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III. Kampf ums Baltikum

23.06.1941-05.12.1941

„Auf einen kurzen Wink trat der Nächste schweigend vor und wurde mit dem Holzknüppel zu Tode geprügelt, wobei jeder Schlag von begeisterten Zurufen seitens der Zuschauer begleitet wurde.”

Die gespenstische Szene bezeugt der IIa der Heeresgruppe Nord, von Bischoffshausen. Erlebt am 27. Juni 1941 in der litauischen Stadt Kowno, dem heutigen Kaunas. Im Mai 2009 sorgt ein SPIEGEL-Artikel64 über die fremdländischen „Komplizen“ des Holocaust, in dessen Rahmen der besagte Bericht des deutsches Offiziers zitiert wird, für großes Aufsehen ...

*

Vergleichsweise wenig Presse darf die deutsche Wehrmacht für die Eroberung des Baltikums erwarten. Die drei Teilstaaten Litauen, Lettland und Estland liegen 1941 im Schatten des großen operativen Ziels, das Leningrad heißt. Die schillernde Millionenmetropole an der Newa-Mündung, das heutige Sankt Petersburg, beherrscht die Gedanken und Schlagzeilen.

Wen interessiert schon, dass die Männer der 61. Infanteriedivision65 am 22. Juni den Ort Gargzdai eingenommen haben? Dass bei den blutigen Kämpfen allein an Offizieren die Leutnante Dreyer, Friebe, Wandelt, Hannemann, Penner und der Oberleutnant Eisenblätter gefallen sind? G-A-R-G-Z-D-A-I, unaussprechlich und doch unauslöschlich ins Buch der Geschichte eingetragen. Unter K wie Kriegsverbrechen. Denn am 24. Juni steigt die Zahl der Opfer noch einmal sprunghaft an, obwohl das litauische Städtchen längst vom Infanterieregiment 176 erobert ist. Im Rahmen einer Polizei-Exekution werden 200 Juden und die Frau eines kommunistischen Parteifunktionärs erschossen. Angeblich aus Vergeltung, weil sich laut Meldung der Truppe auch Zivilisten an den Kämpfen um Gargzdai beteiligt haben sollen.

Nach diesem brutalen Muster der sogenannten Geiselerschießungen folgen noch zahllose Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die oftmals zwischen die Fronten gerät. Die von Halder registrierten „asiatischen Kampfmethoden” und in vielen Gefechtsberichten erwähnten „Heckenschützen“, die bittere Opfer auf Seiten der Wehrmacht fordern, lassen den Ruf nach Vergeltung auf fruchtbaren Boden fallen. Und als Sündenböcke sind insbesondere die Juden auserkoren. Die Hexenjagd ist eröffnet. Und viele, beileibe nicht nur die Scharfrichter der Einsatzgruppe A, verfallen dem schrecklichen Irrglauben, der noch in eiskalten Meldungen gipfeln soll wie:

„Kurland ist mithin judenfrei.”66

*

Feindfrei ist die Brücke über die Düna bei Dünaburg. Ein Spezialkommando des Regiments Brandenburg unter Führung von Oberleutnant Wolfram Knaak67 wurde auf das entscheidend wichtige Objekt angesetzt. Die Männer der legendären Geheimdiensttruppe haben den Übergang im Handstreich gewagt und gewonnen. Ihre Leben verloren haben der Oberleutnant und fünf seiner Soldaten. Der von Kugeln getötete Knaak wird posthum mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Denn das rasche Gewinnen der Düna-Übergänge bildet die Voraussetzung für den zeitgerechten Sturm auf Leningrad. Und schnell wie der Blitz ist Mansteins LVI. Panzerkorps weiß Gott vorgestoßen. Für die 350 Kilometer von der Grenze des Memellandes bis zur Leiche Knaaks am rechten Brückenaufgang brauchte die 8. Panzerdivision ganze viereinhalb Tage. Das entspricht einer phänomenalen Tagesleistung von durchschnittlich 77 Kilometern! Aber statt – unter Sicherung des Brückenkopfes – weiter vorzustoßen und die unglaubliche Verwirrung beim Gegner auszunutzen, stoppt das Oberkommando Mansteins Blitzkrieger. Das Aufschließen der Infanterie soll abgewartet, die konservative, auf Flankenschutz bedachte Gangart gewählt werden. In diesem Fall stellt die sichere vielleicht sogar die bessere Lösung dar. Zumal das andere schnelle Korps von Generaloberst Hoepners Panzergruppe 4 noch weit zurückhängt. Und nicht nur das!

Reinhardts XXXXI. Panzerkorps soll nördlich von Mansteins LVI. die Düna-Übergänge bei Jakobstadt nehmen. Doch am Abend des 23. Juni meldet die Aufklärungsabteilung der 6. Panzerdivision68: Starke feindliche Panzerkräfte im Anmarsch von Nordosten auf Rossinie! Noch ahnt niemand, was für ein Stahlgewitter sich da vor den Spähwagen zusammenbraut. Generaloberst Fjodor Isodorowitsch Kusnezow, der Oberbefehlshaber der sowjetischen Nordwestfront, lässt das III. Panzerkorps mit 400 Tanks zum Gegenangriff antreten, darunter die Kolosse KW 1 und KW 2. Der 47,5 Tonnen schwere, 35 km/h schnelle KW 1 ist mit einer mächtigen 7,62-Zentimeter-Kanone bestückt. Zwei Maschinengewehre komplettieren die Bewaffnung. Noch schwerer kalibriert und armiert ist der KW 2. Der riesige Koloss wiegt 52 Tonnen und erreicht auf der Straße Geschwindigkeiten bis über 30 km/h. Die Kanone hat ein Kaliber von 15,5 Zentimeter, die Panzerung ist teils 120 Millimeter stark. Unterstützt werden die schweren Kampfwagen von den leichten T 26 und BT 7. Eine Lawine aus Stahl rollt auf die deutschen Linien zu. Laut. Stinkend. Unaufhaltsam.

Der erste Ansturm trifft die 6. Panzerdivision mit voller Wucht. Am 24. Juni erlebt Hauptmann Saalbach das Inferno, auch erste Anzeichen von Panik. Denn gegen die schwer gepanzerten russischen KW 1 und 2 sind die 5-Zentimeter-Panzerabwehrkanonen nicht durchschlagstark genug. Die Granaten prallen einfach vom Stahl ab. Ein eklatantes Manko der deutschen Verteidigung, das viel Blut kostet. Genauso wenig Wirkung erzielen die tschechischen Skoda-Tanks, mit denen die 6. Panzerdivision teils ausgerüstet ist. Die Feuerkraft der 3,7-Zentimeter-Kanone erweist sich als viel zu schwach, die Kampfwagen mit dem Balkenkreuz am Turm müssen abdrehen. Saalbach, selbst auf dem Motorrad unterwegs, wird Zeuge, wie einer der Kolosse auf 50 am Straßenrand stehende Kräder zuhält. Der KW walzt sie einfach in den Staub. Als wären die schweren Maschinen Spielzeug. Die Deutschen müssen ausweichen. Sich einigeln. Eine Abwehrfront bilden.

Dann knallt es wieder, dass es einem die Ohren betäubt. Saalbach beobachtet mit Entsetzen, dass auch die Granaten vom Kaliber 7,5 Zentimeter, abgefeuert aus dem Stummelrohr eines Panzer IV, nicht durchschlagen. Der Hauptmann zählt acht Volltreffer, aber keines der Geschosse macht den KW kampfunfähig. Erst ein Schuss in die Kette bringt den Koloss zum Stehen. Mit Benzinkanistern und Handgranaten bringen pirschende Panzervernichtungstrupps den KW zum Explodieren. Die Besatzung verbrennt. Der Mut – oder die Wut – der Verzweiflung ist so groß, dass der Kommandant eines Panzer IV, ein junger Leutnant, seinen stählernen Gegner so lange rammen lässt, bis dessen Ketten abfallen. Anschließend kann auch dieser bewegungsunfähig gemachte KW im Nahkampf gesprengt werden. Bei der Explosion wird der Turm abgerissen und hoch in die Luft geschleudert. Von der Besatzung kommt niemand mehr heraus, jedenfalls nicht lebend. In einigen Fällen zeigt sich die beklemmende Tatsache, dass die KW-Besatzungen von außen in ihren Panzern eingeschlossen wurden, bevor sie ins Gefecht rollten. Dahinter steckt das brutale Kalkül, dass eine Aufgabe unmöglich ist, wenn die Ausstiegsluken verriegelt sind. Rollende Eisensärge …

Aber auch die großkalibrigen Kanonen der Russenpanzer fordern Opfer. Saalbach sieht, wie einer der Kolosse zwei Zwo-Zentimeter-Flak und eine Acht-Acht außer Gefecht setzt. Drei Mann der Bedienung fallen unter dem Beschuss. In ihren Kampfwagen sterben die Leutnante Bock und Kasten. Die schwarzen Mützen, die sie als Panzermänner ausweisen, sind oben aufs Grabkreuz gelegt, der aufgeworfene Sandhügel darunter ist mit Blumen geschmückt.

Der Kampf im offenen, staubigen Gelände wogt hin und her. Die sieggewohnten Panzertruppen des Heeres müssen die erste schwere Krise des Krieges bestehen, vor allem auch die starke mentale Erschütterung verarbeiten. Erst mit Unterstützung der schweren Artillerie und Flak sowie im Verein mit der zur Entlastung angetretenen 1. Panzerdivision gelingt es schließlich, das sowjetische III. Panzerkorps in die Zange zu nehmen. Das Luftnachrichtenregiment 31 hört am 25. Juni um 8 Uhr 35 einen feindlichen Funkspruch ab. Der Absender ruft verzweifelt:

„Wir sind völlig umzingelt, der Gegner deckt uns mit Haubitzfeuer ein, ich bitte um Hilfe!”

Doch es gibt keine Rettung mehr. Am 26. Juni liegen mehr als 200 Panzer, davon 29 schwere KW, vernichtet auf dem Schlachtfeld bei dem Dorf Rossienie an der Dubysa. Die wendige deutsche Führung hat gegenüber den nicht scharf genug an einer entscheidenden Stelle der Front konzentrierten und zudem langsamen Ungetümen der KW-Klasse den Ausschlag gegeben. Die Rolle der schweren russischen Panzer, gerade auch des legendären T 34, ist in vielen Nachbetrachtungen überbewertet worden. Den Kern der Tanktruppen bilden zu Beginn des Krieges, wie bei den Deutschen, vergleichsweise leichte Typen, nämlich der T 26 und der BT 7. Kampfwagen also, mit denen es jede panzerbrechende Abwehrwaffe der Wehrmacht aufnehmen kann, selbst die ob ihrer geringen Durchschlagskraft zuweilen als „Panzeranklopfgerät” verspottete 3,7-Zentimeter-Pak. Dennoch hat der hart erkämpfte Abwehrsieg an der Dubysa das Rüstungspotential und nicht zuletzt den eisernen Willen der Sowjets aufgezeigt. In Ausnutzung des Erfolges kann im Nachstoß schließlich auch das XXXXI. Panzerkorps zur Düna, an den Übergang bei Jakobstadt, aufschließen.

*

Unterdessen geht die links von der Panzergruppe 4 und der 16. Armee angesetzte 18. Armee nach Nordosten vor. Generaloberst Georg von Küchlers Infanterie soll auf dem Weg nach Leningrad die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland besetzen. Etappenziele sind die Städte Libau, Riga, Dorpat, Reval und Narwa.

Die 291. Division marschiert auf Libau an der Ostseeküste. Speerspitze des Vorstoßes ist das Infanterieregiment 505 unter Oberst Lohmeyer. Am 24. Juni sind es noch 12 Kilometer bis zu den ersten Häusern der Hafenstadt. Unter den Soldaten, die auf Libau vorrücken, ist auch der PK-Mann Georg Schmidt-Scheeder69. Der Dunkelhaarige mit dem scharfen Blick trägt allerdings keine Waffe, sondern eine Kamera. „PK“ steht für Propaganda-Kompanie. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda hat die Männer persönlich auf ihren Einsatz eingeschworen. Im Berliner Amtssitz verkündete Dr. Joseph Goebbels:

„Meine Herren Kriegsberichter, noch nie hatte ein Volk diese Mittel in der Hand, für alle festzuhalten, was geschah. Und in ihre Hände ist es gelegt, zu berichten über dieses gewaltige Geschehen, das wir miterleben dürfen als Zeugen der größten Zeit unseres Volkes! Aus ihren Bildern und Berichten wird dereinst die Geschichte geformt werden.“

Kein Wunder, dass Goebbels Propagandasoldaten einige Privilegien genießen. Sie müssen nicht durch den feinen, weißen Sand marschieren, sondern können mit ihrem Filmtruppwagen, Modell Steyr-Kübel, fahren. Die PK-Männer reihen sich in die Kolonne einer motorisierten Vorausabteilung ein. Geführt wird der Trupp von einem blutjungen Hauptmann. Der erteilt bei strahlendem Sonnenschein den Marschbefehl. Der Gefechtsauftrag lautet: Durchstoß bis Libau!

An der Spitze der Kolonne rollt eine 2-Zentimeter-Flak auf Selbstfahrlafette. „Flak“ steht zwar für Flugabwehrkanone, aber die durchschlagstarke Waffe mit der extrem schnellen Schussfolge erzielt auch im Erdkampf verheerende Wirkung. Die leichte Flak 38, wie die „Zwozentimeter” offiziell heißt, hat bei einer rasanten V0 von nahezu 900 Metern pro Sekunde eine Reichweite bis 3.700 Meter. Die seitlich zugeführten Magazine fassen 20 Schuss. Jede einzelne Granate wiegt 300 Gramm. Ist die fünfköpfige Besatzung gut aufeinander eingespielt, liegt die Feuerrate bei über 200 Schuss pro Minute. Wehe dem, der ins Visier dieser Todesmaschine gerät!

Zunächst geht die Fahrt ohne Zwischenfälle nach Norden. Als plötzlich ein russischer Panzerspähwagen an einer Waldecke auftaucht, ist es schlagartig vorbei mit der beschaulichen Sommertour. Mit den tausendmal geübten Bewegungen werden die angehängten 3,7-Zentimeter-Pak abgeprotzt und in Feuerstellung gebracht. Sekunden später krachen die Kanonen. Erst ist nur eine graue Rauchwolke zu erkennen. Dann brüllen die Panzerjäger:

„Volltreffer!”

Und weiter geht die Fahrt – bis zum nächsten Hindernis. Diesmal ist es ein LKW, der offenbar völlig ahnungslos auf die Kolonne zurollt. Blitzschnell erfasst der Kommandeur die Lage und bereitet einen Hinterhalt vor. In einer für die Russen nicht einsehbaren Senke bezieht die Kampfgruppe Gefechtsposition. Immer größer wird der Punkt, den die Männer am Horizont erfassen. Jetzt ist der Laster schon deutlich zu erkennen. Sekunden später wird er wieder von der Bodenwelle geschluckt. Wenn der LKW das nächste Mal auftaucht, direkt vor der Senke, muss der Hauptmann unweigerlich den Feuerbefehl für die bereitgestellte Flak geben. Die Männer halten den Atem an. Hören Motorengeräusch. Da, der Kühler kommt zum Vorschein – und schon kracht die Flak. Hämmert voll hinein! Schmidt-Scheeder sieht, wie der Fahrer gleich nach der ersten Salve schwer getroffen über das Lenkrad sackt. Der Laster rutscht seitlich an den Straßengraben, kommt dort zum Stehen. Das Flakfeuer wird eingestellt. Der Hauptmann fordert die Überlebenden auf, die Waffen zu strecken und ruft das Hände-Hoch-Kommando auf russisch: „Ruki werch!”

Fünf Rotarmisten springen vom LKW, zwei davon sind verwundet. Als sie mit erhobenen Händen auf die Gewehr im Anschlag liegenden Landser zuwanken, wird plötzlich die Plane über der Ladefläche des Lasters hochgerissen. Ein Russe feuert wild mit der Pistole über die eigenen Männer hinweg auf die deutschen Soldaten. Doch er schießt daneben und wird sofort selbst getroffen, kann aber noch die Waffe an seinen Kopf setzen und abdrücken. Das Verhör der Gefangenen ergibt, dass es sich bei dem fanatischen Selbstmörder um einen Kommissar gehandelt haben soll.

Trotz des bald einsetzenden schweren, präzisen Artilleriefeuers der Russen arbeiten sich die 505er und ihr Anhang die letzten Kilometer bis nach Libau vor. Oberst Lohmeyer befiehlt den Handstreich. Doch der scheitert blutig. In der Stadt tobt der Häuserkampf. Auch Schmidt-Scheeder erlebt die Hölle in Libau, die vom 25. bis zum 29. Juni rast.

Der PK-Mann kann das ungewohnte Schlachtfeld schon allein am veränderten Klang der Waffen erkennen. Etwa die Flak: Aus dem harten Tack-Geräusch im freien Gelände ist ein dumpfes Wummern geworden. Die Mauern der Stadt wirken wie Verstärker, das Echo dröhnt durch die Gassen. Schmidt-Scheeder und seine Kameraden hasten in gebückter Haltung durch die menschenleeren Straßen. Wenn ein Querschläger unangenehm dicht und ekelhaft wie eine Riesenmücke vorbei zischt, zucken die keuchenden Körper unwillkürlich zusammen. Drüben am Bordstein liegt ein Zivilist. Auf dem Bauch. Tot.

Endlich erreichen die PK-Männer eine breite Hauptstraße. Noch 500 Meter mögen es bis zur Hauptkampflinie sein. Dort feuert die Zwei-Zentimeter-Flak Salve auf Salve. Kaum 100 Meter vor der HKL ragt ein roter Backsteinbau in den Himmel. Schmidt-Scheeder erkennt, wie im fünften Stock des Speichers plötzlich eine MG-Mündung am Fenster auftaucht. Und schon prasseln die Salven des Maxim auf das Straßenpflaster. Aber jetzt hat auch die Flak die Feindstellung erkannt und erwidert das Feuer. Weiße und rote Wolken an der Wand, verursacht durch die Explosionen beziehungsweise den aufgewirbelten Staub, markieren die Lage der einschlagenden Geschosse. Ob die Salven treffen, lässt sich nicht genau verfolgen. Zumal aus allen möglichen Ecken geschossen und die Sicht durch Qualm behindert wird. Vor dem Eingang eines Bäckerladens erkennen die Männer jedoch klar und deutlich den Regimentskommandeur. Oberst Lohmeyer kauert in der Hocke und hält einen Hörer in der Hand, um Artillerie-Unterstützung anzufordern.

Kurz darauf rollt eine Pak-Bedienung ihre Kanone in Stellung. Plötzlich bricht die Bedienung hinter dem Schutzschild zusammen. Niedergestreckt binnen Sekunden. Die tödlichen Schüsse kamen genau in dem Moment, als das Geschütz stand. Schon rollt eine zweite Pak heran. Aber was zum Teufel ist denn das? Kaum steht die Kanone, da brechen auch diese Männer, bis auf einen, getroffen zusammen! Immerhin gelingt es jetzt, die feindliche Feuerstellung, aus der das Verderben kommt, zu lokalisieren. Die Russen schießen von unten, aus einem Bunker, der mit Eisenbahnschwellen abgedeckt ist. Ein Wahnsinn; die nächsten Toten werden sie selbst sein, denn die Stellung bietet keine Rückzugsmöglichkeit.

Und dann brüllt noch jemand in das Tohuwabohu: „Explosivgeschosse!”

Im selben Augenblick schreit ein Mann am Flakgeschütz gellend auf und reißt seinen Arm hoch – die Hand ist abgerissen. Explosivgeschosse. Darunter versteht man eine spezielle Gewehrmunition, die beim Aufschlag explodiert, quasi eine Art Mini-Granate. Ihr Einsatz gilt zwar als völkerrechtswidrig, aber Scharfschützen greifen gern darauf zurück. Dass allerdings nur die Russen Explosivgeschosse verwendet haben sollen, wie in vielen Erlebnisberichten suggeriert wird, entspricht nicht den Tatsachen. Auch deutsche Präzisionsgewehre mit Zielfernrohr verfeuern die tückische Munition, die furchtbare Verwundungen verursacht.70 Ohnehin scheint es müßig, darüber eine ernsthafte Diskussion zu führen. Als ob man tödliche Geschosse nach dem Grad der Gemeinheit zensieren kann!

Wieder knallt es ekelhaft. Schmidt-Scheeder spürt die kleine Explosion. Fassungslos starrt er auf seine Leica. Die Kamera ist zerrissen, aber die Hand noch dran. Nur ein kleiner Kupfersplitter steckt im rechten Ballen. Typisch Häuserkampf. Das Feuer kommt aus allen Richtungen, es gibt keine klare Front. Und auch die Abenddämmerung bringt keine Ruhe, ganz im Gegenteil: Die von Oberst Lohmeyer angeforderte Artillerieunterstützung setzt ein. Schwere Koffer gurgeln heran. Krachen in die Häuser. Libau brennt. Schmidt-Scheeder sieht noch, wie sich ein Obergefreiter an den Bunker mit den drüber gelegten Bahnschwellen schleicht. In der Hand hält der mutige Einzelkämpfer eine geballte Ladung. Wie in Zeitlupe läuft die Szene ab: Wurf – Deckung – Stichflamme – Detonation – Rauch – Aus.

*

An der Düna-Mündung, vorwärts Riga, entscheidet sich das Rennen um die Flussübergänge zwischen dem I. Armeekorps und den aus Kurland zurückflutenden Sowjettruppen. Die Ostpreußen der 1. Infanteriedivision sind flotter unterwegs. Eine motorisierte Vorausabteilung riegelt die Russen im Zuge der unteren Düna ab. Am 29. Juni fällt die lettische Kapitale nach harten Straßenkämpfen.

Die Einnahme von Städten, aber nicht spektakuläre Gefangenenzahlen kann Küchlers 18. Armee an Leebs Heeresgruppe Nord melden. Zwar werden die russische 8. und 11. Armee schwer angeschlagen. Allerdings zum Teil erst nach verlustreichen, zumindest jedoch zeitraubenden Gefechten. Die Entscheidung im Kampf um Leningrad kann aber nur im Zentrum des Vorstoßes, bei der Panzergruppe 4, fallen. Leeb wäre klug beraten, wenn er den russischen Streitkräften im Baltikum den Rückzug über die Landenge bei Narwa sperrt. Zwischen finnischem Meerbusen und Peipus-See, und zwar von Osten her, durch Hoepners Panzer. Unterdessen könnte die 18. Armee die Städte und befestigten Räume an der Küste mit schwachen Kräften einfach abriegeln statt sie verlustreich und zeitraubend anzugreifen.

Aber während sich bei von Rundstedts Heeresgruppe Süd schon der Ansatz als Fehldisposition herausstellt, wird Feldmarschall Leeb im Laufe des Vormarsches auf Leningrad selbst zum Bremsklotz. Er stärkt sogar noch den linken Flügel, lässt Küchlers Kräfte teure Siege am finnischen Meerbusen erringen, die operativ wertlos sind. Es stellt sich die Frage, warum ein so defensiv denkender Mann wie Leeb, der die Gesetze des modernen Bewegungskrieges kaum verinnerlicht hat, eine derart herausragende Position bekleidet. Überhaupt kann man über die erste Garnitur der deutschen Heerführer zwar nicht pauschal den Marschallstab brechen. Aber Zweifel sind zumindest am speziellen Know-how, das der Blitzkrieg fordert, angebracht. Der ausgewiesene Defensivstratege Leeb handelt jedenfalls mehrmals dem Geist einer schnellen Operation auf Leningrad zuwider. Und Feldmarschall Rundstedt trug als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A schon im Frankreichfeldzug maßgeblich dazu bei, dass die Rettung der britischen Armee aus dem Hafen von Dünkirchen gelingen konnte. Der scharfsinnigste deutsche Militärhstoriker Karl-Heinz Frieser hat die Hintergründe in seinem Werk „Die Blitzkrieg-Legende“ höchst eindrucksvoll aufgezeigt. Delikat in diesem Zusammenhang ist, dass Rundstedt der Vorgesetzte Mansteins war, als dieser, noch in seiner Funktion als Chef des Stabes der Heeresgruppe A, mit seinen Operationsplänen für die Frankreich-Kampagne laufend beim OKH insistierte – ein Kellner, der bessere Rezepte kannte als alle Spitzenköche zusammen. Der Führer schien bei der Auswahl seiner Spitzenmilitärs den eigenen Worten zuwiderzuhandeln, nämlich: „Es ist aber ein Wahnsinn, einen Menschen Straßen bauen zu lassen, der höchstens fähig ist, Straßen zu kehren, und einen Mann als Straßenkehrer zu verwenden, der Straßen bauen kann.“71

Bock wiederum, der unter den drei Heeresgruppen-Oberbefehlshabern noch der fähigste Stratege scheint, verantwortet im November 1941 die mörderische „Schlußoffensive“ auf Moskau. Und ein halbes Jahr später verpatzt er bei Woronesch den Auftakt der Sommeroffensive 1942 und bringt damit den ganzen Fahrplan für die Operation „Blau“ durcheinander. Geniale Köpfe wie Manstein oder hochbewährte Panzergenerale wie Guderian und Hoth werden dagegen unter Wert eingesetzt beziehungsweise an die kurze Leine von Infanteristen, zum Beispiel Kluge, gelegt.

Zu dieser Hierarchie im Heer, die man nach den epochalen Erfahrungen des Westfeldzuges als überraschend bezeichnen darf, hat womöglich nicht zuletzt Guderian selbst durch eigenmächtiges Handeln beigetragen. Die ganze Vorgeschichte reicht allerdings bis in den Herbst 1939 zurück. Seinerzeit rebellierte Manstein gegen den ersten Ansatz zur Niederwerfung Frankreichs, den der Generalstab vorgelegt hatte. Hitler fühlte sich dadurch ermuntert, über die „Gedanken von Kadettenschülern“, namentlich Halder und Brauchitsch, zu spotten.72 Mansteins Gegenentwurf, der Operationsplan „Sichelschnitt“, führte schließlich dazu, dass der Urheber vom OKH-Chef kalt gestellt wurde. Das hinderte Halder aber nicht daran, den schließlich doch – aber erst auf Hitlers Geheiß – bewilligten Panzerstoß durch die Ardennen konsequent, ganz im Sinne seines geistigen Schöpfers, Manstein, zu exekutieren. Immerhin lässt die glänzende Umsetzung zumindest im Fall „Gelb“ kaum Zweifel an Halders militärischem Sachverstand zu. Einen weiteren Nachweis seiner Qualitäten lieferte der gleichwohl wenig geniale OKH-Chef im Frühjahr 1941 mit der Planung und Durchführung des Balkanfeldzugs. Das Unternehmen „Marita“ zur Niederwerfung Jugoslawiens und Griechenlands gilt als Musterbeispiel einer aus dem Stehgreif geschlagenen Operation, freilich gegen hoffnungslos unterlegenen Feind.

Was Manstein betrifft, so ist dieser vermutlich gerade wegen seiner überragenden Fähigkeiten nur als Befehlshaber eines Panzerkorps in den Russlandfeldzug gezogen. Weder der Führer noch der OKH-Chef mögen sein Auftreten, die bisweilen arrogante Art des blonden Strategen mit der markanten Hakennase. Goebbels hasst den Preußen sogar leidenschaftlich und agitiert gelegentlich gegen den geborenen von Lewinski. Wahrscheinlich treffen sich im Fall Manstein Hitlers und Halders Interessen. Auf der einen Seite der Führer, der den Ruhm über den gewonnenen Frankreichfeldzug mit niemandem teilen will, auf der anderen der bayerische OHK-Chef, der sich von dem ehrgeizigen Preußen übergangen fühlte und jetzt in Russland sein ureigenes Meisterstück abliefern will. „Querschüsse aus der Stratosphäre“, verbittet sich Halder für den „Fall Barbarossa“, und zwar ganz gleich von welcher Seite.

Zum Glück ahnen die einfachen Soldaten nichts von den Widersprüchen in der oberen Führung. Sie marschieren weiter bei Gluthitze durch den weißen Sandstaub des Baltikums, leiden Durst, laufen sich die Füße wund, brechen mit Sonnenstich zusammen. Es gibt sogar Fälle, da sterben Männer an den Folgen der Gewaltmärsche. Erste Diagnosen von Ruhr treten auf. Kräfte zehrende, teils blutige Durchfälle sind die Folge. Als Ursache gilt die mangelnde Hygiene, die in weiten Teilen Russlands herrscht. Überall gibt es Stechwanzen, die nachts von den Decken fallen, und vor allem Riesenschwärme von Schmeißfliegen, die sich erst auf Mist, dann auf Nahrung setzen und Krankheitskeime verbreiten.73 Die drei Balken, die in den Verluststatistiken für die Gefallenen, Verwundeten und Vermissten stehen, müssen bald um eine rasant wachsende vierte Säule ergänzt werden: die Armee der Kranken. Hunderttausende Soldaten fallen nicht durch Kriegsverletzungen oder Gefangennahme, sondern durch Fieber und (später) Erfrierungen aus.

Dazu kommt eine weitere „Plage“ hinter der Front – die Partisanen. Gefürchtet, verehrt und verklärt, stiften diese Banden aus versprengten Rotarmisten und Zivilisten permanente Unruhe im rückwärtigen Heeresgebiet. Verschanzt in Wald und Sumpf, stören sie den deutschen Nachschub, sprengen Brücken und Schienen, überfallen kleinere Konvois. Der Kommandeur der 1. Infanteriedivision gerät Mitte Juli in einen Hinterhalt der Partisanen und wird bei dem Überfall getötet. Die Wehrmacht reagiert auf die Scharmützel mit brutalen Gegenmaßnahmen. Aufgrund der grausamen Kampfweise der Partisanen, die Gefangene nicht nur einfach umbringen, sondern mitunter zu Tode quälen, bringt die Truppe für die dann folgenden Repressalien durchaus Verständnis auf. Die Leidtragenden sind die Zivilisten. Auf ihrem Rücken tragen die beiden Gegner den Kampf mit erbarmungsloser Härte aus. So wenig die Deutschen als Befreier einmarschieren, sind die Partisanen Erlöser für die eigene Bevölkerung. Ganz im Gegenteil: Vielerorts gelten sie als Geißel, finden keine Unterstützung und werden sogar verfolgt. Die Masse der Freischärler besteht 1941, obwohl zum Widerstand entschlossen, nicht etwa aus lauter glühenden Bolschewisten. Ein Partisanenführer muss eingestehen:

„Wir im Wald glauben, dass uns der Kommunismus – den 70 bis 80 Prozent von uns hassen – zumindest am Leben lässt, wohingegen die Deutschen mit ihrem Nationalsozialismus uns entweder erschießen oder aushungern würden.“74

Im ersten Kriegshalbjahr kämpfen die bescheiden erfolgreichen „Banden“ denn auch hauptsächlich ums Überleben. Aufhalten lässt sich die Wehrmacht ohnehin nur durch den regulären Widerstand der Roten Armee. Aber im Sommer 1941 geht es noch schnell vorwärts. Der Leutnant Hubert Hundrieser75 von der 217. Infanteriedivision ist inzwischen über Litauen und Lettland bis nach Estland hinein marschiert. Immer weiter geht es Richtung Norden. Regen setzt ein, aber auch die feindliche Abwehr wird stärker. Hundriesers Bataillon erhält gut liegendes Artilleriefeuer. Der Kommandeur, Major von Rahden, vermutet, dass ein „VB“ dahintersteckt. Damit meint er einen vorgeschobenen Beobachter, der das feindliche Geschützfeuer präzise über Funk leitet. Aber wo kann der VB stecken? Hundrieser studiert eine Karte, entdeckt darauf eine Anhöhe, zirka zwei Kilometer entfernt. Der Leutnant murmelt:

„Das könnte es sein. Da liegt auch ein Gehöft.“

Gewissheit kann allerdings nur ein Spähtrupp bringen. Hundrieser selbst übernimmt die Führung. Als sich die Männer an das Gehöft pirschen, stoßen sie bald auf eine Drahtleitung – die richtige Fährte scheint gefunden. Vor der Scheune steht ein LKW, bei dem einige Rotarmisten lungern und palavern. Als Sicherung ist in 60 Metern Entfernung ein Maschinengewehr aufgestellt. Vier Mann bilden die Bedienung. Wie auf Kommando öffnet der Himmel seine Schleusen, und es beginnt heftig zu schütten. Ein Segen für die sprungbereiten Männer. Denn die Russen hinter dem MG flüchten zur Scheune, ins Trockene. Eine fatale Entscheidung, und für die Deutschen das Signal zum Angriff! Blitzschnell überwindet der Trupp die gefährliche freie Fläche vor der Scheune. Jetzt sind sie mitten unter den „Iwans“ vor dem Tor. Gewehrkolben krachen auf Schädeldecken. Zwei-, dreimal. Dann brechen die Schalen. Handgranaten fliegen durch das Scheunentor. Detonationen. Schüsse. Schreie. Eine Tür an der hinteren Wand fliegt auf. Russen quellen heraus. Laufen direkt in die MPi-Garben. Sterben. Kurz darauf kann Hundrieser melden, dass der VB ausgeschaltet ist. Auftrag erledigt.

*

Neben der 291. und 217. marschiert noch die 61. Infanteriedivision76 im Verband des XXVI. Armeekorps nach Norden. Am 8. Juli reitet Leutnant Graichen an der Spitze seiner Kompanie in Wolmar ein. Seine Männer marschieren in Dreierreihen hinter dem Ross her. Am 12. Juni steht die Kompanie stumm vor einem frisch ausgehobenen Grab bei Poltsamaa. So weit ist der Leutnant Graichen noch geritten.

Am 12. Juli 1941 erfüllt sich auch das Schicksal des Gefreiten Heinze von der 14. Kompanie/Infanterieregiment 151 in Litauen. Am 26. Juni kniete der unerschrockene Soldat noch bei Piezai hinter seiner 3,7-Zentimeter-Pak und jagte Granate auf Granate durch das Rohr. Binnen 20 Minuten schoss der Mann zehn T 26 ab. Dafür wird Heinze mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse (EK I) ausgezeichnet, das Rohr seiner Panzerabwehrkanone mit zehn Ringen dekoriert. Am 12. Juli kommt noch ein hölzernes Grabkreuz, bedeckt mit Blumenstrauß, hinzu. Heinze liegt bei Pilistvere in baltischer Erde.

Die 217. Division77 steht Ende August vor Reval am finnischen Meerbusen. Leutnant Hundrieser befiehlt seinen Männern:

„Eingraben und Köpfe einziehen!“

Zwar liegen die Feindstellungen 400 Meter entfernt an einem Waldrand. Aber sporadisches Gewehrfeuer mahnt trotz der großen Entfernung zur Vorsicht. Der Schütze Schröder, der auf dem Rand des Loches sitzt und lässig Suppe löffelt, kommt auch der zweiten Aufforderung nur widerwillig nach. Aber da ist es schon zu spät. Der russische Scharfschütze am Waldrand hat ihn längst im Fadenkreuz, drückt ab und trifft. Kopfschuss. Löffel abgegeben. Mahnung für die Kameraden.

Als der deutsche Sturm auf Reval am 28. August einsetzen soll, kommt die Nachricht, dass die Russen die Stadt räumen, sich im Hafen ausschiffen. Der blutige Häuserkampf um rauchende Ruinen findet nicht statt. Ein zweites Libau bleibt den Kombattanten und Zivilisten erspart.

Zum Baltikum gehören allerdings noch vorgelagerte Inseln, darunter Moon und Ösel. Die 61. Division78 soll die Ostsee-Eilande nehmen – Unternehmen „Beowulf“. Am 14. September landen die Ostpreußen mit Sturmbooten auf Moon. Ein gewagtes Unternehmen. Die Infanteristen haben überhaupt keine Erfahrung in maritimen Operationen. Doch unter dem Feuerschirm der Luftwaffe sowie der Küsten- und Schiffsartillerie gelingt die Bildung eines Landekopfes. Heiße Kämpfe um den vier Kilometer langen Moon-Ösel-Damm lassen die empfindliche Kälte der Nachtfröste, die inzwischen eingesetzt haben, schnell vergessen. Eines Abends, es ist der 18. September, sehen die Männer über dem Nordteil der Insel das fluoreszierend grün leuchtende, magische Nordlicht. Ein friedliches, ruhiges Bild.

Laut und chaotisch geht es bis Anfang Oktober weiter. Tiefes Grollen kündigt das schwere Geschützfeuer der Kreuzer „Emden“ und „Leipzig“ an. Hunderte 15-Zentimeter-Granaten zerschlagen die Küstenbatterien der Sowjets. Am 5. Oktober fällt Ösel. Rund 4.000 Gefangene überleben das Inferno fernab der Hauptfront und Schlagzeilen. Einer, der darüber hätte berichten sollen, schweigt bereits für immer: Filmtruppführer Leutnant Klier ist am 21. September auf Ösel gefallen. Erst am 5. Dezember, mit der kampflosen Besetzung von Odensholm durch Marineinfanterie, ist die letzte der Baltischen Inseln erobert.

Auf dem Festland hat die 18. Armee inzwischen das Westufer des riesigen Peipus-Sees gesäubert und die Stadt Dorpat genommen. Mit dem Fall von Narwa, dessen Verteidiger nach schweren und verlustreichen Kämpfen im Zangengriff der 58. und 291. Infanteriedivision bis zum 19. August verbluten, wird auch der Großteil der 18. Armee endlich frei für den lang ersehnten Schlussangriff auf Leningrad – im Verbund mit der gepanzerten Speerspitze. Die Kampfwagen von Hoepners Panzergruppe 4 haben Anfang Juli die alte lettisch-russische Grenze erreicht. Nach den geglückten Düna-Übergängen soll Mansteins LVI. Panzerkorps bei Opotschka über die Welikaja setzen, während Reinhardts XXXXI. Panzerkorps weiter nördlich, auf die Brücke bei Ostrow, angesetzt wird. Zuvor muss jedoch die Stalin-Linie durchbrochen werden. Die fanatischen Soldaten der SS-Totenkopfdivision, die sich am 6. Juli bei Sebesch zum Sturm auf die befestigten Feldstellungen bereitstellen, brennen auf ihren ersten „richtigen“ Einsatz im Osten …

*

Gruppen der besonderen Art rotten sich indes hinter der Ostfront zusammen. Zum einen die gut organisierten deutschen Killer-Kommandos der Einsatzgruppe A unter Führung von SS-Brigadeführer Dr. Stahlecker. Zum anderen der wilde baltische Mob, der Mord als legitimes Mittel erachtet, um sich an den russischen Besatzern zu rächen. Meist jedoch müssen stellvertretend die Juden bluten. Unschuldige, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Schrecklich wüten die Pogrome in Kowno. Unfassbar grausam sind die gespenstischen Szenen, die der Stabsoffizier von Bischoffshausen sieht. In seinem erschütternden Bericht heißt es:

„Als Adjutant erhielt ich den Befehl, den Stab der in Kowno liegenden 16. Armee aufzusuchen. Am Vormittag des 27. Juni traf ich dort ein. Auf der Fahrt in die Stadt kam ich an einer Tankstelle vorüber, die von einer dichten Menschenmenge umlagert war. In dieser befanden sich auch viele Frauen, die ihre Kinder hochhoben oder, um besser sehen zu können, auf Stühlen und auf Kisten standen. Der immer wieder aufbrausende Beifall – Bravo-Rufe, Händeklatschen und Lachen – ließ mich zunächst eine Siegesfeier oder eine Art sportliche Veranstaltung vermuten. Auf meine Frage jedoch, was hier vorgehe, wurde mir geantwortet, dass hier der ,Totschläger von Kowno‘ am Werk sei. Kollaborateure und Verräter fänden hier endlich ihre gerechte Bestrafung! Nähertretend aber wurde ich Augenzeuge wohl des furchtbarsten Geschehens, das ich im Verlaufe von zwei Weltkriegen gesehen habe. Auf dem betonierten Vorplatz dieser Tankstelle stand ein mittelgroßer, blonder und etwa 25-jähriger Mann, der sich gerade ausruhend auf einen armdicken Holzprügel stützte, der ihm bis zur Brust reichte. Zu seinen Füßen lagen etwa 15 bis 20 Tote oder Sterbende. Aus einem Wasserschlauch floss ständig Wasser und spülte das vergossene Blut in einen Abflussgully. Nur wenige Schritte hinter diesem Manne standen etwa 20 Männer, die – von bewaffneten Zivilisten bewacht – in stummer Ergebenheit auf ihre grausame Hinrichtung warteten. Auf einen kurzen Wink trat dann der Nächste schweigend vor und wurde auf die bestialischste Weise mit dem Holzknüppel zu Tode geprügelt, wobei jeder Schlag von begeisterten Zurufen seitens der Zuschauer begleitet wurde. Beim Armee-Stab erfuhr ich sodann, dass diese Massen-Exekutionen dort bereits bekannt waren, und dass diese selbstverständlich das gleiche Entsetzen und die gleiche Empörung wie bei mir hervorgerufen hatten. Ich wurde jedoch darüber aufgeklärt, dass es sich hier anscheinend um ein spontanes Vorgehen der litauischen Bevölkerung handle, die an Kollaborateuren der vorausgegangenen russischen Besatzungszeit und an Volksverrätern Vergeltung übe.”

Wahr ist, dass während der sowjetischen Besatzung 1940/41 Zehntausende Balten als vermeintliche Regimegegner liquidiert oder deportiert worden sind. Stellvertretend für die abgerückten kommunistischen Herren werden die Juden zur Zielscheibe des eskalierenden Volkszorns, den die SS geschickt schürt. Gegen die Pogrome schreitet zumindest keine deutsche Dienststelle ein. Peter Baron von der Osten-Sacken79 erlebt als Soldat an der Mittelfront beschämende Szenen. Er sieht, wie in der Hauptsache baltische Frauen die geräumten Wohnungen ihrer ehemaligen Nachbarn plündern und den durch die Straßen getriebenen Juden noch die letzten Habseligkeiten vom Leib reißen. Danach streitet sich der Mob laut zeternd um das Diebesgut. Plündern scheint eine besonders beliebte Form der Vergeltung zu sein.

Allerdings kann kein erduldetes Leid rechtfertigen, Unschuldige zu keulen wie Vieh. Genauso wenig lassen sich die Geiselerschießungen der Deutschen, die weder Frau noch Kind verschonen, entschuldigen. Dennoch stößt man immer wieder auf die seltsame Neigung, unsagbare Verbrechen doch irgendwie zu rechtfertigen. Und die Deutschen sind seit ihrer „Stunde Null” sogar Weltmeister darin, die eigenen Vergehen hoch zu halten und die der ehemaligen Gegner klein zu reden. Vielleicht weil Verlierer einsichtiger als Sieger sind? Bis heute kommt zum Beispiel kaum eine Darstellung über die Vertreibung der Ostdeutschen mit dem Hinweis auf die eigenen Verbrechen in der Sowjetunion aus. Diese Tatsache gehört zwar unbedingt in den Kontext der Gesamtbetrachtung gestellt. Aber entschuldigen kann die nachträgliche Selbstgeißelung die Täter nicht. Jene Rotarmisten, die im Winter und Frühjahr 1945 Zigtausende ermorden, millionenfach vergewaltigen, dabei weder zwölfjährige Mädchen80 noch frisch entbundene Mütter verschonen und bis aufs Blut schändeen, bleiben für alle Zeiten Verbrecher. Genauso wie die deutschen Massenmörder an den Grubenrändern und die baltischen Totschläger auf den Stadtplätzen. Als „ein nicht zu verzeihender Schandfleck“ geißelt ein 20-jähriger Leutnant81 der Roten Armee die Verbrechen seiner Kameraden noch 60 Jahre nach Kriegsende.

Viele Opfer muss es schmerzen, von Politikern und Historikern erklärt zu bekommen, dass Rache als Motiv anzuführen sei, wenn ein ganzer, Dutzende Schwänze zählender Zug sowjetischer Soldaten ansteht, um eine einzige Frau bewusstlos oder tot zu stoßen. Die vielfach betrunkenen, gruppendynamisch handelnden Vergewaltiger werden in diesem Moment, mit runtergelassenen Hosen, bestimmt nicht edle Motive, wie Vergeltung für die ermordeten Angehörigen und Landsleute, im Kopf haben. Gerechte Rächer mit Ständer? Grotesk! Generalleutnant Okorokow, Chef der Politverwaltung von Rokossowskis 2. Weißrussischer Front, zürnt am 6. Februar 1945 über die Schandtaten seiner Soldaten beim Einmarsch in das Deutsche Reich:

„Aber man darf Rache nicht mit Sauferei und Brandstiftung gleichsetzen. Ich zünde ein Haus an, und die Verwundeten sind nicht unterzubringen. Ist das etwa Rache? Wenn wir bei unseren Kämpfern das richtige Haßgefühl gegenüber den Deutschen entwickeln, dann fällt der Kämpfer nicht über eine Deutsche her, denn das wird ihm zuwider sein.“

Und der Oberleutnant Jurij Uspenskij notiert am 2. Februar 1945 beschämt in sein Tagebuch: „Wir rächen uns, aber nicht so.“

Doch die frommen Appelle verpuffen wirkungslos. Stattdessen vergewaltigen selbst höhere Dienstränge, darunter sogar ein Generalmajor (!) im niederschlesischen Herzogswaldau. Monatelang, sogar noch nach Kriegsende, behandeln rote Besatzer die weibliche Bevölkerung vielerorts wie Freiwild. Wenn in deutschem Namen millionenfach erschossen wurde, dann tragen die Sowjets Verantwortung für die Massenvergewaltigungen, die es in diesen ungeheuren Dimensionen – quasi als Kollektiverfahrung für Frauen – seitens der Wehrmacht in Russland nicht gab. An dieser Wahrheit können auch jüngste Veröffentlichungen82, die Notzuchtverbrechen deutscher Truppenteile im Osten thematisieren, nicht rütteln. Dass die Wehrmacht nicht „sauber“ war, stellt keine furchtbar neue Erkenntnis dar. Ebenso wenig die Tatsache, dass es hinter der Front Bordelle wohl auch mit Zwangsprostituierten gab. Vor sexuellen Auswüchsen war und ist keine Armee der Welt gefeit. Über den Einzug der US-Soldaten in Paris Ende August 1944 wird berichtet: „Im Viertel Pigalle, das bei den GIs bald nur noch »Pig Alley« [Schweineallee] hieß, bedienten die Prostituierten pro Tag über 10.000 Männer. Schockiert waren die Franzosen auch, wenn sie US-Soldaten betrunken auf den Gehsteigen an der Place Vendôm herumliegen sahen. Der Kontrast zum Verhalten der deutschen Soldaten in ihrer Freizeit, denen es sogar verboten war, auf der Straße zu rauchen, konnte größer nicht sein.“83

Notzuchtverbrechen verüben schließlich auch Angehörige der Westalliierten beim Einmarsch ins Reich. Aber eben in ungleich geringeren Dimensionen, die jeden Vergleich mit der monströsen „Befreiung“ durch die Rote Armee ad absurdum führen. Rotarmisten sollen allein in Berlin binnen weniger Wochen rund 100.000 Frauen geschändet haben, wovon bis zu 10.000 an den Folgen gestorben seien.84

Eine alte Wahrheit bleibt ebenso, dass beide Verbrechen, der Holocaust durch die Deutschen und die Massenvergewaltigungen der Russen, zwar nicht zum Gleichsetzen und Aufrechnen taugen. Aber sie sind von der jeweiligen Führung geplant beziehungsweise geduldet worden. Die Wehrmacht muss 1941 ein Riesengebiet mit schwachen Kräften kontrollieren. Dazu bietet sich das Instrument des Terrors, vorzugsweise gegen Juden und Kommissare, an. So kann der Hass vieler Balten allein auf diese „Sündenböcke“ gebündelt werden, um gar nicht erst Widerstand gegen die neuen Besatzer aufkommen zu lassen. Die scharfsinnige Gräfin Dönhoff hat die Anziehungskraft der Nazis auf die einfache Formel gebracht: Erfolg plus Terror. Man mag die neuen Herren nicht lieben, aber fürchten und respektieren schon!

Bei den Russen wiederum geht es 1945 darum, den deutschen Osten systematisch zu entvölkern. Schließlich haben die Alliierten beschlossen, Preußen, Schlesien und Pommern an die Polen sowie Königsberg an die Sowjets zu übergeben. Dazu muss die deutsche Bevölkerung vertrieben werden. Und auch hier scheint Terror das geeignete Instrument. Die Führung der Roten Armee lässt die Zügel zunächst ganz bewusst schleifen und ihre Soldaten tun, wonach ihnen beliebt. Kalkül trifft Lustgefühl. Im Februar 1945, auf der Konferenz in Jalta, beschwichtigt Stalin Churchill, als der britische Premier Bedenken gegen die Aussiedelung von zehn Millionen bekundet, mit der zynischen Aussage: „Wo unsere Truppen hinkommen, da laufen die Deutschen weg.“

Wenig Disziplin und viel Alkohol plus eine ebenso primitive wie effektive Hass-Propaganda gegen alles Deutsche ergeben die gefährlichen Zutaten für einen tödlichen Cocktail. Wochen später, als die „Manneszucht“ und militärische Disziplin längst massiv unter den Folgen der Ausschreitungen leidet, lässt sich der entfesselte Terror nicht mehr unter Kontrolle bringen. Die Gewalt rast. Zum Nutzen der deutschen Führung, die den Kampfgeist der eigenen Truppe effektiv anstacheln kann, indem sie die Massenverbrechen des Gegners propagandistisch mit allen Mitteln ausschlachtet. Neue Forschungen kommen zu dem erschütternden Ergebnis, dass Angehörige der Roten Armee beim Einmarsch ins Reich bis zu 100.000 Zivilisten ermordet85 und womöglich jede fünfte Frau im Osten (bis zu zwei Millionen) geschändet haben. Zwar müssen sämtliche Zahlenangaben mit Vorsicht behandelt werden. Aber an der flächendeckenden Orgie der Gewalt bestehen keine Zweifel.

Bezeichnenderweise erstrecken sich die Massenvergewaltigungen nicht allein auf deutsches Gebiet. Auch in Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und sogar Polen gibt es diese Verbrechen, wenngleich in geringerer Zahl. Als sich der jugoslawische Kommunist Milovan Djilas bei Stalin über die Schändungen seiner Landsfrauen durch Rotarmisten beschwert, antwortet der Despot ungerührt: „Nun, dann stellen Sie sich einen Mann vor, der auf dem ganzen Weg von Stalingrad nach Belgrad gekämpft hat [...] Wie kann ein solcher Mann noch normal reagieren? Und was ist schon dabei, wenn er sich mit einer Frau amüsiert, nach all den Schrecknissen?“86

Solche Männer schrecken, laut den Beobachtungen von Wassili Grossman, selbst davor nicht zurück, ins Reich verschleppte sowjetische Zwangsarbeiterinnen nach der Befreiung „oft“ zu vergewaltigen. Ein Armeeberichterstatter bezeugt, „die Mädchen hätten recht gut ausgesehen, bis unsere Soldaten kamen“.87

Die Rote Armee ist eben zu allen Zeiten auch eine ziemlich rohe Armee gewesen. Der sowjetische General Grigorenko bestätigt die „unmenschliche Devise“ des Regimes, als er die Einstellung gegenüber den eigenen Soldaten mit den Worten charakterisiert: „Menschenleben dürfen nicht geschont werden.“88

Was mag da erst der Feind zu gewärtigen haben? Und es ist eine Legende, dass die Verbrechen im deutschen Osten hauptsächlich den Nachschubtruppen anzulasten seien. Als Haupttäter dürfen vielmehr die Rotarmisten der Schützendivisionen gelten, die als klassische Infanterie den Panzern folgen. Wer jeden Tag an der Schwelle zur Hölle steht, Kameraden in Massen verrecken sieht und nach der Mutter schreien hört, den Brandgeruch immer in der Nase hat, denkt eben in anderen Kategorien, als ein Nachkriegshistoriker, der sich in der populären Pauschalschuld-Attitüde gefällt und den Opfern pädagogische Vorträge darüber hält, wie seine Peiniger wohl gedacht haben mögen. Vielleicht steht den völlig verrohten Kriegsknechten der durch Alkohol getrübte Sinn ja einfach nur nach noch mehr Suff und Sex in diesem kleinen bisschen Leben, das bis morgen noch blieb – wenn nicht schon vorher eine Kugel, Granate oder Bombe den Weg kreuzt. „Nach all den Schrecknissen“ nimmt Iwan jedenfalls nicht allein Uhren als Kriegsbeute, sondern ebenso Frauen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dass man beim Plündern, Brandschatzen, Vergewaltigen, Morden auch Rache als Tatmotiv vorschützen kann, trifft sich umso besser.

Aber auch in jenem katastrophenreichen Winter und Frühjahr 1945 gibt es Täter, unbeteiligt Beteiligte, Unschuldige. Und sogar Retter und Helfer. Den Angehörigen der Roten Armee ist genauso wenig mit Pauschalurteilen beizukommen wie denen der Wehrmacht. Das Schizophrene an der deutschen Debatte ist, dass die Verbrechen der ehemaligen Gegner quasi als gerechte Folge der eigenen Schandtaten verstanden werden. Man begnadigt die Täter. Denn schließlich hatte die Wehrmacht Russland angegriffen und nicht die Rote Armee das Reich. Also schreit man es pauschal allen Menschen, die damals fürchterlich litten, politisch korrekt ins Gesicht:

„Ihr seid doch selbst schuld gewesen – wer Wind sät, wird Sturm ernten!”

Und da steht nun auch, in jenem eiskalten Winter 1945, die zitternde Kleine am Postamt im ostpreußischen Allenstein, die Lew Kopelew, der russische Schriftsteller, sieht und später so beschreiben wird: „Weißblonde Zöpfe, ein verweintes Gesicht, und die hellen Strümpfe an ihren langen Fohlenbeinchen sind blutig.”89

Blutig von zwei Vergewaltigungen. Die Kleine ist 13 Jahre alt. Ob sie unser Geschrei wohl versteht?

*

Als der SPIEGEL besagten Artikel über Hitlers Komplizen veröffentlicht, setzt teils lauter Protest aus den beteiligten Ländern ein. Es kann auch keinen Zweifel geben, dass Deutsche die Verantwortung für den Holocaust tragen. Dass aber jene 3.000 SS-Männer der Einsatzgruppen, die am 23. Juni zum Morden gen Osten ziehen, 1941 als Alleintäter eine Blutspur von rund einer halben Million Leichen hinterlassen werden, ist eine Legende. Himmlers Killer können sich auf viele Komplizen, unter anderem im Baltikum, in der Ukraine, in Weißrussland und auch in Polen berufen. Auf über 200.000 wird die Zahl der am Holocaust beteiligten Nichtdeutschen geschätzt. Dazu kommen die Rumänen, auf deren Konto nicht weniger als 350.000 Judenmorde gehen. Allein nach dem Fall Odessas, zwischen dem 23. und 25. Oktober 1941, werden etwa 25.000 Menschen von den verbündeten südosteuropäischen Truppen umgebracht. Ein vielfach totgeschwiegenes Kapitel des Vernichtungskrieges.

Zwar schmerzen Schuldbekenntnisse, aber in der Scham über die eigene Schande steckt auch Größe. Ein Reifeprozess, der so frucht- wie furchtbar ist. Wer kann schon solch beschämende Szenen, wie jene aus dem besetzten Bialystok vom 27. Juni 1941 ertragen? An diesem Tag läuft das deutsche Polizei-Bataillon 309 nach ein paar Scharmützeln regelrecht Amok und jagt – vermeintlich aus Vergeltung für „Heckenschützen“ – die jüdische Bevölkerung der weißrussischen Stadt. Es wird vergewaltigt, erschossen. Schließlich treiben Angehörige der 500 Köpfe zählenden, teils betrunkenen Truppe 700 Juden durch die Straßen. Die Opfer, allesamt Männer, werden in die Synagoge gesperrt und lebendigen Leibes verbrannt. Als sich nach dem Massaker einige überlebende Juden vor die Füße des Kommandeurs der 221. Sicherungsdivision, Generalleutnant Pflugbeil, werfen und um Gnade winseln, geschieht das Unfassbare: Einer der Polizisten öffnet spontan seine Hose und pinkelt auf die daliegenden, flehenden Menschen. Und was macht der Herr General? Er dreht sich auf dem Fuße um und verschwindet ohne jeden Kommentar! Der folgt erst nachträglich im Kriegstagebuch der 221. Sicherungsdivision, einem Verband der Wehrmacht. Pflugbeil spricht „allen beteiligten Einheiten seine vollste Anerkennung“ für den Einsatz aus. Gut 2.000 Menschenleben kostet der Pogrom in Bialystok.90

Ja, diese Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit tut richtig weh. Ein Kampf, den die Deutschen teils bis zur Selbstverleugnung geführt haben. Muss man sich wirklich noch für die eigenen Opfer schämen und alle fremden Täter verteidigen? Der jüdische Schauspieler Michael Degen, der als Kind die alliierten Luftangriffe auf Berlin erlebt, rechtfertigt dennoch die Massenvernichtung deutscher Zivilisten. Er sprach im TV vom „humanen Töten“.91 Im Gegensatz zu den Menschen in Auschwitz, hätten jene Berliner schließlich gewusst, wofür sie starben. Wirklich? Zumindest die Säuglinge und Kleinkinder ahnten nicht, wofür sie erstickten, verbrannten, verbluteten. Und viele andere verdienten es nicht. Bomben ticken nicht human – sie hätten auch Michael Degen und seine Mutter Anna töten können; oder jene mutigen Berliner, die ihnen und anderen Juden Unterschlupf gewährten. Nein, man soll nicht gutheißen, was niemals zu rechtfertigen sein wird.

Dazu gehören auch die alliierten Luftangriffe, die weder den Krieg entscheidend noch gar den Holocaust verkürzen, dafür aber unzählige Unschuldige ins Unglück stürzen. Speziell in den letzten Monaten des Dritten Reiches, als die harten Ziele knapp werden, weil Deutschland bereits „overbombed“ ist. Selbst britische Experten, darunter der renommierte Schriftsteller Richard Overy, nennen mittlerweile ganz offen den eigentlichen Zweck der „Terrorangriffe“: Strafen. Ohne Unterschied. Schuldige wie Unschuldige. Weiche Ziele. Also fliegen alliierte Jagdflugzeuge sogar Tieffliegerangriffe auf einzelne Frauen und Kinder, die auf dem Feld arbeiten. Oder die Piloten töten Zehntausende Zivilisten an einem einzigen Tag, wie beim verfluchten Bombardement auf Swinemünde.92 Und das noch am 12. März 1945! Militärisch längst bedeutungslos, kostet das Massaker vielen Frauen, Kindern und Alten, die vor den Verbrechern der Roten Armee fliehen, das Leben. Nein, nur die Opfer selbst können die Untaten der Soldaten verzeihen – auf allen Seiten.


BArch, 146-197-068-14

Generalfeldmarschall Ritter von Leeb (M.), Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, und Generaloberst Erich Hoepner (2. v.r.), Führer der Panzergruppe 4.


BArch, 101I-209-0086-12

General der Infanterie von Manstein (M.), Kommandeur des LVI. Panzerkorps, und Generalmajor Brandenberger (l.), Führer der 8. Panzerdivision.


Fotos: BArch, 101III-Wiegand-116-03 (l.)/121-1132 (o.)

SS-Gruppenführer Eicke (l.), Kommandeur der SS-Totenkopf. SS-Gruppenführer Arthur Mülverstedt (r.), Führer der SS-Polizei-Division. Beide fallen im Osten.


BArch, 101I-502-0183-08

Oberleutnant Rudel vom Stuka-Geschwader 2 versenkte das Schlachtschiff „Marat“.


BArch, 101I-393-1409-02

Die Ju 87, der „Stuka“ – ein sehr treffgenauer Bomber. Im Hintergrund eine Ju 52 im Anflug.


BArch, 101I-212-0234-39A

Am 8. September 1941 beginnt der Großangriff auf Leningrad. Deutsche Infanterie rückt in aufgelockerter Formation gegen das Vorfeld der Metropole vor.


BArch, 146-1992-021-17

Filmtruppführer Leutnant Klier fällt am 21.9.1941 auf der Ostseeinsel Ösel.


BArch, 146-1974-099-51

Gefallene Rotarmistin, von den Landsern verächtlich „Flintenweib“ genannt.


BArch, B 162 Bild-02615

Dezember 1941: Entwürdigende Szenen vor der Erschießung von Jüdinnen in Libau.


BArch, 101I-286-0813-34

Deutsche Soldaten exekutieren echte oder vermeintliche Partisanen.


Fotos Barch, 101I-186-0160-11 (l.)/101I-186-0160-12 (M.)/101I-186-0160-13 (r.)

Nicht nur SS und Wehrmacht verüben Massenverbrechen. Vor allem im Baltikum und in der Ukraine (Fotos) kommt es zu brutalen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.


BArch, 101I-464-03831-35

Gegen Ende des Krieges richtet sich die Gewalt auch gegen deutsche Zivilisten, wie im Oktober 1944 in Nemmersdorf.


BArch, 101I-268-0154-17A

Bei aller Grausamkeit gibt es ebenso Szenen der Barmherzigkeit: Ein Landser verbindet eine verletzte russische Mutter.

64 SPIEGEL, Heft Nr. 21/2009, S. 82

65 Hubatsch, Die 61. Infanterie-Division, S. 18

66 Tagebucheintrag d. SS-Polizei- und Standortführers Fritz Dietrich vom 17.12.1941

67 Carell, Unternehmen Barbarossa, S. 32/197

68 Schadewitz, Die Traditionstruppenteile des Panzerbataillons 194, S. 185

69 Schmidt-Scheeder, Reporter der Hölle, S. 224 f.

70 Zum Beispiel die B-Patrone, erwähnt in Allerberger, Im Auge des Jägers, S. 163

71 Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 134

72 Ueberschär, Generaloberst Franz Halder, S. 57

73 Killian, Im Schatten der Siege, S. 19

74 Merridale, Iwans Krieg, S. 167

75 Hundrieser, Grünes Herz in Feldgrau, S. 84 f.

76 Hubatsch, Die 61. Infanterie-Division, S. 21/105/109

77 Hundrieser, Grünes Herz in Feldgrau, S. 87

78 Hubatsch, Die 61. Infanterie-Division, S. 33

79 von der Osten-Sacken, Vier Jahre Barbarossa, S. 14

80 Dieses Los traf u.a. Hannelore Renner, Jahrgang 1933, Ehefrau des Bundeskanzlers Helmut Kohl

81 Militärgeschichtliches FA, Das Deutsche Reich u. der Zweite Weltkrieg, 10/1, S. 682/730

82 Mühlhäuser, Eroberungen. Sex. Gewalttaten dtsch. Soldaten i. d. Sowjetunion 41-45

83 Beevor, D-Day, S. 546

84 Beevor, Berlin 1945 Das Ende, S. 445

85 Militärgeschichtliches FA, Das Deutsche Reich u. der Zweite Weltkrieg, 10/1, S. 717/781

86 Overy, Russlands Krieg 1941-1945, S. 399

87 Beevor, Berlin 1945 Das Ende, S. 80/81

88 Militärgeschichtliches FA, Das Deutsche Reich u. der Zweite Weltkrieg, 4, S. 780

89 Merridale, Iwans Krieg, S. 341

90 Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S, 276

91 Spiegel Geschichte, Als Feuer vom Himmel fiel – Der Bombenkrieg in Deutschland

92 Friedrich, Der Brand, S. 172

Als der Osten brannte

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