Читать книгу Als der Osten brannte - Henning Stühring - Страница 6
ОглавлениеII. Ab durch die Mitte
23.06.1941-16.07.1941
„Alles ist hin! Ich gebe auf. Lenin hat unseren Staat gegründet und wir haben alles versaut.“29
Stalin-Zitat vom 28. Juni 1941, sechs Tage nach dem deutschen Überfall.
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„Nicht denken, nicht denken. In zwei Trichter bin ich bereits gesprungen, um mich herum das Pfeifen der Granaten, wenn sie herabsausen. Das ohrenbetäubende Krachen der Detonationen, das Surren der glühenden Splitter, Feuer und Dreck, der gen Himmel schießt, die Kraterränder wie Berge, bebende Erde und der Gestank verbrannten Pulvers. Ein tödliches Chaos – Dantes Inferno.“30
Johannes Werner Günther, Angehöriger der 10. motorisierten Infanteriedivision, über russisches Trommelfeuer, das er am 13. Juli auf dem Dnjepr-Ostufer erlebt. Es ist der 24. Geburtstag des Sudetendeutschen.
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„Der erste Angriffstag verlief vollkommen planmäßig. Der strategische Überfall ist geglückt.” Generaloberst Hoths Urteil nach 24 Stunden Ostkrieg lässt optimistisch auf den planmäßigen Fortgang des Feldzuges blicken. Umso enttäuschender verläuft der 23. Juni für die schnellen Divisionen der Panzergruppe 3. Die wenigen, noch dazu schlechten russischen Straßen verlangsamen das Marschtempo. Bereits kleine Scharmützel an den Spitzen der motorisierten Kolonnen genügen, um den in die Länge gezogenen deutschen Heerwurm kaum mehr kriechen zu lassen. Ein Flankieren der russischen Verbände lässt indes das sehr unwegsame Gelände nicht zu. Hoths Stoß muss wohl oder übel frontal, in tiefer Staffelung, geführt werden.
Nahezu die Hälfte ihrer Tanks verliert die 7. Panzerdivision bei Olita – im Schnitt zählen die Panzerdivisionen der Wehrmacht zwischen 150 und 225 Kampfwagen. Aber auch die deutschen Kanonen fordern ihren Tribut vom Gegner, der russischen 5. Panzerdivision; 82 ihrer Tanks werden abgeschossen. Oberst Rothenburg, Kommandeur des im Westfeldzug hoch bewährten Panzerregiments 25, meldet „die bisher schwerste Schlacht” seines Lebens, das nur noch nach Tagen zählt. Am 29. Juni wird man Rothenburgs leblosen Körper bergen. Länger als 24 Stunden lässt sich der Vormarsch der deutschen Panzer allerdings nicht verzögern. Hoths eiserne Faust, auf engem Raum konzentriert und blitzschnell ins Ziel gehämmert, bringt die russische Front bereits am 24. Juni erneut ins Wanken. Der nördliche Panzerarm holt aus zum Riesenschlag. Er soll in einem Zuge bis Minsk schwingen. Den Amboss zu Hermann Hoths Hammer bildet Heinz Guderians Panzergruppe 2. Treffen sich die beiden Stahllawinen bei der weißrussischen Hauptstadt, sind die sowjetischen Verbände in dem riesigen Frontvorsprung Bialystok-Minsk eingeschlossen – rund eine halbe Million Mann säßen im Kessel. Aber wo steht der Amboss, der Schöpfer der deutschen Panzerwaffe?
„Die Überraschung des Gegners ist auf der ganzen Front der Panzergruppe gelungen.” Guderians Resümee nach den ersten 24 Stunden fällt ähnlich optimistisch aus wie Hoths Lagebeurteilung. Am 24. Juni stößt der schnauzbärtige Panzergeneral auf der Straße zwischen Rozana und Slonim auf russische Infanterie. Eine Batterie Artillerie (vier Geschütze) und abgesessene Kradschützen31 vermögen den Feind nicht zu vertreiben. Der „schnelle Heinz”, wie ihn seine Soldaten nennen, hasst jedoch nichts mehr als Stillstand. Er wird ungeduldig und nimmt die Dinge selbst in die Hand. Das MG-Feuer aus seinem Befehlswagen vertreibt die Russen von der Straße. Ein typischer Wesenszug Guderians: Persönlich tapfer, hart bis zur Rücksichtslosigkeit, auch gegen sich selbst. Ein Energiebündel sondergleichen. Ohne ihn ist der sensationelle Sieg über Frankreich im Frühling 1940 kaum vorstellbar. Manstein mag den Operationsplan, die geniale Sichel, geschmiedet haben. Aber Guderian führte den tödlichen Schnitt von den Ardennen bis an den Atlantik quasi im Alleingang. Seine Eigenmächtigkeiten waren es, die den Durchbruch zur Kanalküste brachten. Erst vor Dünkirchen wurde Guderian gestoppt und der totale Sieg im Westen verschenkt.
Der personifizierte Blitzkrieger predigte vor allen anderen deutschen Generalen den konzentrierten Einsatz von Panzerverbänden an der schlachtentscheidenden Stelle. „Nicht kleckern, klotzen!”, lautet der legendäre Leitspruch des 53-jährigen Kulmers. Zur Doktrin der schnellen Truppen gehört ebenso, dass Panzergenerale ihre Division von vorn führen. Aus dem Befehlswagen, der dicht hinter den Angriffsspitzen fährt. Dadurch ist eine straffe Führung gewährleistet, und die Disziplin in der Kampftruppe wird hochgehalten – mit allen Mitteln.
Als am 13. Juli eine Meldung im Gefechtsstand der Panzergruppe eingeht, dass sich das Infanterieregiment „Großdeutschland“ bei Mogilew in schweren Abwehrkämpfen verschossen und neue Munition angefordert habe, befiehlt der Generaloberst ungerührt, die gewünschten Patronen und Granaten nicht zu liefern. Seiner Meinung nach geht die „nervöse Schießerei” auf noch mangelnde Ost-Erfahrung des Eliteverbandes zurück.32 Das Ergebnis: Es tritt tatsächlich Ruhe ein. Eine Episode, die zeigt, dass nicht nur russische Generale mit rücksichtsloser Härte befehligen. Aber sind Kriege überhaupt anders zu führen, geschweige denn zu gewinnen?
Auf alle Fälle geht es ohne Rücksicht auf offene Flanken zügig vorwärts. Guderians Armada von 850 Kampfwagen, verteilt auf drei Panzerkorps, ist am blutig umkämpften Brest vorbei gestoßen. Während das XXXXVII. Panzerkorps mit der 17. und 18. Panzerdivision sowie der 29. motorisierten Infanteriedivision nach Nordosten rast, um Hoth bei Minsk die Hand zu reichen, prescht das XXIV. Panzerkorps direkt gen Osten, Richtung Bobruisk an der Beresina. Die Speerspitze dieses Vorstoßes bildet Generalleutnant Walter Models 3. Panzerdivision. Zunächst läuft alles nach Plan. Kobryn fällt am späten Vormittag. Doch dann stellt sich das sowjetische XIV. mechanisierte Korps, ein motorisierter Verband mit Kampfwagen, in den Weg.
Ostwärts Kobryn kommt es zu einer der ersten Panzerschlachten des Ostfeldzuges. Die Berlin-Brandenburger vom Panzerregiment 6 behaupten die verbrannte Erde des Kampffeldes. Am Ende des Tages sind 107 sowjetische Tanks vernichtet. Einzelne Besatzungsmitglieder hängen noch mit den Oberkörpern in den Ausstiegsluken. Verkohlt. Wie schwarze Mumien ragen sie aus den glühenden Stahlkästen. Die Flammen waren schneller, sind über sie hinweggeschlagen und die Tankisten nicht mehr rausgekommen.
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Nicht mehr raus kommt am 25. Juni auch eine russische Kampfgruppe, die ostwärts Bielsk von Einheiten der deutschen 137. Infanteriedivision33 umfasst ist. In der Falle sitzen rund 800 Todgeweihte. Die Kanoniere der I. Abteilung/Artillerieregiment 137 fahren ihre Geschütze in offener Feuerstellung auf, um die Russen vor der Front zusammenzuschießen. Im direkten Richten schießen die 12 leichten Feldhaubitzen, Kaliber 10,5 Zentimeter, in den dicht gedrängten Feind. Dadurch können die Artilleristen, anders als beim Schießen aus festen Stellungen hinter der Hauptkampflinie, die Wirkung ihrer Geschütze mit eigenen Augen beobachten. Wo eine der fast 15 Kilo schweren Granaten mit lautem Krachen explodiert, wirken die Splitter noch im Umkreis von 30 bis 40 Metern. Werden Abpraller geschossen, regnet es auch von oben heiße, scharfe Metallteile, die bis 60 Meter Entfernung Tod und Verstümmelung bringen. Mitleid mit den Russen gibt es nicht, ganz im Gegenteil: Die Männer berauschen sich geradezu an der überwältigenden Wirkung ihrer Vernichtungsmaschinen, hören nicht auf zu feuern.
Hoch zu Ross erlebt der Chef der 3. Batterie, Hauptmann Meyer, die Begeisterung seiner Artilleristen. Und er sieht die verheerende Wirkung drüben bei den Russen. So muss es 1870 bei Sedan gewesen sein, geht es ihm durch den Kopf. Der Befehl zur Einstellung des Feuers ergeht erst, als der Beschuss auch eine eigene Einheit in der Flanke zu gefährden droht. Besorgt beobachtet Meyer, wie sich eine der deutschen Batterien bereits zur Gegenwehr einrichtet. Eine in letzter Sekunde abgeschossene weiße Leuchtkugel signalisiert den Kameraden, dass hier eigene Truppen stehen. Dennoch gelingt es dem Batteriechef nur mit Mühe, das Feuer seiner Männer zu stoppen. Beinahe widerwillig kommen sie dem Befehl nach. Menschenverachtung im Rausch der Vernichtung. Keine Gnade, schlage! Denn es ist Krieg.
Als sich der nach Schwefel stinkende und in den Augen brennende Pulverdampf verzogen hat, können die Buchhalter des Krieges Inventur auf dem Schlachtfeld halten. Der Kampfbericht der 137. Infanteriedivision vermerkt nur 150 gefangene, aber über 500 gefallene Russen.
Das Fazit lautet: „Feind restlos vernichtet.”
Bei Schlobin erleiden allerdings auch die Deutschen empfindliche Verluste. Die 4. Kompanie/Panzerregiment 6 fährt in einen Hinterhalt. In einem Kornfeld, bestückt mit Minen, Panzerabwehrkanonen (Pak) und Tanks, schnappt die Falle zu. Die Russen erweisen sich als Meister der Tarnung und eröffnen das Feuer aus kürzester Entfernung. Über die 13 Kampfwagen unter dem Kommando von Oberleutnant Brodowski kommt die Hölle. Die Einheit der 3. Panzerdivision wird zusammengeschossen. Auch der Kampfwagen des Kompaniechefs ist getroffen und brennt. Zwar kann Brodowski im letzten Moment noch lebend aus den lodernden Flammen gezogen werden. Aber seine Brandverletzungen erweisen sich als so schwerwiegend, dass der Kommandeur Tage später den Verwundungen erliegt. Daneben fallen 22 weitere Panzersoldaten, 36 werden verwundet. Ganze drei Tanks und ihre Besatzungen kommen an diesem schwarzen Tag der 4. Kompanie/Panzerregiment 6 unbeschadet davon – drei von 13!34
Die Panzergruppe 2 bleibt trotz der blutigen Scharmützel auf der Siegerstraße. Der Amboss wird unaufhaltsam in Richtung Hoth gestoßen. Am 27. Juni rollen die Kampfwagen der 17. Panzerdivision an den Südrand von Minsk. Zu jener Zeit stellt der Panzer III mit 965 Kampfwagen die Hauptwaffe der deutschen Panzerdivisionen an der Ostfront. Nach Guderians Grundsätzen muss ein Tank die drei konkurrierenden Faktoren Panzerung, Bewegung und Feuer (Bewaffnung) möglichst optimal in Einklang bringen. Eine echte Herausforderung für die Konstrukteure. Denn eine starke Panzerung bedeutet viel Gewicht und geht auf Kosten der Beweglichkeit. Der Panzer III gilt mit 21,5 Tonnen Gewicht als mittlerer Kampfwagen. Ein 320 PS starker Benzinmotor sorgt für eine Geschwindigkeit von bis zu 55 km/h. Die Primärwaffe bildet eine 3,7 oder 5-Zentimeter-Kanone. Zwei MG ergänzen und verstärken die Feuerkraft, speziell im Nahbereich. Fünf Mann stellen die Besatzung des Panzers: Der Kommandant befehligt vom Turm aus über Kehlkopfmikrofon, der Funker sorgt für die Kommunikation und MG-Bedienung, der Richtschütze visiert Feindziele an – weiche mit Sprenggranaten, harte mit Panzergranaten – der Ladeschütze führt die Geschosse nach, und der Fahrer steuert den Tank.
Die Deutschen legen den Schwerpunkt auf die Beweglichkeit. Nach dem Krieg wird vielfach beklagt, dass vor allem die Feuerkraft der deutschen Kanonen zu gering gewesen sei. Angesichts der stark gepanzerten und mit großkalibrigen Rohren bestückten russischen Typen T 34 sowie der schweren und überschweren KW 1 und KW 2 ist der Einwand auch gewiss nicht von der Hand zu weisen. Andererseits konnten die deutschen Panzer Frankreich in sechs Wochen überrollen und sollen noch bis vor die Tore Moskaus fahren – eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel. So unterlegen, wie oft und dramatisch dargestellt, kann das deutsche Material jedenfalls kaum gewesen sein. Zumal die schweren russischen Tanks 1941 keine Massenerscheinung und mit mangelhaften Zieloptiken ausgestattet sind. Es stehen zwar gut 10.000 Panzer im Westen der Sowjetunion kampfbereit. Davon jedoch nur rund 1.300 T 34 und KW, noch dazu „verkleckert“ über die gesamte Front.
Es darf nicht vergessen werden, dass ein schwerer deutscher Panzer mit größerem Kaliber vergleichsweise wenig wendig gewesen wäre, aber umso durstiger in Sachen Benzinverbrauch. In Anbetracht der katastrophalen Straßen in Russland, die sowohl den Vormarsch der Kampftruppen als auch den Nachschub der Trosse gleichermaßen beeinträchtigen, nicht eben die bessere Alternative, wohl aber eine teurere. Der zusätzliche Materialaufwand bei der Produktion wäre womöglich auf Kosten des Ausstoßes, der Stückzahl an verfügbaren Panzern, gegangen. Eine weitere nummerische Unterlegenheit hätte sich aber noch viel fataler ausgewirkt als die schwächere Bewaffnung.
Im Grunde ist das eigentliche Versäumnis weder beim Panzer III, auch nicht beim leichteren Panzer II oder bei einem fehlenden schweren Modell zu suchen, sondern beim Panzer IV. Denn ein entscheidendes Detail passt hier nicht. Der mit 23 Tonnen schwerste deutsche Typ ist zwar mit einer 7,5-Zentimeter-Kanone bestückt, allerdings der kurzen. Dadurch verlassen die abgefeuerten Granaten das Rohr weniger rasant – der Fachmann spricht von einer geringen V0. Die Stummelkanone des Panzer IV sorgt nicht für die nötige hohe Anfangsgeschwindigkeit der Geschosse, um eine möglichst gestreckte Flugbahn zu erzielen. Entsprechend gering ist die Durchschlagswirkung und Treffsicherheit, vor allem im Gefecht auf größere Entfernungen. Der baugleiche Typ, aber ausgestattet mit der 75-Millimeter-Langrohrkanone, so wie er ab 1942 an die Front kommt, hätte der deutschen Tankabwehr im entscheidenden Anfangsstadium des Krieges viel Blut gespart. Die 439 Panzer IV wären dann tatsächlich das mobile Rückgrat der Verteidigung gegen die mächtigen russischen T 34 und KW gewesen. So fährt der schwerste deutsche Typ eher als eine Art rollender Artilleriebunker in das Unternehmen „Barbarossa“. Für den Kampf Panzer gegen Panzer ist der „Stummel” nur bedingt geeignet. Erst im Nahgefecht, auf Entfernungen von wenigen hundert Metern, kann er die Armierung der sowjetischen Stahlkolosse durchschlagen. Aber selbst das gelingt oft nur dann, wenn der Richtschütze die „weicheren“ Stellen, etwa die Entlüftungsklappen, trifft. Zu einem probaten Mittel der deutschen Tankabwehr wird auch das Zerschießen der Ketten.
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Kurt Knispels35 Panzer IV gehört zur I. Abteilung, Panzerregiment 29. Die Einheit zählt zur 12. Panzerdivision und stößt im Rahmen der Panzergruppe 3 von Norden auf Minsk vor. Am 26. Juni erreicht Knispel, der abwechselnd als Lade- und Richtschütze fungiert, den Stadtrand. Knapp kommen die Befehle des Kommandanten.
Über Bordfunk gibt er durch: „MG-Nest auf 12 Uhr. Sprenggranate.”
Der Richtschütze antwortet: „Ziel erkannt!”
Längst hat Knispel eine Sprenggranate geladen.
Der Kommandant ruft: „Feuer frei!”
Die Flugbahn der 7,5-Zentimeter-Granate kann man sogar mit dem bloßen Auge verfolgen. Kommandant und Richtschütze sehen, wie die russische MG-Stellung im Fenster eines Gebäudes in die Luft fliegt. Liegen bleiben, im Staub der Steine, die zerschlagenen Gebeine. Durch Blumenbeete walzen sich die Panzer ihren Weg. Eine Brauerei wird erobert, Bier erbeutet und der Sieg tüchtig begossen. Bis zum 29. April 1945 soll Kurt Knispel 168 Feindpanzer abgeschossen haben. Mehr als jeder andere. Dann trifft der Gegner seinen „Tiger“. Der Panzer explodiert, die Besatzung stirbt.
Komplettiert wird der Fall von Minsk durch Generalleutnant Stumpffs 20. Panzerdivision. In einem Spähwagen der Aufklärungsabteilung fährt Götz Hirt-Reger36. Der blonde Jüngling führt eine Besonderheit mit: eine Filmkamera plus Farbfilme. Damit gelingen dem Funkaufklärer einmalige Aufnahmen vom Vormarsch der Panzergruppe 3. Hirt-Reger filmt die Gefangenen in ihren braunen Uniformen, die staubigen Rollbahnen, die strohgedeckten Holzhäuser, die Fliegerangriffe, die Brände und Rauchwolken am Horizont, die Ziehbrunnen in den Dörfern, die weißen Kirchen mit den Zwiebeltürmen, die barfüßigen Bäuerinnen mit ihren weißen Kopftüchern sowie einen Bauern, der sein Feld bestellt – vorneweg das Pferd, dahinter der Pflug gespannt, den der Landwirt lenkt. Man sieht die Gräber der Gefallenen; nur die von der Aufklärungsabteilung, aber es sind schon verdammt viele. Man sieht Kameraden während einer Marschpause im Gras liegen. Sie schreiben Briefe an ihre Angehörigen. Ein junger, dunkelblonder Mann lacht, winkt ab, will wohl nicht von Hirt-Reger gefilmt werden. Er trägt nur eine schwarze Unterhose und um den Hals die Erkennungsmarke. Der Träger wird das letzte Mal gefilmt, seine Marke wenig später gebrochen. Gefallen. Ein Schicksal, das auch den zweiten Briefeschreiber, den Hirt-Reger an diesem sonnigen Sommertag vor die Linse bekommt, ereilen soll. Durch die Farbaufnahmen wirken die Bilder beklemmend nah.
Angesichts der Erfolge im Kampfraum Wilna-Grodno am Nordflügel der Heeresgruppe schreibt Hans-Joachim S.37, Kriegs-Offiziers-Bewerber (KOB) vom Armee-Nachrichten-Regiment 511, am 26. Juli in einem Feldpostbrief an seine Frau:
„Der Vormarsch geht weiter – Richtungswechsel! Hauptmann stellt fest, dass dieser Vormarsch den in Frankreich in den Schatten stellt. Ungeheure Materialmengen rollen – gestern 100 km lange Kolonne überholt. Dazwischen immer noch heimtückische Überfälle durch Russen. Werden sofort erschossen – liegen haufenweise im Straßengraben. Russische Bomber werden am laufenden Band durch Jäger abgeschossen. Kaum ein Bomber, der einfliegt, kehrt zurück. Vorgestern beschoss ein frecher Hund Helmuth’s Wagen – kam auf 50 m herunter. Stimmung ganz groß! Requirierten Seife, Tee, Butter, Eier, Hühner, schlafen nur unter freiem Himmel, bezw. im PKW. Das Wetter ist drückend heiß. Staub – Staub – Staub. So wird unser Leben nun wochenlang weitergehen. Eben kommt ein Kamerad mit Krad an, der 3 Tage verlorengegangen war. Hat uns endlich wiedergefunden. Ich bin jedenfalls glücklich, dabei sein zu können, bei dem größten Feldzug der Weltgeschichte.“
Am 27. Juni reichen sich die 20. und 17. Panzerdivision bei Minsk die Hand. Der Hammer ist auf den Amboss getroffen, die Russen sitzen in der Falle. Vier Armeen sind im teils sumpfigen Waldgelände eingekesselt. Und Soldaten, denen der Nachschub an Verpflegung und Munition abgeschnitten wird, beflügelt nur noch ein Gedanke: Mit aller Macht raus aus dem Kessel und wieder Anschluss an die eigenen Linien finden! Das bedeutet für die deutschen Kämpfer, die den Ring um die Eingeschlossenen dichthalten, dass sie die Massenausbrüche abwehren müssen. Bis dem Gegner das sogenannte Menschenmaterial ausgeht.
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Alarm am Südrand des Kessels, beiderseits des Städtchens Zelwa: Die Russen kommen! In mehreren Reihen hintereinander stapfen sie aus dem dichten Wald heran. Ihre überlangen Bajonette hoch über die Köpfe ragend. Das Gewehr und die dreikantige Klinge messen zusammen 175 Zentimeter. Nahkampf wird in der Roten Armee großgeschrieben, Bajonettieren in der Ausbildung auf die Spitze getrieben. Die Soldaten brüllen „Urräh!” – das Gegenstück zum deutschen Hurra-Ruf, um sich selbst Mut und dem Feind Angst zu machen. Die angegriffenen Männer der 29. motorisierten Infanteriedivision warten fieberhaft auf den Feuerbefehl. Alles reine Nervensache, aber nur schwer auszuhalten. Eine verdammte Angst spüren sie alle. Nur nicht durchdrehen! Erfahrene Krieger wissen: Je später das Feuer eröffnet wird, umso vernichtender die Wirkung. Die breiten Ketten der russischen Leiber, ganze Bataillone – 500, 1.000 und mehr Soldaten – laufen direkt vor die Läufe der MG und die Rohre der Artillerie. Da bei den chaotischen Kesselkämpfen kein klarer Frontverlauf zu erkennen ist, bedienen sich die Kanoniere der 8. und 9. Batterie/Artillerieregiment 29 der ziemlich kurios anmutenden Taktik des „Rohrsalats“.38 Dazu werden die Feldhaubitzen wechselweise nach vorne und hinten ausgerichtet, um gegebenenfalls in alle Richtungen wirken zu können.
Schon sind die Gesichter der Russen zu erkennen. Da hebt Hauptmann Schmidt39, Kommandeur des I. Bataillons vom Infanterieregiment 15, den Arm und brüllt:
„Feuer!”
Für die Männer kommt der Befehl wie eine Erlösung. Endlich den Abzug durchziehen zu dürfen, um damit nicht nur den Gegnern das Leben, sondern sich selbst auch die schreckliche Todesangst zu nehmen. Heftiges Sperrfeuer aus allen Rohren schlägt in die stürmenden Sowjets. Die deutschen Schützen schießen mit dem Karabiner Punktfeuer auf einzelne Gegner, das MG-Bataillon 5 Salven auf ganze Gruppen und die Kanoniere an den Infanteriegeschützen Lagen von Granaten auf die zusammengeballten Menschenknäuel. Es wirkt. Bringt Tod. In Massen.
Wieder orgelt eine Lage der Infanteriegeschütze heran. Dieses deutsche Spezialrohr gibt es als leichte und schwere Ausführung. Infanteriegeschütze sind den Regimentern als direkte artilleristische Unterstützung zugeteilt. Mit den relativ kurzen Rohren kann sowohl Flach- als auch Steilfeuer auf Entfernungen von 800 bis gut 3.000 Metern geschossen werden. Das leichte Infanteriegeschütz 18 bringt 7,5-Zentimeter-Granaten ins Ziel. Daneben heulen und rauschen die 38 Kilogramm schweren Geschosse vom Kaliber 15 Zentimeter in die erkannten russischen Bereitstellungen. Beide Infanteriegeschütze, das leichte wie das schwere, gelten als sehr wirkungsvolle Präzisionswaffen. Nichts fürchten die ziemlich unempfindlichen Russen jedoch mehr, als die schnell schießenden deutschen Maschinengewehre, die wie eine Sichel Reihe um Reihe der erdbraun Uniformierten niedermähen. Abgesehen von der Artillerie hat vermutlich keine deutsche Waffe im Osten einen höheren Blutzoll gefordert. Wer in Russland als Schütze 1 am Maschinengewehr Gurt um Gurt verschießt und Feind auf Feind zersägt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Massentöter. Wenn er denn selbst lang genug durchhält, was angesichts des oft konzentrierten Abwehrfeuers auf seine Stellung eher zweifelhaft ist. Bei Zelwa sind es allerdings in erster Linie Rotarmisten, die im deutschen MG-Feuer fallen.
Wenn die furchtbaren Ereignisse am „Omaha-Beach“, die sich im Rahmen der alliierten Invasion an jenem legendären Strand der Normandie abspielten, vielfach als einzigartig dargestellt werden, so ist das nur ein Teil der Wahrheit. Damals, am 6. Juni 1944, verbluteten Tausende US-Soldaten am Strand von „Bloody Omaha“. Die meisten davon soll der deutsche MG-Schütze Hein Severloh niedergestreckt haben. Ein einzelner Mann. Mit seinem MG 42 und zwei Karabinern. Ein böser Wolf, wie im Märchen. Als ob die anderen Kameraden der 352. Infanteriedivision mit ihren Karabinern, Maschinengewehren und Geschützen nicht schossen und trafen! Die „Bestie von Omaha-Beach“ wird zwar schlimm genug gewütet haben, die Legendenschreiber aber nicht minder. Bei insgesamt 2.374 Gefallenen des V. US-Korps am 6. Juni kann Severloh nicht bis zu 3.000 GI‘s auf dem Gewissen haben! Und im hohen Alter von 80 Jahren behauptete der ehemalige Gefreite aus Metzingen in einer TV-Reportage40 über sich, der deutsche Soldat gewesen zu sein, der die meisten Gegner tötete. Das mag wohl stimmen – wenn sich die Aussage allein auf die Westfront bezieht.
Denn an der Ostfront gab es Dutzende Tragödien wie die vom Omaha Beach und viele namenlose MG-Schützen vom Schlage eines Hein Severloh, die sehr wahrscheinlich eher mehr Gegner totgeschossen haben dürften. Zumal sie nicht nur an einem Tag wirkten! Über diese weit weniger bekannten Dramen im Osten wurden eben kaum Dokumentar- oder gar Hollywoodfilme, allen voran „Der Soldat James Ryan“, gedreht. Die mörderischen Ausbruchskämpfe bei Zelwa sind so ein vergessenes Kapitel. In diesem Fall gibt es für die Eingeschlossenen auch von oben keine Hoffnung mehr. Der Himmel sendet keinen Trost, bringt nur Tod. Im Sturzflug heulen die Stukas, klinken ihre 50-Kilo-Bomben aus und bringen sie auf fünf Meter genau ins Ziel. In weiteren Anflügen wird flächendeckend mit MG-Feuer auf die Russen gehalten. Ganze Bataillone werden restlos zerschlagen; 500, 1000 und mehr Soldaten in wenigen Minuten verwundet, getötet. Die Phalanx der Leiber ist weich geklopft, und die Welle wogt zurück. Bis auf das zerhackte Fleisch, das im Niemandsland, unter praller Sonne, bald zum Himmel stinkt. Beklemmende Szenen, ekelhafte Gerüche, die sich an diesen heißen Tagen zwischen Ende Juni und Anfang Juli an vielen Fronten des Kessels wiederholen. Der russischen Dampfwalze geht nach und nach der Treibstoff und buchstäblich auch das Blut aus. Zehntausende Rotarmisten sind bereits im Kesselkampf gefallen. Aber das Gemetzel geht weiter. Immer weiter. Die Seele des sowjetischen Widerstandes bilden nicht selten die Polit-Kommandeure, die Kommissare und Politruks, die mitunter zu brutalen Mitteln greifen, um sich ihre Gefolgschaft zu sichern.
Stalin selbst bekommt am 28. Juni einen Wutausbruch, als er vom Fall der weißrussischen Hauptstadt erfährt. Er schreit Schukow an:
„Was für ein Stabschef ist das, der seit dem ersten Kriegstag keinen Kontakt mehr zu seinen Truppen hat, niemanden repräsentiert, niemanden befehligt?“41
Daraufhin bricht der große Schukow, der Eroberer Berlins, der 1945 auf der pompösen Siegesparade in Moskau hoch zu Ross – auf einem weißen Schimmel – über den Roten Platz trabt, zusammen und weint. Der „Held der Sowjetunion“ behält aber sein Leben und das Kommando des Stabschefs.
Die einfachen Soldaten an der Front haben kaum Gelegenheit zum Heulen. Bei der 78. Infanteriedivision42, die zur 9. Armee am Nordflügel des Kessels gehört, kommt es zu schweren Waldkämpfen. Schauplatz der unheimlichen Gefechte ist der Bialowiezer Forst. Am 29. Juni müssen die Stoßtrupps die grüne Hölle bei drückender Hitze systematisch durchkämmen. Von Süd nach Nord. Bis an den Narew-Fluss bei Rudnia. Zwei russische Regimenter bereiten einen Hinterhalt vor. Sie lassen die Angreifer auflaufen. Die Feuereröffnung erfolgt aus nächster Nähe, teils von hinten. Allein die Spitzenkompanie verliert 48 Mann durch Tod und Verwundung. Erst am Abend haben die Württemberger den Auftrag erfüllt und sich durch das urwaldähnliche Dickicht gefochten. Zeit, die Toten des Tages zu beerdigen, 114 an der Zahl. Rund 600 Gefallene hat der geschickt kämpfende Feind zurückgelassen.
Auch an dieser Front erweist sich der Russe gewandt in der Kunst der Geländeausnutzung. Vor allem die exzellente Tarnung dieser Naturburschen nötigt Respekt ab. Während die Landser bei Waldgefechten Schussfeld durch Schneisen schaffen, geht der Russe anders vor. Er legt sich nur schmale Schusskanäle im dichten Unterholz an. Meterlange Röhren, in deren Tiefe MG- und Gewehrschützen liegen. Läuft ein Angreifer auf diese nahezu unsichtbaren Stellungen und erhält Beschuss, erkennt er nicht einmal das Mündungsfeuer. Im Bialowiezer Forst legen Rotarmisten sogar Schusskanäle an, die vorne gar keine Öffnung haben und nur nach hinten wirken. Kein Zweifel, im Waldkampf ist der Iwan dem Fritzen überlegen.
Hochachtung spricht der Führer aber nur seinen Soldaten aus. Angesichts des überwältigenden deutschen Sieges, der sich bei der Heeresgruppe Mitte abzeichnet, frohlockt Hitler am 4. Juli in seinem Hauptquartier:
„Ich versuche, mich dauernd in die Lage des Feindes zu versetzen. Praktisch hat er diesen Krieg schon verloren.”
Die Euphorie packt allerdings auch vergleichsweise nüchtern denkende Militärs wie Generaloberst Franz Halder. Der Chef des Generalstabs hat bereits am Vortag in seinem Tagebuch vermerkt, „dass der Feldzug gegen Russland innerhalb vierzehn Tagen gewonnen wurde”.
Verloren hat der Gegner zumindest 324.000 Gefangene, 3.300 Panzer, 1.800 Geschütze und 246 Flugzeuge. Die spektakulären Zahlen verkündet der feingliedrige Feldmarschall Fedor von Bock am 8. Juni, einen Tag nach Abschluss der gewaltigen Kesselschlacht. Und der Oberbefehlshaber der siegreichen Heeresgruppe Mitte spricht von „sehr hohen blutigen Verlusten des Gegners”. Doch was heißt „sehr hoch”? Bis heute gibt es kaum belastbare Zahlen über die Toten und Verwundeten der Roten Armee. Das Schicksal jener über 100.000 Soldaten im Kessel, die nicht als Gefangene in den Statistiken auftauchen, bleibt im Dunkel. Der kleinere Teil wird sich zu den russischen Linien durchgeschlagen oder als Partisanen den Kampf im Hinterland des Gegners fortgesetzt haben. Doch die große Masse liegt tot oder sterbend in den riesigen Wäldern Weißrusslands – oft verborgen, selten geborgen und niemals gezählt. Ein Schicksal, das eine sechsstellige Anzahl von Angehörigen der Roten Armee im Kessel Bialystok-Minsk getroffen haben dürfte.
Eine der größten und blutigsten Schlachten der Weltgeschichte ist geschlagen; eine sogenannte Vernichtungsschlacht, wie die Fachleute sagen. Bei aller Grausamkeit gibt es auch einen Hauch von Menschlichkeit, die sich in einer kleinen Randnotiz bei der 137. Infanteriedivision ausdrückt: An einem Waldweg findet Dr. Gerlitz43, Arzt beim I. Bataillon im Regiment 448, zwischenzeitlich verwundet in Gefangenschaft geratene Kameraden vor – nicht geschunden, sondern verbunden.
Doch bereits in der Stunde des ersten leuchtenden Triumphes an der Ostfront zeichnen sich für kritische Geister hässliche Schatten ab. Zum einen sind die deutschen Verluste viel höher als erwartet. Bis zum 10. Juli werden 16.676 Gefallene gemeldet. Nach ersten offiziellen Angaben. In Wahrheit sind bereits nach neun Tagen Ostkrieg, bis Monatsende Juni, 25.000 Mann tot!44 Dazu kommen 60.637 Verwundete und Vermisste (Stichtag 10. Juli). Zu jenen, die im Lazarett genesen und wieder „kriegsverwendungsfähig“ (kv) werden, gehört ein gewisser Richard von Weizsäcker, der im traditionsbewussten Potsdamer Infanterieregiment 9 der 23. Division kämpft. Der 21-jährige ist bei Bialystok verwundet worden.
Das zweite deutsche Manko bildet das Tempo. Die Panzer haben nicht nur den Feind überrannt, sie sind auch der eigenen Infanterie davongefahren. Statt weiter vorzustoßen, muss ein Teil der schnellen Truppen von Hoth und Guderian tagelang Wache am Kesselrand halten. Bis die Ablösungen der 9. und 4. Armee heran sind. Die Schlacht wird in zwei Teile geschnitten – es wird getrennt marschiert und eben nicht vereint gefochten. Da können sich die Infanteristen die Füße noch so blutig laufen, sie halten das Tempo der Panzer nicht.
Schockiert sind die deutschen Eroberer über das arme, unkultivierte Land, das sie unter die Stiefel bekommen. General der Infanterie Gotthard Heinrici, Kommandeur des XXXXIII. Armeekorps, schreibt am 6. Juli in einem Brief an seine Frau:
„Herr Gott, ist das ein finsteres Land, nördlich der Pripjet-Sümpfe, Wald, überall Wald, dazwischen Kilometer breite Sumpfstrecken, wo man bis in die Knie im Modder versinkt.“45
*
Bei brütender Hitze, eingehüllt in dichte Staubwolken, sieht man die langen Züge der 78. Infanteriedivision durch eine Art Schleier Richtung Osten ziehen. Der feine, weiße Sand liegt wie Mehl auf der Uniform und den Gesichtern, lässt die Zunge am Gaumen kleben. Die Männer blicken aus entzündeten Augen auf das zerstörte russische Kriegsgerät zu beiden Seiten des Weges. Darunter Panzer- und Kraftfahrzeugwracks. Sie passieren verbrannte Dörfer. Von den Holzhäusern stehen oft nur noch die gemauerten Kamine. Stumme Zeugen aus Stein, die wie Finger in den Himmel ragen – als klagen sie noch die deutschen Luftangriffe beim Herrgott an. Die Männer, viele mit schmerzenden Blasen an den Füßen, riechen den Brand, den Schweiß des Nebenmanns und den Gestank der verwesenden Pferdekadaver. So geht es stumpf nach Osten. Bis zu 30, 40, 50 und mehr Kilometer am Tag. Heute legt ein Deutscher im Schnitt kaum 800 Meter binnen 24 Stunden zu Fuß zurück.
Bei der 137. Infanteriedivision liegt das Tagesmittel bis zum 9. Juli bei 28 Kilometern. 28 mal 1.000 Meter, schwer bepackt. Einheiten der 5. Infanteriedivision schaffen eine Spitzenleistung von 80 Kilometern Fußmarsch in 20 Stunden!
Am Abend des 28. Juni erreicht die Aufklärungsabteilung 35 von der 35. Infanteriedivision auf sandigen Wegen die Höhe von Zezioli. Hier verläuft eine Straße, die gegen Überfälle gesperrt werden soll. Aus den angrenzenden Wäldern hört man die dumpf ratternden Salven der russischen MG. Standardmäßig ist die Rote Armee mit dem Maxim ausgerüstet. Ein 69 Kilo schweres, wassergekühltes Maschinengewehr. Die unhandliche Waffe schießt mit einer Feuergeschwindigkeit von 400 Schuss pro Minute nicht halb so schnell wie das deutsche MG 34, wiegt aber das Fünffache. Der Funker Gerhard Bopp46 hört auch die deutsche Abwehr. Scharf knallt das Pak-Feuer. Die rasanten Panzerabwehrkanonen vom Kaliber 3,7 und 5 Zentimeter nehmen die russischen MG-Nester mit Sprenggranaten aufs Korn. Bopp weiß zwar nicht, wessen Geschosse treffen, wohl aber, dass er am frühen Morgen des 29. Wache hat.
2 Uhr 30: Zunächst gibt es keine besonderen Vorkommnisse. Ab und zu feuert ein MG in den Nebel der Nacht. Ansonsten herrscht Ruhe. Plötzlich hört Bopp das Schreckensgeräusch aller Infanteristen, nämlich klirrende Ketten. Unwillkürlich hält der dunkelhaarige Brillenträger die Luft an, als könne er so besser hören. Oder ist es der Schreck, der den ganzen Körper, sogar die Atmung, zu lähmen scheint?
Da erklingt auch schon der böse Ruf:
„Panzer!”
Wie zur Bestätigung zischen gleich darauf violette Leuchtkugeln in den Nachthimmel. Das vereinbarte Signal für feindliche Panzerangriffe. Auf Befehl des Leutnants Stiefel heben Bopp und ein Kamerad einen Deckungsgraben aus. Plötzlich setzt es einen gewaltigen Schlag, als ob eine Riesenfaust auf sie niedersaust. Im nächsten Moment liegen die beiden Soldaten in dem halbfertigen Graben. Noch vom heftigen Luftdruck des Granateinschlags benommen, registriert Bopp zunächst nur scharfen Pulvergeruch. Als sich die schwarze Rauchwolke verzieht, sieht er ein Stück entfernt vom Graben seinen Vorgesetzten am Boden liegen – verwundet. Ein Granatsplitter hat das Muskelfleisch am Bein freigelegt. Aber trotz offenem Schenkel schreit Leutnant Stiefel nicht. Er verbeißt sich den Schmerz, bleibt ruhig und wird zum Verbandsplatz gebracht. Vielleicht weil der Leutnant weiß, dass er überleben wird und sich den berühmten, später begehrten „Heimatschuss“ gefangen hat.
Entsetzt muss Bopp dann jedoch noch feststellen, dass sein Freund Franz ebenfalls am Boden liegt und vor Schmerz das Gesicht verzieht. Ihn hat es richtig böse am Bein erwischt. Stoßweise rinnt das Blut unten aus der Hose. Ein größeres Gefäß am Schenkel muss zerrissen worden sein. Bopp fühlt sich hilflos, überfordert. Er möchte sich kümmern, kann aber nicht so recht. Statt fachgerecht die Wunde zu versorgen, irgendwie die starke Blutung zu stillen, bleibt ihm nur übrig, den Abtransport des Freundes zu organisieren.
„Urräh! Urräh!”, brüllt es unterdessen von den angreifenden Russen herüber. „Sanitäter! Sanitäter!“, echot es von der deutschen Seite zurück. Die sowjetischen Schützen sind bereits auf Handgranatenwurfweite heran. Dann setzt endlich ein deutscher Gegenstoß ein. Der bringt Entlastung. Die Russenpanzer werden ebenfalls zum Rückzug gezwungen. Gelegenheit für Bopp und seine Kameraden, sich ein Stück zurückzuziehen. In vorläufige Sicherheit.
Am Verbandsplatz angekommen, trifft er Franz kurz nach 8 Uhr wieder. Der Atem des Freundes geht nurmehr schwer und stoßweise. Sein Gesicht ist blass, fast gelblich. Bopp ahnt nicht, dass er bereits in das Antlitz eines Todgeweihten blickt. Der Blutverlust ist einfach zu groß gewesen. Die Mittel zu einer rettenden Transfusion sind in solchen Notfällen selten rechtzeitig zur Stelle. Zwischen der ersten Hilfe und der professionellen Weiterversorgung vergehen oft Stunden, in denen die Schwerverwundeten unversorgt bleiben. Die Folgen sind tödlich.
Um 20 Uhr erfährt Bopp, dass Franz auf dem Weg ins Lazarett verstorben ist. Der unversehrt gebliebene Freund kann es kaum fassen. Ihm schießt durch den Kopf, dass der Kamerad morgen Geburtstag gehabt hätte. Statt am 30. mit dem Kumpel zu feiern, wird man um ihn trauern. Franz liegt bei Zolludek begraben.
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Gekämpft und gestorben wird jedoch selbst an der blutigen Ostfront längst nicht überall. Viele Männer geben tagelang keinen einzigen Schuss ab. Sie erleben in den ersten Kriegswochen nur das unendliche Marschieren in die sprichwörtliche Weite des russischen Raumes. Unterbrochen lediglich durch das sogenannte „Organisieren” von Verpflegung. Das Wort Diebstahl mag zwar kaum jemand in den Mund nehmen. Doch wer genau hinsieht, stößt auf entlarvende Zeugnisse. Darüber kann auch nicht die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Lebensmittel mancherorts mit deutscher Währung bezahlt oder im Tauschhandel erworben werden.
Der Kommandierende des IX. Armeekorps, General der Infanterie Geyer, schreibt in einem Erfahrungsbericht an den Oberbefehlshaber der 4. Armee, Feldmarschall von Kluge: „Meist ist der [deutsche] Soldat gutmütig gegen die Bevölkerung, wenn auch die Notwendigkeit, Lebensmittel und Pferde wegzunehmen, sowie andere Ursachen manche Rohheitsakte begünstigen mögen.”47
Angesichts der gigantischen Ausmaße der Front, den über drei Millionen zu versorgenden Soldaten und der absehbaren Nachschubprobleme, bleibt auch gar keine andere Wahl, als die Versorgung aus dem eroberten Territorium des Gegners von Anfang an fest mit einzuplanen. Hitler bezeichnet sich ja selbst als „ein Ländle-Dieb“. Mit Führers Segen kann und darf man eben auch Pferde stehlen. Unternehmen „Barbarossa“ soll nicht nur nach dem Willen der politischen Elite ein auf Raub gebauter Krieg sein. Schon im Polenfeldzug forcierte Hilter ein rücksichtsloses Vorgehen der Wehrmacht. Denn mit „Heilsarmee-Methoden“ sei kein Krieg zu führen. Und der bolschewistische Todfeind hat noch weniger Rücksichtnahme zu erwarten. Das ist natürlich auch der militärischen Führung von Beginn an und in aller Konsequenz bewusst gewesen, wie der erhellende Bericht von General Geyer dokumentiert.
Während die deutsche Infanterie organisiert, hat Görings Luftwaffe Minsk planiert. Als die Kolonnen der 14. motorisierten Infanteriedivision durch die weißrussische Hauptstadt rollen, nimmt der Panzerabwehrschütze Helmut Martin48 die meterhohen Schuttberge wahr. Ihm bleibt „ein Bild restloser Zerstörung” in Erinnerung. Auf dem Weitermarsch sieht Martin in einem Dorf mehrere russische Frauen mit entblößten Brüsten. Es sind Mütter, die ihre Säuglinge in Armen halten und ganz ungeniert vor den Augen der fremden Eroberer stillen.
Die Funker der 19. Panzerdivision tragen bei ihrem Vormarsch zur oberen Düna kein kleines Leben, sondern große Technik. Sie haben sich die schweren „Berta”-Geräte auf den Rücken geschnallt. 50 Pfund wiegt ein solcher Blechkasten. Bei der Affenhitze eine Riesenlast. Aber ohne Funk läuft im modernen Krieg nichts. Die schnelle, effektive Koordination der Bewegungen und des Feuers hängt maßgeblich davon ab. In dieser Beziehung zeigt sich die Wehrmacht der Roten Armee turmhoch überlegen. Die gute Funkausstattung ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor der deutschen Panzerverbände. Dadurch stehen die Kampfwagen einer Einheit in engem Kontakt zueinander. Die Besatzungen können sich gegenseitig mitteilen und helfen, die Panzer geschlossen manövrieren. Bei den Russen ist dagegen nur der Kompanieführer mit Funk ausgestattet. Alternativ kommunizieren die Tankisten sogar noch mit Flaggenzeichen!
Neben den taktischen Unzulänglichkeiten und dem verkleckerten Einsatz der an sich starken sowjetischen Panzerwaffe soll diese lückenhafte technische Ausstattung in Verbindung mit dem fehlenden fünften Mann der Besatzung – der russische Kommandant ist zugleich Richtschütze und dadurch in der Gefechtsführung gehandicapt – eine wesentliche Ursache für die vergleichsweise geringe Schlagkraft sein. Die zahlenmäßig unterlegenen, aber schwerpunktmäßig in Panzerdivisionen, -korps und -gruppen konzentrierten deutschen Kampfwagen können so das Schlachtfeld gegen die teils überlegenen T 34 sowie KW 1 und 2 behaupten. Zudem ist die Wirksamkeit der sowjetischen Stahlkolosse stark eingeschränkt, weil sie als taktische Unterstützungswaffe der Infanterie fungieren. Andererseits wird der Panzer operativ wert-, da ziemlich wehrlos, wenn es ihm an der direkten Begleitung von Schützen im Gefecht mangelt. Dafür sind armierte Truppentransporter das Mittel zum Zweck. Die Deutschen bringen 1941 zumindest ein solches Fahrzeug, den Schützenpanzerwagen (SPW), zum Einsatz, wenngleich auch in (zu) geringer Zahl. Insofern stellen die sowjetischen mechanisierten Korps und die „fleischlosen“ Panzerbrigaden unvollständige Gebilde dar. Das deutsche Gegenstück, die komplexe, mit sämtlichen Verbundwaffen ausgestattete Panzerdivision, soll sich noch jahrelang als klar überlegen erweisen.
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Trotz der enormen Kampfkraft müssen die Tanks mit dem Balkenkreuz noch bis zum 29. Juni auf die ablösende Infanterie warten. Erst dann kann Guderian einige schnelle Verbände aus der Kesselfront lösen und für den weiteren Angriff nach Osten bereitstellen. Das nächste Hindernis, das es zu überwinden gilt, ist die mächtige Beresina. Hier erlitt Napoleons Grande Armée im November 1812 eine historische Niederlage. Kein Zweifel, dass auch Generalleutnant Jeremenko, der den glücklosen Pawlow als Oberbefehlshaber der Westfront abgelöst hat, den Fluss zum Point of no return für die Wehrmacht machen will.
An den Ufern des Birkenflusses, wie die Beresina übersetzt heißt, sollen die großdeutschen Blitzkrieger verbluten.
„Die Deutschen sind am Fluss zum Stehen zu bringen”, lautet der eiserne Befehl Jeremenkos. An der Beresina soll der Fleischwolf rücksichtslos gedreht werden. Nach der Schlacht dürfen bei den Deutschen keine Ritterkreuze mehr umgehängt, sondern nur noch Birkenkreuze aufgestellt werden! Aber eiserne Befehle stoppen noch keine stählernen Kolosse. Und Generalmajor Walther Nehrings 18. Panzerdivision schlägt blitzschnell zu. Bereits am Mittag des 1. Juli stehen die Kampfwagen in Sichtweite der Beresina. Gerade mal anderthalb Tage haben Nehrings Panzer gebraucht, um das etwa 100 Kilometer entfernte Angriffsziel zu forcieren.
Aber das Erreichen der Flussbarriere ist nur die eine Seite der Medaille, das Übersetzen die andere. Bei Borissow halten Jeremenkos Regimenter noch einen starken Brückenkopf am Westufer. Die Bataillone vom Schützenregiment 52 fechten sich gegen verbissenen Widerstand vorwärts. Als die 10. Kompanie „durch” ist, rechnen die Stoßtrupps jeden Augenblick mit der Sprengung der Brücke. Aber der Russe scheint aus den ersten Kriegswochen wenig gelernt zu haben. Das rote Sprengkommando zögert, nicht aber der Unteroffizier Bukatschek49 vom ersten Zug. Seine entschlossenen Männer setzen die beiden MG-Stellungen am Brückenaufgang außer Gefecht, keuchen im Laufschritt hinüber ans Ostufer und nehmen den russischen Sprengmeister, einen Leutnant, gefangen. Bukatschek erleidet bei dem Sturmangriff zwar einen Schulterschuss. Aber wenigstens muss man für ihn kein Birkenkreuz am Birkenfluss aufstellen. Andere Kameraden haben weniger Glück. Am nächsten Morgen verursachen russische Panzer- und Infanterieangriffe sowie vor allem Scharfschützen lange Gefallenenlisten. Jeremenkos Truppen sorgen zwar für zahlreiche Birkenkreuze auf deutscher Seite. Aber es sind nicht genug, um Guderians Panzersturm zu stoppen – zumal die Russen selbst weit höhere Verluste erleiden.
24 Stunden später kommt schon die nächste Hiobsbotschaft für Jeremenko: Am 2. Juli bildet General Freiherr Geyr von Schweppenburgs XXIV. Panzerkorps 130 Kilometer südlich von Borissow, bei Bobruisk, einen zweiten Brückenkopf am Ostufer. Beide Panzerdivisionen, die 3. und die 4., haben schon übergesetzt. Die sowjetische Front an der Beresina ist damit aus den Angeln gehoben. Dennoch kämpfen viele russische Soldaten bis zur letzten Patrone. Sie lassen sich in ihren längst ausmanövrierten Stellungen zerfetzen, erschlagen, verbrennen, erstechen, statt rechtzeitig die Waffen zu strecken. Diese Sturheit, das Verweigern der Kapitulation trotz aussichtsloser Lage, wird mehr und mehr zum großen Albtraum der deutschen Führung. Den Russen geht es bei ihrer „Opfer-Strategie“ vor allem darum, Zeit zu gewinnen. Jeder Tag zählt, um rückwärtige Stellungen auszubauen und mit den Reserven der zweiten strategischen Staffel zu besetzen. Dieser Aufschub wird mit dem Leben der gegnerischen und eigenen Soldaten erkauft. Wer mehr Menschenmaterial hat, verblutet eben auch entsprechend langsamer. Und die riesige Sowjetunion mit ihren rund 190 Millionen Einwohnern kann noch über zehn Millionen Soldaten östlich des Dnjepr zum Schlachten führen. Wenn genug Zeit bleibt.
Bereit, jedes Opfer für ihren Führer zu bringen, sind allerdings auch die Männer der motorisierten Waffen-SS-Division „Reich”. Gruppenführer50 Haussers Eliteverband gehört zum XXXXVI. Panzerkorps und soll zwischen den Brennpunkten Borissow und Bobruisk die Beresina bezwingen. Damit betritt an der Front der Heeresgruppe Mitte ein neuer Typ Kämpfer das Schlachtfeld. Der ist zwar nicht zu verwechseln mit den Mördern der Einsatzgruppen, aber ebenso wenig mit den Männern der Wehrmacht gleichzustellen. Nach dem Krieg gilt die unter der Achsel eintätowierte Blutgruppe als Kainsmal, kennzeichnet sie doch die Zugehörigkeit zur vermeintlichen Verbrechertruppe. Sicher ist, dass es bei der Waffen-SS viele überzeugte Weltanschauungskrieger gibt, die sich auch eher zu Brutalitäten hinreißen lassen als die Kameraden des Heeres. Vor allem Rotarmisten, aber auch Zivilisten, insbesondere der jüdische Teil, bekommen die Härte der Waffen-SS mancherorts zu spüren.51 Der Kommandeur der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“, SS-Brigadeführer Karl von Treuenfeld, macht aus der gewünschten Einstellung seiner Truppe keinen Hehl. Bezeichnend sein Appell aus dem Jahre 1943: „Durch die Vorträge über unsere Gegner, soll jeder Mann zu einem fanatischen Hasser erzogen werden [...] Es ist ganz gleich, an welcher Front unsere Division zum Einsatz kommen wird: der unbändige Haß gegen jeden Gegner, sei er Engländer, Amerikaner, Jude oder Bolschewist, muß jeden unserer Männer zu höchsten Taten befähigen.“52
Andererseits ist das von vielen ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen zur Verteidigung angeführte Alibi, dass sie „Soldaten wie andere auch” gewesen seien, gar nicht so abwegig. Die „anderen“, damit sind die Soldaten der Wehrmacht gemeint. Aber haben sich jene auch „anders“ verhalten? Speziell an der Ostfront versündigt sich das vermeintlich saubere Heer ebenfalls unverhältnismäßig oft am Gedanken einer halbwegs zivilisierten Kriegführung. Zwar sollen die Soldaten der Waffen-SS noch schlimmer gewütet haben. Aber in Wahrheit stehen ihnen die Kameraden der Wehrmacht viel näher, als es diese, vor allem ihre Generale, nach dem Krieg wahrhaben wollen. Der kämpfende Kern der Waffen-SS, die Divisionen „Reich“, „Totenkopf“, „Wiking“ und die Brigade „Leibstandarte“, hat in seinen Reihen in erster und vorderster Linie Krieger töten und nicht Kriegsverbrecher morden gesehen. Verbrecher und Schuldige gibt es in jeder Einheit, aber ebenso die Anständigen und Ahnungslosen. In ihren Reihen steht gegen Ende des Krieges auch ein gewisser Günter Grass.
Die Waffen-SS lässt sich ebenso wenig pauschal verurteilen wie die Wehrmacht. Und doch trägt sie als der Orden unter dem Totenkopf die schwerere Bürde. Die schwarze Garde ist nach Hitlers Willen nicht allein sein oder gar Himmlers langer Arm an der Front. Sie kann bei Bedarf auch im Innern des Reiches brutal zuschlagen. Die eiskalte Ermordung der SA-Führer um den vermeintlichen Putschisten Röhm, 1934 durchgeführt von der SS-VT (Verfügungstruppe), dem Vorläufer der Waffen-SS, hat das ganze ruchlose Potential drastisch aufgezeigt. Und Hitlers Durchgreifen beeindruckte selbst den grausamen Stalin, der darüber ausgerufen haben soll:
„Das ist schon ein ganzer Kerl! Großartig! Der kann etwas!“53
Sepp Dietrichs „Leibstandarte“, im Sommer 1941 im Verband der Heeresgruppe Süd angetreten, war ebenso an den Erschießungen jener blutigen Julitage beteiligt wie der berüchtigte Theodor Eicke. Der Kommandeur der SS-Totenkopf-Division, die auf Leningrad vorstößt, soll Röhm höchstselbst am Mittag des 1. Juli 1934 mit zwei Pistolenkugeln niedergestreckt haben.
Nicht minder bemerkenswert bleibt die ebenso einmalige, legendäre Kampfkraft der Sigrunen-Krieger. Hitlers härteste Truppe, teils in buntscheckigen Tarnjacken, wird an allen Fronten gefürchtet und gehasst wie kein anderer Gegner. Der Waffen-SS-Mann gibt den Tod – und nimmt ihn.54 Das wurde ihm als Gebot der Ehre auf den Junkerschulen eingetrichtert. Eine Mentalität, die für rücksichtslosen Offensivgeist und hohe Opferbereitschaft steht. Kollidiert eine solch fanatische Elite mit den „sturen“ Iwans sind schreckliche Kämpfe vorprogrammiert. Da die Sowjets SS-Angehörige nach der Gefangennahme erst recht erschießen und die Deutschen wiederum auf harte Vergeltung drängen, will in der brodelnden Atmosphäre aus Hass und Gewalt niemand lebend in die Hände des Gegners fallen. Und wo Aufgabe keine Alternative mehr ist, da wird nicht selten bis zum letzten Blutstropfen gerungen.
Das Los der Gefangenen stellt im Vernichtungskrieg der Weltanschauungen allerdings insgesamt ein düsteres Kapitel dar. 1941 überlebt nur eine erschreckend kleine Minderheit. Noch bis zum Frühjahr 1943 liegt die Sterbequote der gefangenen Landser bei ungeheuren 95 Prozent. Der Russlandkämpfer, ob Iwan oder Fritz, ist nicht zuletzt deshalb „tapfer“, weil die Konsequenzen einer Aufgabe lange Zeit tatsächlich gefährlicher sind, als der Versuch, an der Front zu überleben. Während die Russen den Großteil der Gefangenen töten, lassen ihn die Deutschen an Seuchen verrecken und verhungern, vornehmlich im Herbst und Winter 1941/42.
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„Hier, Schokolade, für dich”, ruft der Bataillonskoch Ewald dem Kradschützen Helmut Günther55, Jahrgang 1919, von der SS-Reich zu. Für die motorisierte Division steht der erste schwere Waffengang im Ostfeldzug unmittelbar bevor. An der Beresina soll Haussers Elite, die im Verband des XXXXVI. Panzerkorps stürmt, auf starken Feind treffen. Kilometer um Kilometer fährt Günther mit seinem Motorrad auf tiefen Sandwegen der Front entgegen. Auf einem Hügel stellt der SS-Mann den Motor ab und horcht angestrengt nach Osten. Da, kein Zweifel – Gefechtslärm! Günther unterscheidet klar das rasende Rattern der deutschen MG 34 und das schwerfällige Tackern der russischen Maxim. Der Puls pocht. Blitzartig wird die Maschine wieder angetreten, und ab geht die Fahrt. Günther rattert in ein Dorf. Topoy heißt das Nest. Hinter den Hütten erkennt man das blaue Band eines Flusses. Das muss sie sein, die Beresina. Das Ziel der Kradschützen. Und da müssen sie rüber. Aber zum Denken bleibt kaum Zeit, es knallt bereits heftig. Sicher ist jedenfalls, dass der Feind das Dorf am Westufer verbissen verteidigen will.
Beinahe fährt Günther dem resoluten Bataillonschef, Hauptsturmführer Klingenberg, über die Füße. Klingenberg! Jener Teufelskerl, der im Frühjahr, während des Balkanfeldzugs, die jugoslawische Hauptstadt Belgrad quasi im Alleingang zur Kapitulation zwang. Ein verdammt harter Hund, aber wenigstens ein mutiger.
„Sie verrückter Heini, was wollen Sie hier?”, bellt Klingenberg den verschreckten Kradschützen an.
„Fahren Sie zurück und holen Sie die Pak!”, schreit auch noch der Bataillonsadjutant von der anderen Straßenseite herüber. Nichts wie weg, denkt sich Günther – fast fürchtet er den eigenen Kommandeur mehr als den russischen Gegner. Mit Vollgas rast der Kradschütze den Weg zurück. Weit muss er nicht fahren, da sieht er schon die Panzerabwehrgeschütze vom Pak-Zug der 5. Kompanie. Hinter einem großen Haus stehen die Kanonen. Günther überbringt den Befehl an einen Oberscharführer. Und schon rollt ein Geschütz, gezogen von einer Zugmaschine, Richtung Hauptkampflinie.
Als der Pak-Bedienung die ersten Kugeln um die Ohren fliegen, stoppt der Fahrer. Jetzt zeigt sich die erstklassige Ausbildung der Männer. Unter Feindbeschuss wird die Kanone blitzschnell „abgeprotzt“, das heißt, feuerbereit gemacht. Die tausendmal geübten Handgriffe sitzen wie im Manöver. Augenblicke später schlagen die 5-Zentimeter-Sprenggranaten in die feindbesetzten Häuser. Die Wirkung lässt nicht lange auf sich warten. Einige Russen ergeben sich. Dieser Teil des Dorfes ist bald erobert. Das Zentrum von Topoy liegt jedoch etwas tiefer. Davor steht ein kleines Wäldchen. Erneut ist die Pak-Mannschaft wie der Teufel heran und nimmt auch hier die Häuser unter Beschuss. Begeistert verfolgen Günther und sein Kamerad Willi das Feuerwerk der Vernichtung. Doch plötzlich wirft der Richtschütze die Arme hoch – getroffen! Aber Einzelverluste stoppen nicht den Krieg und erst recht nicht das Feuer einer Pak-Bedienung der Waffen-SS! Schnell ist ein Ersatzmann gefunden und richtet neue Ziele an. Ein, zwei, drei, vier Granaten werden durch das Rohr getrieben. Da trifft es auch diesen Richtschützen. Jetzt nimmt der Oberscharführer selbst den Platz am Visier ein. Und es ist nicht zu fassen: Auch ihn erwischt es!
Noch bevor Günther nachvollziehen kann, woher das unheimlich präzise Gewehrfeuer kommt, kracht neben ihm ein Karabinerschuss. Kamerad Willi hat die Lage am schnellsten gepeilt und den russischen Scharfschützen aufs Korn und aus dem Leben genommen. Günther beobachtet, wie ein Rotarmist mit Zielfernrohrgewehr aus der vorgelagerten Baumgruppe zu Boden stürzt.
„Hund verdammter, dich habe ich!”, ruft Willi erregt.
Unterdessen tobt der Kampf um Topoy weiter. Der lange Hauptsturmführer Klingenberg steht keine fünf Meter von Günther entfernt. Sein Ritterkreuz, einer der höchsten deutschen Orden, blitzt in der Sonne. Eiskalt und scheinbar unbeeindruckt vom Abwehrfeuer, gibt Klingenberg, dieser geborene Krieger, der am 22. März 1945 an der Westfront in vorderster Linie fällt, Einsatzbefehle. Weitere Panzerabwehrgeschütze und -spähwagen werden nach vorn kommandiert. Es knallt und kracht an allen Ecken. Beißender Rauch, brüllendes Vieh, schreiende Menschen – aber die Soldaten stürmen, auch Günther. Er sieht furchtbare, gespenstische Szenen. Nimmt einen Kameraden wahr, der am Zaun gegenüber zu schlafen scheint, allerdings für immer – ihn hat die ewige Ruhe längst befallen. Gefallen. Vielleicht wird heute auf einem alten, verwitterten Grabstein seines Heimatfriedhofs oder einem Kriegerdenkmal die Inschrift stehen: † 3.7.1941 Gefallen in Russland
Gewiss längst verfallen wird sein Birkenkreuz am Birkenfluss sein. Von den Siegern eingeebnet auch das Grab, in dem die Gebeine liegen. Aber die Soldaten der Schutzstaffel meißeln sich Schlag auf Schlag in die Tafeln der Kriegsgeschichte, um es mit den Worten des brillanten Heinz Höhne, Autor des Standardwerks „Der Orden unter dem Totenkopf”, zu sagen. Schlacht auf Schlacht setzt sich Hitlers Gardetruppe ein unsichtbares, aber unerschütterliches Denkmal in Sachen Kampfkraft und Korpsgeist. Die SS-Männer, die den Sturm auf Topoy an der Beresina mit ihrem Leben bezahlt haben, legen mit ihren Knochen eines der frühen Fundamente. Bereits fünf Wochen nach Beginn des großen Germanenzuges sind annähernd 8.000 Sigrunenkrieger gefallen oder verwundet. Kein Marmor, nur die Brandspuren im Osten zeugen vom Töten und Sterben der neuzeitlichen Spartaner.
Mit dem Beresina-Übergang aus der Bewegung ist auch der Grundstein für den schnellen Weiterstoß zum Dnjepr gelegt, um nach dem ersten großen operativen Ziel des Feldzuges zu greifen: Smolensk. Aber während Heinz Guderian sofort antreten und übersetzen will, favorisiert sein Vorgesetzter, Feldmarschall Hans-Günther von Kluge, genannt der „kluge Hans“, die konservative Lösung, nämlich das Aufschließen der Infanterie abzuwarten. Das würde jedoch für die Panzer eine zweiwöchige Zwangspause bedeuten, was nicht wirklich clever dünkt. Der „schnelle Heinz” scheint das bessere Gespür für den nächsten Zug zu haben. Dass überhaupt der 57-jährige Kluge als bisheriger Oberbefehlshaber der 4. Armee zwischenzeitlich die Panzergruppen 2 und 3 unter dem neugebildeten Kommando der 4. Panzerarmee führt, erscheint bemerkenswert. Ein wichtiger Aspekt, der ein bezeichnendes Licht auf die falsch gesetzten Prioritäten im deutschen Oberkommando wirft.
Ungeachtet der überragenden, schlachtentscheidenden Bedeutung, die die Panzerverbände spätestens seit dem Frankreichfeldzug erworben haben, degradiert die oberste Führung Guderian und Hoth praktisch zu bloßen Befehlsempfängern Kluges – eines Vertreters der Infanterie. Das kann man fast schon als Affront gegen die hoch bewährten Fachleute der schnellen Truppen werten. Dabei liegt der Status einer Panzergruppe und seiner Kommandeure ohnehin schon unter dem Level einer Armee und ihrer Oberbefehlshaber. Die genau umgekehrte Struktur wäre im Sinne der Blitzstrategie förderlicher gewesen. Die Panzergruppen hätten in den Status von Panzerarmeen erhoben und die Infanterie den schnellen Verbänden bei Bedarf unterstellt werden müssen. Napoleons Weisheit, dass ein schlechter General besser als zwei gute ist, greift diesmal jedenfalls nicht.
Zwar kann Guderian seinen Willen bei Kluge durchboxen und die Kampfwagen der Panzergruppe 2 zum Sturm auf den Dnjepr rasseln lassen. Aber Generaloberst Hoth beklagt schon in der ersten Juliwoche die zunehmende Verzettelung der schnellen Truppen. Die fünf Panzerkorps der Heeresgruppe Mitte sind teils exzentrisch, auf 360 Kilometer Breite, angesetzt. Von einer Schwerpunktbildung der motorisierten Divisionen, wie sie der Blitzkrieg, zumal in den Weiten Russlands, erfordert, kann kaum mehr die Rede sein. So jagt jeder für sich nach Osten: Hoth an die Düna, Guderian zum Dnjepr und zur Desna. Indes gibt sich Kluge, der große Koordinator mit der hohen Stirn, besorgt um die offenen Flanken. Hitler wiederum ist hin- und her gerissen, wo er insgesamt den Schwerpunkt setzen soll: Weiter ab durch die Mitte, wie es das Oberkommando des Heeres will? Oder weisungsgemäß nach Norden, Richtung Leningrad, einschwenken? Oder soll, kann man gar beide Ziele zugleich angreifen?
„Fall Barbarossa“ wird seltsam unverbindlich ausgeführt. Im Gegensatz zum Westfeldzug, dem Fall „Gelb”, gibt es keinen roten Faden, den alles überragenden, kriegsentscheidenden Operationsgedanken. Damals war es der „Sichelschnitt“, der die Panzer an einer Stelle der Front, den Ardennen, zum überraschenden Durchbruch bündelte. Die Weisung Nr. 21 wirkt dagegen leidenschaftslos, ein Routine-Plan, dem die zündende operative Idee fehlt. Einleitend heißt es lapidar: „Die im westlichen Russland stehende Masse des russischen Heeres soll in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkräften vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden.” Ein allgemeiner Grundsatz, der beinahe schon taktische Züge trägt, statt klare strategische Ziele zu benennen. Diesmal fehlt dem Führer ganz offenbar Mansteins militärischer Genius und Input.
Eine Schwerpunktbildung erfolgt nur insofern, als dass Hitler den Ansatz zweier Heeresgruppen nördlich der riesigen Pripjet-Sümpfe befiehlt, während eine Heeresgruppe südlich des unwegsamen Feuchtgebietes, das rund 90.000 Quadratkilometer Fläche umfasst, antritt. Die Nordmassierung erhält, laut Weisung Nr. 21, den Auftrag, „die feindlichen Kräfte in Weißrussland zu zersprengen. Dadurch muß die Voraussetzung geschaffen werden für das Eindrehen von starken Teilen der schnellen Truppen [der Heeresgruppe Mitte] nach Norden, um im Zusammenwirken mit der aus Ostpreußen in allgemeiner Richtung Leningrad operierenden nördlichen Heeresgruppe die im Baltikum kämpfenden feindlichen Kräfte zu vernichten. Erst nach Sicherstellung dieser vordringlichen Aufgabe, welcher die Besetzung von Leningrad folgen muss, sind die Angriffsoperationen [auf] Moskau zu führen. Nur ein überraschend schnell eintretender Zusammenbruch könnte es rechtfertigen, beide Ziele gleichzeitig anzustreben.”
Generalstabschef Franz Halder wiederum unterlässt es im Zuge der Planungen, die Barbarossa-Weisung eindeutig, im Sinne des OKH (Oberkommando des Heeres), zu präzisieren. Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, der blasse, wenig in Erscheinung tretende Oberbefehlshaber des Heeres, muckt ohnehin nicht auf. Beide OKH-Führer sind sich allerdings einig, dass der direkte Marsch auf den Kreml der Schlüssel zum Sieg ist. Wie praktisch alle Generale der Heeresgruppe Mitte. Bis auf einen: Hoth. Der zierlich gebaute Preuße, der 1956 erstaunlich selbstkritische Erinnerungen mit dem schlichten Titel „Panzer-Operationen” vorgelegt hat, widerspricht fast allen gängigen Thesen, die nach dem Krieg ins Feld geführt worden sind – von einer ganzen Generation Historikern, die allzu willfährig den Versionen der Generalität folgte und insbesondere dem zwielichtigen Halder auf den Leim ging.
Hoth argumentiert dagegen überzeugend, dass der Frontalangriff auf Moskau zwangsläufig an den immer länger werdenden offenen Flanken scheitern musste. So ist es im Dezember dann auch tatsächlich gekommen. Und kaum anders wäre es gewesen, wenn Hitler Guderians Panzergruppe 2 im August nicht nach Süden, zur Kesselschlacht um Kiew, abgedreht, sondern direkt – mit der dann ungeschlagenen russischen Südfront in der tiefen Flanke – auf Moskau vorgeführt hätte. Statt Hitlers Kehrtwende in die Ukraine als die große Fehlentscheidung des Feldzuges darzustellen, entwirft Hoth einen anderen, in der Literatur und Forschung bislang erstaunlich wenig beachteten Ansatz.56 Die Idee geht zunächst vom Freiräumen einer der beiden Flanken aus. Dazu wollte Hoth alle (!) vier Panzergruppen nördlich der Pripjet-Sümpfe ansetzen. Die dadurch schwache Heeresgruppe Süd sollte und konnte nur eine defensive Position einnehmen; wie ehedem die Heeresgruppe C im Westfeldzug, die gegenüber der schwer befestigten Maginot-Linie lag. Angesichts der starken sowjetischen Panzerkräfte im Lemberger Bogen gewiss ein Risiko, aber ein wohlkalkuliertes. Selbst wenn die Russen an dieser Stelle zum Durchbruch antraten, wie es Schukows Vorschlag zum Präventivschlag vom 15. Mai 1941 tatsächlich vorsah, spricht vieles dafür, dass die Südwestfront diesen Angriff bald wieder eingestellt hätte. Denn bei Verwirklichung des Hoth-Plans wäre der entscheidende Abschnitt nördlich der Pripjet-Sümpfe umso heftiger in Bedrängnis geraten. Er hätte massiver Verstärkungen aus dem Süden bedurft, wollte man nicht Leningrad in kürzester Frist – und in der Folge auch Moskau – verlieren. Diese Kräfte der Südwestfont nach Norden zu dirigieren, wäre allerdings, aufgrund des 600 Kilometer tiefen und 200 Kilometer breiten Sumpfes, sehr umständlich gewesen. Ein logistisch anspruchsvolles Umgehungsmanöver, das zumindest Zeit gekostet hätte. Und gerade Zeit ist im Russlandfeldzug ein strategischer Faktor ersten Ranges gewesen.
Den überwältigend starken Nordflügel mit den zusammengefassten Panzerkräften beabsichtigte Hoth nur bis zum Dnjepr vorprellen zu lassen. Der Strom sollte Wendepunkt und Rückhalt für einen radikalen Schwenk Richtung Ostsee sein, um die russischen Kräfte, die das Baltikum deckten, im Zuge des Peipus-See abzuschneiden. Also durchaus im Sinne der Führerweisung. Den zu erwartenden feindlichen Gegenstoß aus dem Süden offensiv zu parieren, voraussichtlich im Zuge des Dnjepr, sollte die Aufgabe einer Panzergruppe sein, die für diesen Zweck nachzuziehen war.
In der Folge fiele Leningrad wie eine reife Frucht in Hitlers Schoß. Damit wäre die Nordflanke ausgeräumt und die Ostsee als sichere Versorgungsroute gewonnen, um schließlich auf Moskau schwenken und den Gegner zu einer Entscheidungsschlacht mit verwandter Front zwingen zu können. Auch an dieser Stelle ist die Parallele zum Sichelschnitt im Westfeldzug unverkennbar. Im weiteren Verlauf des Feldzuges bliebe Stalin, nach Verlust des Moskauer Verkehrszentrums, nichts anderes übrig, als auch seine in der Ukraine ausmanövrierten Armeen zurückzuziehen und ganz Russland westlich der Wolga zu räumen. Das wäre vielleicht der deutsche Sieg gewesen. Vielleicht! Denn Hoth gesteht ein, dass die Geländeschwierigkeiten im Norden, vor allem im Zuge der Waldai-Höhen, die er als Basis für den Schlussangriff auf Moskau ins Auge fasste, enorm gewesen wären. Wohl wahr. Einerseits. Andererseits hätte die Nordoperation wahrscheinlich weniger Zeit gekostet als Guderians frontaler Stoß über den Dnjepr und der daran anschließende Marsch in die Nordukraine. Ein Antritt auf Moskau wäre vielleicht noch rechtzeitig erfolgt. Und vielleicht ... Vielleicht! Raffinierte Sandkastenspiele sind noch keine gewonnenen Feldzüge. Und nach der Schlacht weiß bekanntlich jeder Fähnrich, welche Züge den Sieg gebracht hätten. Zudem darf der Chronist beim Verschieben von Fähnchen auf der Landkarte nie vergessen: Krieg, das ist die totalste aller Extremsituationen, in die sich Massen an Menschen, die einander umbringen wollen, bringen können. Ganz abgesehen von den vielen Unbeteiligten, die die blindwütigen Lemminge mit in den Strom der Vernichtung ziehen. An der Front entscheidet ohnehin nicht allein der gute Plan darüber, wer die Schlacht gewinnt oder verliert, wer lebt oder stirbt.
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Vor Borissow wehren die Soldaten der 18. Panzerdivision heftige russische Gegenstöße, unterstützt von den gefürchteten T 34 und KW-Tanks, ab. Weiter nördlich, auf der Landbrücke zwischen Düna und Dnjepr, muss die gleichfalls schwer angegriffene 17. Panzerdivision sogar empfindliche Rückschläge hinnehmen. Zu den Gefallenen gehört auch der Kommandeur, Generalleutnant Ritter von Weber. Er hat gut bei Guderian zugehört und seine Division von vorn geführt – vorn, in der HKL, wird aber auch öfter gestorben als hinten, in der Etappe. Ein hoher Führer, der das Schicksal seiner Soldaten bis zum bitteren Ende teilt, stellt zu Beginn des Krieges noch ein Novum dar. Ritter von Webers 17. Panzerdivision, seit Feldzugbeginn an den Brennpunkten der Kämpfe eingesetzt, vernichtet am 13. Juli den 502. Russenpanzer! Ein Beleg für die Härte der Gefechte. Am selben Tag teilt Hoth Oberst Schmundt, dem Chefadjutanten Hitlers, mit:
„Noch immer scheint dem Russen die Führung entglitten. Nur in Polozk sitzt ein tüchtiger Mann.”
Aber schon planen die ebenso tüchtigen Männer der 6. Infanteriedivision57 die Wegnahme der ursprünglich gegen Polen gerichteten Grenzfestung. Polozk an der oberen Düna ist einer der Schlüsselpunkte in der sogenannten Stalin-Linie. Die Stellung markiert die alte polnisch-russische Grenze. In ihrem Verlauf sollen die Deutschen zum Stehen gebracht werden. Endgültig. Wieder einmal. Die notdürftig wiederhergerichteten Stellungen vor Polozk bestehen aus etwa 150 betonierten Kampfständen mit eingebauten Maschinengewehren. Vor den Bunkern verlaufen Drahtsperren und natürliche Hindernisse wie Seen und Sümpfe, die geschickt in die Verteidigung einbezogen worden sind. Durch diese Sperre müssen die Männer der 6. Infanteriedivision brechen. Zu ihrer Unterstützung sind neben dem eigenen Artillerieregiment 6 noch eine Batterie schwerer Mörser und eine Flak-Batterie, Kaliber 8,8 Zentimeter, in Stellung gegangen. Insgesamt stehen rund 150 Rohre zur Unterstützung der Stoßtrupps bereit. Punkt 4 Uhr sollen die Batterien die Befestigungen erschüttern – und die Besatzungen.
Auch Bataillonsarzt Dr. Haape58 wartet an diesem frühen Morgen des 15. Juli auf die Feuereröffnung der Artillerie. Er beobachtet, wie die Kanoniere die Zigaretten aus den Fingern schnippen und zu ihren Geschützen gehen. Dutzende Batteriechefs blicken gebannt auf die Uhr, sehen den Sekundenzeiger schleichen und brüllen um Punkt vier synchron: „Feuer!”
Gebannt beobachtet Haape die Wirkung der „Acht-Acht”. Die eigentlich als Flugabwehrkanone konzipierte Waffe soll im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zum berühmtesten deutschen Geschütz avancieren. Flieger, Panzer, Zerstörer, Bunker – Ziele, die ins Visier der 8,8 geraten, sind der Vernichtung geweiht. Die schwere Flak 36, wie die Waffe mit dem fast fünf Meter langen Rohr offiziell heißt, kann 15 bis 20 Schuss pro Minute abfeuern. Ihre 9,5 Kilogramm schweren Granaten erreichen eine hohe Anfangsgeschwindigkeit (V0) von über 800 Metern pro Sekunde. Der extrem scharfe Abschussknall hebt die Acht-Acht allein akustisch von den Feldhaubitzen, Kanonen, schweren Infanteriegeschützen und Mörsern ab, die an diesem Morgen vor Polozk trommeln. Der Luftdruck, den die feuernden Batterien verursachen, lässt die Blätter an den nahe gelegenen Büschen zittern.
Haape blickt gespannt auf den anvisierten Bunker. Jetzt offenbart sich ein schwerwiegender Fehler in der Konstruktion der Betonstände: die frontal angelegten, nur sehr notdürftig getarnten Schießscharten. Durch die Scherenfernrohre der Artilleristen betrachtet, wirken die Bunker offen wie Scheunentore. Gleich der erste Schuss liegt nur eine Handbreit über der Scharte, reißt aber schon die Alibi-Tarnung weg. Die nächste Granate sitzt genau im Ziel. Volltreffer auf Volltreffer schlägt in die Scharten. Reihenweise knacken die Acht-Acht-Geschütze die Befestigungen.
In das metallische Knallen der Flak fällt das Brüllen der 21-Zentimeter-Mörser. Und wo die 113 Kilo schweren Geschosse einschlagen, da wächst kein Gras und steht kein heiler Bunker mehr! Zumal wenn Sondergranaten verschossen werden, die meterdicken Beton zerschmettern. Während die schweren Koffer der Flak und Artillerie direkt auf die Befestigungen wirken, legen die leichteren Geschütze eine Feuerwand auf das feindbesetzte Dorf Gomely und das Hinterland. Man sieht, wie Haus um Haus in Flammen aufgeht, Rotarmisten ins Freie stürzen und getroffen liegen bleiben, die Leichen erneut erfasst und wie Puppen durch die Luft geschleudert werden. 60 Minuten, eine gefühlte Ewigkeit, dauert das Inferno schon. Endlich kurbeln die Artilleristen die Rohre ein Stück höher. Das Feuer wird etwas vorverlegt, um die eigenen Infanteristen, die sich in diesem Augenblick zum Sturm auf die Stalin-Linie erheben, nicht zu gefährden.
Es dauert nur wenige Minuten, dann sind die kampferprobten Männer vom III. Bataillon/Infanterieregiment 18 im stark zerstörten Dorf. Dr. Haape folgt den Stoßtrupps dichtauf, um Verwundeten die so entscheidend wichtige Erste Hilfe leisten zu können. In Gomely sieht er die schrecklichen Folgen des deutschen Beschusses: Überall brennende Häuser und gefallene Russen auf der Straße. Teils schrecklich verstümmelt. Aber auch die Stoßtrupps erhalten jetzt Feuer von den Rotarmisten. Zwar sind die Bunker stark zerstört, aber noch immer wird aus den Öffnungen geschossen. Haape muss Deckung nehmen vor den feindlichen Projektilen. In einem tiefen Trichter, den die Granate eines 21-Zentimeter-Mörsers gerissen hat, lässt der Bataillonsarzt die Verwundeten zusammentragen. Darunter einen Schwerverletzten mit stark blutender Wunde am Hals. Sein Puls pocht nur noch ganz flach. Der Blutverlust ist offenbar sehr groß gewesen. Soll der mit dem Tode ringende Mann noch eine Überlebenschance haben, muss sofort, an Ort und Stelle, eine Transfusion vorgenommen werden. Haape findet einen Spender, einen Leichtverwundeten mit geeigneter Blutgruppe, und macht sich unverzüglich ans Werk. In vorderer Linie, unter Beschuss. Der Mann hat Nerven! Ein Wahnsinn: Erst lassen die Mordmaschinen das Blut fließen in Strömen, dann tropft es durch den Braun-Melsungen-Apparat zurück in die Venen.
An die Spitze der Stoßtrupps hat sich inzwischen ein Kämpfer gesetzt, der in der 6. Division noch zur Legende wird: Oberfeldwebel Albrecht Schnitger. Wo der blonde Detmolder mit von der Partie ist, geht’s stets hoch her. Und vor allem laut! Eine Riesenexplosion lässt die Männer im Verwundetennest um Dr. Haape zusammenzucken. Schnitger hat sich wieder Zutritt zu einem Bunker verschafft und gleich die ganze Stahltür aus der Verankerung gesprengt – mit einer geballten Ladung. Dazu werden fünf bis sechs Handgranatentöpfe um eine in der Mitte befindliche Stielhandgrante gebunden. Jede einzelne Ladung wirkt im Umkreis von 15 bis 20 Metern gegen weiche Ziele. Der gebündelte Sprengsatz knackt auch harte Objekte, sogar Panzer. Durch das Riesenloch, das die weggesprengte Stahltür hinterlässt, werden Handgranaten geworfen. Dann keucht ein Sturmpionier mit dem 22 Kilo schweren Flammenwerfer auf dem Rücken heran und gibt Feuerstöße in das Bunkerinnere ab, um die Besatzung auszuräuchern.
Indes gelingt es Dr. Haape tatsächlich, den Puls des Schwerverwundeten einigermaßen zu stabilisieren. Der Mann dürfte gerettet sein. Er hat Glück im Krieg gehabt an diesem 15. Juli in Gomely. Am 29. Juni, auf der Höhe von Zezioli, gab es keinen Bataillonsarzt und Transfusionsapparat direkt hinter der HKL. Franz, der Freund von Gerhard Bopp, hat Pech gehabt – das millionenfache Los im blutigen Ostkrieg, der Tag für Tag Tausende Menschenleben verschlingt.
Der glückliche Kommandeur der 6. Division, Generalleutnant Großmann, kann noch am selben Tag den siegreichen Ausgang der Kämpfe um die Stalin-Linie bei Polozk melden. Die Stoßtrupps haben 104 Betonstände geknackt und 800 Gefangene gemacht, bei bemerkenswert geringen eigenen Verlusten von elf Gefallenen und 36 Verwundeten. Der Arbeitsnachweis spricht für den hohen Ausbildungsstand der 6. Division und die sehr wirkungsvolle Artillerieunterstützung, die der eigenen Infanterie viel Blut erspart hat.
Auf der Gegenseite notiert der Politruk Nikolai Moskwin am 15. Juli in sein Tagebuch: „Vielleicht sind wir noch nicht verloren, aber die Lage ist extrem schwierig [...] Die Luftwaffe des Feindes zerstört absolut alles. Straßen sind übersät mit Leichen unserer Soldaten und Zivilisten. Städte und Dörfer brennen. Die Deutschen sind überall – vor uns, hinter uns und an den Flanken.”59
In der Tat: Hoths Panzer sind inzwischen tief in den Rücken des Feindes vorgeprellt. Die beiden schnellen Korps der Panzergruppe 3 drehen von Norden her auf Smolensk ein. Die 18. motorisierte Division steht Mitte Juli vor Jarzewo, 800 Kilometer von den Ausgangsstellungen entfernt.
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Und wo rast Guderian, der Stoßstürmer der Heeresgruppe Mitte? An der Front seiner Panzergruppe 2 fällt die Entscheidung am 10. Juli. Wird der Dnjepr aus der Bewegung heraus genommen, liegt sogar der schnelle Fall von Smolensk im Bereich des Möglichen. Die Sache hat allerdings einen Haken: Der mächtige Strom kann nur frontal angegangen werden, und die Hauptübergänge bei den Städten Orscha, Mogilew und Rogatschew sind schwer befestigt und unmöglich im Handstreich zu nehmen. Aber Guderian handelt nicht nur schnell, sondern auch schlau. Der Panzerfuchs setzt die motorisierten Aufklärungsabteilungen seiner Divisionen ein, um die weichen Stellen zwischen den harten Korsettstangen des Feindes zu erkunden. Die Panzerspähwagen finden sie bei Kopys, Schklow und Stary Bychow. Unbedeutende Nester am oberen Dnjepr, denen Timoschenko, der neue Oberbefehlshaber der sowjetischen Westfront, weniger Beachtung beimisst. Guderians Husarenstück gelingt. An allen drei Stellen glückt der Sprung ans Ostufer.
Besonders effektiv und massiv ist die Luftwaffenunterstützung durch das Jagdgeschwader 51 beim XXIV. Panzerkorps, das bei Stary Bychow den Strom fast ohne Gegenwehr überwindet. Bis zum 12. Juli haben die Me 109, die den Falken als Zeichen auf der Nase tragen, 500 russische Flugzeuge abgeschossen. Wie gesagt: Die Erfolgsbilanz eines einzigen deutschen Geschwaders. Und ein einzelner Pilot, der Oberstleutnant Werner Mölders, erringt am 15. Juli als erster Jagdflieger aller Zeiten den 100. Luftsieg! Unter diesem Schutzschirm gelingt es Guderians schnellen Divisionen, an den Korsettstangen Orscha, Mogilew und Rogatschew vorbei, mitten ins Herz der russischen Dnjeprfront zu stoßen – auf Smolensk. Die von schweren Luftangriffen gezeichnete Stadt ist durch den Fluss in einen Nord- und Südteil getrennt. Die kampferprobte, exzellent geführte 29. Infanteriedivision (mot.) soll Smolensk nehmen, das XXXIV. Schützenkorps der Roten Armee die Stadt verteidigen. Jeremenkos Befehl stellt die Soldaten vor die brutale Alternative: Halten oder Sterben.
Ein Mitkämpfer der 29. Division schildert seine Eindrücke vom Einmarsch in das zerstörte Smolensk: „Es war ein gespenstisches Bild, als wir in diese tote Stadt einzogen. Kaum ein Schuss fiel. Sämtliche Brücken über den Dnjepr waren zerstört. Auch der Nordteil der Stadt brannte. Gegen 8 Uhr setzte vom jenseitigen Ufer lebhaftes Feuer ein.”60
Durch den unerwarteten Angriff aus Südosten sind die Verteidiger heftig überrascht worden und ziehen sich fluchtartig zurück. Die Nordstadt aber soll zum unüberwindlichen Bollwerk werden. Pioniere müssen die Stoßtrupps unter dem Feuer der sowjetischen Artillerie mit Schlauchbooten übersetzen. Auf der anderen Seite des Dnjepr lauern die Russen in den Ruinen. Bereit zum Häuserkampf. Mit „blanker Waffe” sorgen die deutschen Stoßtrupps am späten Nachmittag des 16. Juni dafür, dass viele Rotarmisten Jeremenkos Befehl bis zur letzten Konsequenz erfüllen. MPi, Pistole, Handgranate und Gewehrkolben sind die geeigneten Mittel, um den Feind auf kurzer Distanz von seiner Haltepflicht zu entbinden.
Stundenlang tobt der Nahkampf, von überall her wird geschossen, sogar aus Kellerlöchern knattert, knallt und kracht es. Der beißende Qualm und die Hitze der brennenden Häuser machen jeden Atemzug zur Qual. Straße um Straße, Haus um Haus, Kellerloch um Kellerloch muss systematisch frei gekämpft, nach Feinden durchkämmt werden. „Säubern” heißt das in der militärischen Fachsprache. Und über den Männern heulen die Granaten der Artillerie, die russischen rauschen gen Süden, die deutschen gurgeln nach Norden. Trotz der erbitterten Gegenwehr erreichen die Stoßtrupps der 29. I.D. (mot.) bereits gegen 19 Uhr den Stadtrand. Hier flammt die russische Gegenwehr noch einmal auf. Aus den Kasernen und Feldstellungen dahinter schlägt den Männern heftiges Infanterie- und Artilleriefeuer entgegen. Aber der deutsche Angriffsschwung ist nicht mehr zu stoppen. Eine Stunde später sind die Kasernen am Nordrand genommen. Smolensk ist erobert, jedenfalls der Großteil der Stadt. Um einzelne Straßenzüge wird noch tagelang erbittert gerungen. Denn Stalin fordert kategorisch die Rückeroberung der Stadt, in der man nachts die imposante Kathedrale im Widerschein der Brände leuchten sieht. Für Feldmarschall von Bocks Heeresgruppe Mitte markiert der Fall der Dnjepr-Bastion einen wichigen operativen Erfolg auf dem Marsch nach Moskau.
Die Freude der Eroberer über den Einmarsch in Smolensk währt allerdings kaum 24 Stunden. Heftige Gegenangriffe erschüttern das Zentrum der deutschen Front. Bei Smolensk geht die Rechnung der Blitzkrieger nicht ganz auf. Diesmal fehlt dem Nordhammer der Amboss aus dem Süden. Zwar zielt Hoths überraschender Stoß aus dem Norden in die tiefe Flanke der russischen Verteidiger – die 7. Panzerdivision unterbricht die Autobahn nach Moskau. Damit steht die Panzergruppe 3 erneut im Rücken der Roten Armee. In der Falle sitzen 15 Divisionen. Eine weitere Vernichtungsschlacht mit sechsstelligen Verlustzahlen bahnt sich an. Doch der Sack bei Smolensk ist nicht richtig zugeschnürt.
Das ist der Preis, der für Guderians Frontalstoß über den Dnjepr, der noch dazu unter weiter Staffelung nach Süden erfolgt, gezahlt werden muss. Statt Hoth an der entscheidenden Nordfront, auf der Landbrücke zwischen Düna und Dnjepr, zu unterstützen und den Gegner auszumanövrieren, droht der Panzergruppe 2 unversehens selbst akute Gefahr. Mit 20 frisch mobilisierten Divisionen marschiert Marschall Timoschenko gegen Guderians tiefe Südflanke! Die deutschen Gegenmaßnahmen an dieser Stelle der Front nehmen wiederum Druck aus dem Smolensker Kessel, der ohnehin erst am 24. Juli richtig geschlossen werden kann. Schwere Kämpfe nach zwei Seiten zeichnen sich ab. Einerseits gegen die Kräfte im Kessel, die mit dem Mut der Verzweiflung ausbrechen wollen. Andererseits Gefechte mit jenen Teilen der Roten Armee, die von außen zum Entsatz der eingeschlossenen Kameraden und zur Rückeroberung von Smolensk angetreten sind.
Von der Schwere der Kämpfe ist auch die 9. Armee am Nordflügel der Heeresgruppe Mitte betroffen. Erich Mende, Offizier in der 8. schlesischen Division, schildert seine Eindrücke: „Die Kämpfe um Smolensk waren sehr hart. Die jungen Soldaten zogen zum Teil Handgranaten unter der Brust ab und sprengten sich in die Luft, um nicht in deutsche Gefangenschaft zu geraten.”61
Dieser Opfermut macht starken Eindruck auf die Landser. Die Leistung der Rotarmisten, der „Iwans“, muss sogar die Spitze des Regiments „Der Führer“ von der SS-Division „Reich“ anerkennen. In einem Erfahrungsbericht heißt es: „Abschließend zu diesen ersten ernsten Kämpfen des Regiments in Russland soll gesagt werden, dass die Härte, Zähigkeit und Geschicklichkeit des russischen Gegners überraschte, dass er jedoch – im Gegensatz zu einigen Erfahrungen im Westen – trotz aller Härte und Entschlossenheit bis zum Äußersten absolut fair und korrekt kämpfte.“62
Zu dieser bemerkenswerten Feststellung passt, dass die weit im Rücken der Front liegenden Städte am Dnjepr nicht aufgegeben werden, obwohl die Korsettstangen der Flussverteidigung längst von Guderians weit vorgeprellten Panzern ausmanövriert sind. Neben den Verteidigern muss die angreifende Infanterie der 4. Armee den Preis für die verweigerte Kapitulation zahlen. Die Eroberung von Mogilew, die sich bis zum 26. Juli hinzieht, kostet allein die 23. Division 264 Gefallene, 83 Vermisste und 1.088 Verwundete. Einheiten der 15. Division beklagen viele Opfer durch Kopfschüsse. Der Oberbefehlshaber der 4. Armee, Feldmarschall Kluge, offenbart „etwas Sorge, da der Russe viel geschickter kämpft, als wir angenommen haben“.63
Neben langen Verlustlisten gibt es wieder laute Siegesmeldungen. Erneut werden über 300.000 Gefangene gemacht, dazu 3.000 Panzer und Geschütze zerstört oder erbeutet! Generalfeldmarschall Bocks Heeresgruppe Mitte steht 700 Kilometer tief im Feindesland, auf der Linie Jarzewo-Smolensk-Jelnja-Roslawl. Zwischen der russischen Hauptstadt und den Panzerspitzen Hoths und Guderians liegen jetzt noch 350 Kilometer – nur noch!
Auch das sowjetische Staatliche Verteidigungskomitee bringt Nachrichten. Am 16. Juli teilt es den Genossen mit, dass General Pawlow, der ehemalige Oberbefehlshaber der Westfront, verhört und wegen Feigheit erschossen worden ist. Bloß eine Randnotiz im großen Gemetzel. Aber ein blutiges Exempel, das da statuiert worden ist und prinzipiell für Russen wie Deutsche gelten soll, getreu dem Führerwort:
Der Soldat kann in Ehren fallen, der Feigling muss in Schande sterben.
BArch, 146-2000-003-06A
Generaloberst Franz Halder, Chef des Generalstabes des Heeres.
BArch, 183-B12867
Feldmarschall Fedor von Bock, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte.
BArch, 101I141-1258-08
Feldmarschall Hans-Günther von Kluge (l.), Oberbefehlshaber der 4. Armee, inspiziert die Freiwilligen der Französischen Legion, die im Rahmen der 7. Division kämpfen.
BArch, 183-2005-1017-519
Generalleutnant Walter Model (M.), Führer der 3. Panzerdivision, im Gespräch mit Oberleutnant Buchterkirch (l.), Chef der 2. Kompanie/Panzerregiment 6.
BArch, 101I-265-0024-21A
Die Generalobersten Heinz Guderian (l.) und Hermann Hoth, Führer der Panzergruppen 2 bzw. 3.
BArch, 183-B12003
Oberst Mölders, Kommodore des Jagdgeschwader 51 und Fliegerass, schoss 115 Feindmaschinen ab.
BArch, 146-1974-099-39
Deutscher Infanterist, feldmarschmäßig ausgerüstet und mit Maschinenpistole (MPi) bewaffnet, nimmt einen russischen Schützen gefangen.
BArch, 146-1989-063-30A
Oft sind die Rotarmisten bereits zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme körperlich arg geschwächt. In Verbindung mit der unmenschlichen Behandlung in den Lagern sterben Millionen einen elenden Tod.
BArch, 183-L28 188
Die siegreichen Landser rücken nach Osten vor. Infanteristen des Regiments „Großdeutschland“, ein Eliteverband des Heeres, auf dem Marsch. Bis Jahresende wird jeder vierte Mann gefallen sein.
BArch,101I-596-0398-4A
Trotz des schnellen deutschen Vormarsches tritt die Rote Armee immer wieder zu heftigen Gegenstößen an. Die „Fritzen“ in der Hauptkampflinie (HKL) sind mit Karabinern sowie Stiel- und Eierhandgranaten bewaffnet, um die ohne Rücksicht auf Verluste anstürmenden „Iwans“ abzuwehren.
BArch, 146-1974-099-19
Nach dem Kampf um ein befestigtes Dorf. Der kniende Mann im Vordergund trägt einen Flammenwerfer.
BArch, 101I-696-0450-10A
Die Russen kommen! Aus dem Schützengraben heraus wird gezieltes Gewehrfeuer eröffnet.
BArch, 101I-009-0869-12A
Die Landser, der linke mit aufgepflanztem Bajonett, stehen noch unter dem Eindruck des Gefechts.
Fotos: BArch, 146-1991-024-08A (l.)/121-1204 (r.)
Links deutsche MG 34, Panzerbüchsen, Granatwerfer, Karabiner. Rechts das russische Maxim-MG als Fla-Vierling gebündelt zur Luftabwehr.
BArch, 146-1977-117-10A
Die leichte 10,5-cm-Feldhaubitze bildet das Rückgrat der deutschen Artillerie.
BArch, 101I-078-3074-30
Ein Nebelwerfer wird mit den schweren Raketengeschossen geladen.
BArch, 183-B27411
Die 8,8-cm-Flak bewährt sich auch im Erdkampf gegen Panzer und Bunker.
BArch, 101I-208-0038-15
Angehängte 3,7-cm-Pak zieht durch eine verbrannte Ortschaft vor.
Fotos BArch, 101I-209-0063-17
Deutsche Kampfwagen: Oben Panzer III im Zusammenwirken mit Schützenpanzer (SPW). Unten der schwerste deutsche Typ, der Panzer IV mit der kurzen 7,5-Zentimeter-Kanone. Da die Brücke zerstört ist, wird der Fluss durchfurtet.
BArch, 101I-209-0052-35A
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Russische Tanks: Oben ein brennender T 34, zu Beginn des Ostfeldzuges der modernste Panzer seiner Zeit – markant die schrägen Turmflächen. Unten der überschwere KW 2 mit 52 Tonnen Gewicht und 15-Zentimeter-Kanone.
BArch, 101I-209-0091-11
29 Geo Epoche Nr. 38, Stalin, S. 128
30 Günther, Im Osten das Grauen, S. 34 f.
31 Infanterie auf Motorrädern mit Beiwagen
32 Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, S. 158
33 Meyer-Detring, Die 137. Infanterie-Division S. 23
34 Haupt, Sturm auf Moskau 1941, S. 34
35 Kurowski, Kurt Knispel, S. 49
36 Götz Hirt-Reger, DVD Mit der Kamera a. d. Ostfront, Polarfilm (www.polarfilm.de)
37 www.museumsstiftung.de/feldpost (3.2002.1214)
38 Götte/Peiler, Die 29. Falke-Division, S. 67
39 Carell, Unternehmen Barbarossa, S. 45
40 Spiegel-TV, „Die Bestie von Omaha-Beach“, Erstausstrahlung 4. Juni 2004 auf VOX
41 Geo Epoche Nr. 38, Stalin, S. 128
42 Vetter, Die 78. Infanterie- und Sturm-Division, S. 37
43 Meyer-Detring, Die 137. Infanterie-Division, S. 84
44 Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, S. 277
45 Hürter, Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944, S. 239
46 Bopp, Kriegstagebuch, S. 80
47 Haupt, Die Schlachten der Heeresgruppe Mitte, S. 36
48 Martin, Weit war der Weg, S. 20
49 Carell, Unternehmen Barbarossa, S. 66
50 Entspricht dem Rang eines Generalleutnants
51 Angehörige der SS-Division „Wiking“ sollen am 11.7.41 in Zborow 600 Juden erschossen haben
52 Wegner, Hitlers politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945, S. 192
53 Geo Epoche Nr. 38, Stalin, S. 120
54 Wegner, Hitlers politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933-1945, S. 59
55 Günther, Heiße Motoren, kalte Füße, S. 103 f.
56 Hoth, Panzer-Operationen, S. 42 u. 70/71
57 Großmann, Die Geschichte der 6. Infanterie-Division, S. 49 f.
58 Haape, Endstation Moskau, S. 71 f.
59 Merridale, Iwans Krieg, S. 118
60 Haupt, Die Schlachten der Heeresgruppe Mitte, S. 53
61 Knopp, Der verdammte Krieg, S. 81
62 Weidinger, Division Das Reich, Band I, S. 404
63 Hürter, Hitlers Heerführer, S. 290