber die etwas kindliche Handschrift gab nun doch einen Hinweis auf den Verfasser, denn einige Tage zuvor hatte Willi seinem Neffen die Übernahme des Hofes angeboten; angeblich, weil die Arbeit ihn und seine Frau mittlerweile überlaste. Hauptgrund war jedoch die Überschuldung des Hofes. Um diese Schulden loszuwerden, erschien dem Hofeigner die Abtretung als einzig verbleibende Möglichkeit.
Während er den Brief öffnete, überlegte er zwar noch zweifelnd weiter, ob der Neffe wirklich der Absender sei, denn der wohnte nur fünf Kilometer entfernt im Nachbarort Brekendorf und hätte seine Antwort bestimmt persönlich mitgeteilt. Aber seine Zweifel blieben unbegründet, der Brief war wirklich vom Neffen. Willi dachte, was für ein Glück es sei, dass der Absender vergessen worden war, da der Postbote sonst sicherlich zu konkreten Spekulationen Anlass gehabt hätte und Willi Reimer einmal mehr zum Dorfgespräch geworden wäre. Außerdem, so nahm Willi an, hätte der Beamte wahrscheinlich einen noch größeren Groll gehabt, wenn er gewusst hätte, für welchen Firlefanze er da herzuhalten gehabt hatte.
Im Brief teilte der Neffe mit, dass er den Hof nicht übernehmen wolle. Sein Vater habe ihm davon abgeraten und es sei sicher das Beste so. Die briefliche Antwort sei deshalb erforderlich gewesen, weil der Vater ihn aufgrund der vielen Arbeit nicht einen Moment entbehren könne. Er entschuldigte sich dafür. Willi Reimer stand auf, zerknüllte den Brief und ging ins Haus.
Als er damals vor der Entscheidung gestanden hatte, ob er den Hof übernehmen solle, nachdem der Vater gestorben war, hatte er nicht auf seinen Bruder gehört. Sicherlich hatte der Recht damit gehabt, dass der Hof aufgrund seiner Lage fast unmöglich zu lösende Probleme gehabt habe. Der Einsatz von Maschinen war erheblich eingeschränkt gewesen. Ohnehin hatte das Geld für Investitionen gefehlt. Aber Willi war voller Energie und Tatendrang gewesen. In den Zeitungen hatte er immer wieder von Jungunternehmern gelesen, die es durch Eigeninitiative und Unternehmergeist weit gebracht hatten, und auch er hatte diese Kraft verspürt. Er hatte gemeint, er würde schon eine passende Marktlücke entdecken, mit der er reich werden könne. Der ältere Bruder hingegen sah alles realistischer. Er hatte die Meinung vertreten, Willi solle den Hof aufgeben, um mit dem Geld seine Ideen in Angriff zu nehmen. Für die Landwirtschaft tauge Willi ohnehin nicht, da ein Hof vor allem körperliche Arbeit erfordere, und er dafür nicht der Typ sei. Bei solchen Reden wurde Willi meist wütend und aggressiv. So hatte er erwidert, er wisse, was er von seinem Bruder zu halten habe, der sich schon frühzeitig abgesetzt und sich in einen Hof in Brekendorf eingeheiratet hatte; er jedenfalls werde die Familientradition hochhalten; man werde ja sehen, was dabei rauskomme.
Ähnlich kompromisslos war Willi auch in Herzensangelegenheiten. Man hatte ihn als Hans Dampf in allen Gassen gekannt, um kein Kompliment verlegen. Zu seinem überschäumenden Temperament kam auch noch die Tatsache, dass er sehr elegant und fein ausgesehen hatte, und daher die weiblichen Blicke des öfteren an ihm haften geblieben waren. Ebenso hatte er jedoch auch die neidischen Blicke der Männer auf sich gezogen, und es war innerhalb kürzester Zeit bekannt gewesen, dass er ein Tunichtgut sei und daher mit Vorsicht zu genießen. Der junge Reimer hatte sich aber davon nicht beirren lassen und auch den Mädchen schien es bei Begegnungen mit ihm egal gewesen zu sein, zumal er immer eine höfliche Distanz zu halten im Stande gewesen war, die bislang niemanden kompromittiert hatte.
Dann jedoch war aus dem übermütigen Spiel des Jungen Ernst geworden, als er Emmi Peters vom Petershof in Owschlag in sein Herz geschlossen hatte. Er hatte sich in das zurückhaltende Mädchen verliebt und auch sie war von ihm mehr als angetan gewesen. Für ihn hatte es festgestanden, dass er sie heiraten werde, zumal der Petershof reich war und eine nicht unbeachtliche Mitgift in Aussicht gestanden hatte. In einem Zweispanner, mit Frack und Zylinder bekleidet, die er eigens zu diesem Zweck gemietet hatte, war der frisch Verliebte an einem schönen Sommersonntag nach dem Kirchgang beim Petershof zu Owschlag vorgefahren, um sich die Gunst seiner Geliebten zu verdienen. Kaum hatte einer Emmis zahlreichen Brüder die Kutsche gesehen, waren auch die übrigen Familienmitglieder alarmiert worden, um sich das Schauspiel ansehen zu können. Die Reaktionen waren unterschiedlich gewesen und hatten von peinlich berührt bis zu spöttisch angetan geschwankt. Nur Emmi hatte genau gewusst, was sie zu tun hatte, und war auf ihr Zimmer verschwunden, um sich herzurichten. Im Kreise der Familie Peters war der komische Vogel dann allerdings mit Anstand aufgenommen worden, und man hatte Konversation gepflegt, wobei Willi sich immer wieder nach Emmi erkundigt hatte. Unter anderem hatte er auch wissen wollen, wie viel Geld sich auf ihrem Sparbuch befände. Selbst dabei hatte man das erstaunte Entsetzen unterdrückt und versucht, sich mit spitzem Humor aus der Affäre zu ziehen. Nach schier endlosen Minuten war dann aber Emmi erschienen und hatte ihre Familie endlich von diesem Spinner erlöst. Willi hatte sich fortan nur noch mit ihr unterhalten.
Nachdem der Gast dann gegangen war, hatten alle, die Zeugen dieser unfassbaren Szenen gewesen waren, sie in verhöhnender Weise nachgeahmt oder sich darüber aufgeregt. Entweder hatte man über Willi gelacht oder ihn verteufelt. Nur Emmi hatte versucht, ihren Verlobten in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Auch die übelsten Widerreden hatten sie nicht davon abbringen können, diesen Sonderling zu heiraten, der sich so unerschütterlich um sie bemüht hatte.
Das Alltagsleben der beiden hatte dann allerdings anders ausgesehen, als Willi sich das erträumt hatte. Die Arbeit des Hofes war hart; für ihn, der so elegant und fein war, zu hart. Emmi, die zu arbeiten gewohnt war, hatte den Hof nahezu allein bewirtschaftet. Willis Beitrag hatte lediglich darin bestanden, die Erträge auf dem Markt zu verkauften.
Der Wochenmarkt war Willi Reimers Leidenschaft gewesen, bei der er den Alltag hatte vergessen können. Er war der geborene Verkaufsmensch, und wie immer, wenn er sich wohl fühlte, hatte er bei seinen Verkaufsgesprächen zu Übertreibungen geneigt und war dabei schnell zu einer der Attraktionen des Marktes geworden. So bekannt er allerdings als Marktschreier war, außerhalb des Marktes schien Willi keine Existenz zu haben. Und weil sein Hof so abgeschieden im Wald der Hüttener Berge lag, waren ihm neben seiner Prominenz auf dem Markt fast ebenso schnell Mystik und Legenden zuteil geworden. Vor allem die Kinder nannten ihn fortan nur noch den Berggeist, wenn sie ihn zu Gesicht bekamen.
Als die beiden Einsiedler schließlich eine Tochter zur Welt gebracht hatten, hatte sich ihr Alltag noch beschwerlicher gestaltet. Emmi war der Sache einfach nicht gewachsen. Irmgard, die Tochter, hatte zwar mit zunehmendem Alter mehr mitgeholfen, jedoch war ihr dabei auch schnell bewusst geworden, wie aussichtslos die Lage war. All die Jahre hatte sie daheim mit ansehen müssen, wie ihre Mutter gesundheitlich immer mehr abgebaut hatte. In der Schule war sie immer wieder mit ihrem verschrobenen, faulen Vater gehänselt worden und hatte zuletzt auch schon gar keinen Widerstand mehr geleistet, sondern selbst Witze über ihn gemacht, um so den Hänseleien den Reiz zu nehmen. Von dem Geld, das der Vater vom Markt nach Hause gebrachte, waren die Schulden des Hofes lange schon nicht mehr getilgt worden. Der Schuldenberg war über die Jahre stetig angewachsen und Irmgard war dieser Zustand zunehmend unerträglicher geworden. Schließlich hatte sie damit angefangen, eine Rücklage zu schaffen, indem sie ihrem Vater Erträge vorenthielt und selbst zu Geld machte.
Das hatte Irmgard geraume Zeit so betrieben, bis sie, mittlerweile schon volljährig, zur Bank gegangen war, um die finanzielle Lage ihrer Eltern endgültig in den Griff zu bekommen. Und wie das Leben so spielt, hatte es nicht lange gedauert, und Irmgard war mit dem jungen Bankangestellten Aßmus in den heiligen Bund der Ehe eingetreten und weggezogen.
Nach diesem Lebenseinschnitt für die Familie war die Arbeit des Hofes endgültig liegengeblieben. Emmi war schon zu gebrechlich geworden, um noch auf dem Feld zu arbeiten. Für Willi war nun endgültig der Zeitpunkt gekommen, an dem er hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass seine Träume gescheitert waren. Seine Gedanken kreisten nun um einen Neuanfang für sich und seine Frau. Die war, nachdem sie mehr Zeit hatte, häufiger zu Besuch bei alten Freundinnen und Willi bemerkte, wie ihr das neuen Lebensmut gab. Sie hatte sich wahrlich einen schönen Lebensabend verdient, und er wollte ihr dabei behilflich sein. Anfangs hatte Willi sogar noch geglaubt, er könne den Hof verkaufen, wurde aber natürlich schnell eines besseren belehrt. Schließlich hatte er sich dann zur Abtretung an seinen Neffen entschlossen.
Emmi genoss den herrlichen Herbsttag. Sichtlich gut gelaunt gelangte sie nach ihrem Kaffeekränzchen wieder zu Hause an und hatte so vieles zu berichten. Allerdings war ihr Mann nicht zugegen, so dass sie nach ihm suchte. Als sie ihn fand, brach Emmi schreiend und weinend zusammen, da er sich in der Scheune erhängt hatte.
Die Nachricht vom Tode des Berggeistes war noch einige Tage Dorfgespräch. Jeder hatte eine persönliche Geschichte mit ihm erlebt, und fand überall offene Ohren. Vor allem der Postbote wurde immer wieder gebeten, die Geschichte mit dem Brief zu erzählen, schließlich war er es, der den Unglücklichen zuletzt lebend gesehen hatte. Und noch lange erzählte er gerne, es sei ihm sofort klar gewesen, dass da etwas nicht stimme, so wie der Berggeist dem Brief überhaupt keine Aufmerksamkeit gewidmet habe, sondern ihn geheimnisvoll neben sich gelegt habe, um dann davon abzulenken. Aber er, der Postbote, habe ja nicht aufdringlich sein wollen und sei gegangen, nachdem der Alte so sonderlich und abweisend gewesen sei.
Selbst heute, eine Generation später, ist der Berggeist noch ein Thema, denn hätten meine Eltern am Abendbrottisch nicht davon erzählt, würde ich das alles nicht aufgeschrieben haben.
Um die Erzählung zu vervollständigen, ist noch zu erwähnen, dass Irmgard die finanzielle Regelung der Angelegenheit übernahm. Die Bank war großzügig. Da sie nichts mehr zu holen sah, schrieb sie die Schulden ab. Welche Rolle dabei Irmgards Mann spielte, bleibt ungeklärt und gab Anlass zu getuschelten Spekulationen. Der Hof wurde der Gemeinde überschrieben, die dafür Emmi im Gemeindehaus den Lebensabend sichern sollte. Der Gemeinde brachte das jedoch keinen Nutzen, außer dass das unselige Grundstück unter öffentlicher Obhut verfallen konnte. Die Ruinen werden auch noch heute von Spaziergängern entdeckt. Emmi lebte noch einige Jahre glücklich und bescheiden. Sie redete nicht viel, aber auch ihren besten Freundinnen gegenüber, mit denen sie sich regelmäßig auf einen Kaffee traf, sagte sie nicht ein böses Wort gegen ihren toten Mann, in den sie sich so wider alle Vernunft verliebt hatte.
Geschrieben Oktober 2001