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3 Die Amenartasscherbe
ОглавлениеAm Tag vor Leos fünfundzwanzigstem Geburtstag fuhren wir nach London und holten von der Bank den vor zwanzig Jahren deponierten Kasten ab. Der gleiche Angestellte, dem ich ihn damals übergeben hatte, händigte ihn mir aus. Er erinnerte sich genau, wo er ihn untergestellt hatte. Hätte er das nicht mehr gewußt, so wäre es ihm schwergefallen, ihn zu finden, denn er war über und über mit Spinnweben bedeckt.
Am Abend kehrten wir mit unserer kostbaren Last nach Cambridge zurück. Wir taten beide in dieser Nacht vor Aufregung kaum ein Auge zu, und schon in aller Frühe erschien Leo im Schlafrock in meinem Zimmer und bat mich, sofort ans Werk zu gehen. Ich fand diese Neugier unziemlich und sagte ihm, der Kasten habe zwanzig Jahre lang gewartet, und so könne er wohl jetzt auch noch bis nach dem Frühstück warten. Um Punkt neun Uhr setzten wir uns an den Frühstückstisch, und ich war so in Gedanken versunken, daß ich statt seines Zuckerwürfels ein Stück Schinken in Leos Tee warf. Auch Job wurde von der Erregung angesteckt und zerbrach den Henkel meiner wertvollen Teetasse aus Sevres-Porzellan, aus der Marat seinen Tee getrunken haben soll, bevor er im Bad erstochen wurde.
Endlich war abgeräumt. Job holte auf meine Anweisung den Kasten, stellte ihn behutsam, als traue er der ganzen Sache nicht recht, auf den Tisch und wollte das Zimmer verlassen.
»Warte, Job«, sagte ich. »Wenn Mr. Leo nichts dagegen hat, so hätte ich gern einen unparteiischen Zeugen dabei, der den Mund halten kann.«
»Einverstanden, Onkel Horace«, erwiderte Leo, der mich seit seiner Kindheit ›Onkel‹ zu nennen pflegte.
Job salutierte scherzhaft, indem er sich mit der Hand an die Schläfe tippte.
»Verschließe die Tür, Job«, sagte ich, »und hole meine Dokumentenmappe.«
Er brachte sie, und ich entnahm ihr die Schlüssel, die mir Vincey, Leos armer Vater, in der Nacht vor seinem Tode übergeben hatte. Es waren drei – der größte ein verhältnismäßig moderner Schlüssel, der zweite uralt und der dritte ein ganz merkwürdiges Ding, wie ich es nie zuvor gesehen hatte: er bestand aus massivem Silber, hatte eine als Griff dienende Querstange, in die mehrere Kerben eingeschnitten waren, und ähnelte so einem vorsintflutlichen Schraubenschlüssel.
»Seid ihr bereit?« fragte ich, als wollte ich eine Mine sprengen. Da beide schwiegen, nahm ich den großen Schlüssel, strich etwas Salatöl auf den Bart, steckte ihn, nachdem meine zitternde Hand zweimal danebengetroffen hatte, ins Schloß und drehte ihn herum. Leo beugte sich vor, packte mit beiden Händen den Deckel und klappte ihn auf, was ihn einige Mühe kostete, da offenbar die Scharniere eingerostet waren. Ein zweiter, ebenfalls dick mit Staub bedeckter Kasten stand darin. Wir nahmen ihn ohne Schwierigkeiten heraus und säuberten ihn mit einer Kleiderbürste.
Er schien aus Ebenholz oder einem anderen ähnlich festen schwarzen Holz zu bestehen und war auf allen Seiten von schmalen Eisenbändern umschlossen. Da das schwere Holz an manchen Stellen schon ganz morsch und bröcklig war, mußte er ungeheuer alt sein.
»Nun diesen«, sagte ich und führte den zweiten Schlüssel ein.
Job und Leo beugten sich in atemloser Spannung vor. Der Schlüssel drehte sich, ich hob den Deckel und stieß einen Schrei aus – kein Wunder, denn in dem Ebenholzkasten stand ein wunderbares Silberkästchen, etwa zwölf Zoll breit und acht Zoll hoch. Es schien eine ägyptische Arbeit zu sein, denn die vier Füße stellten Sphinxe dar, und auch der gewölbte Deckel trug eine Sphinx. Das Kästchen war natürlich infolge seines hohen Alters voller Flecken und Beulen, doch ansonsten recht gut erhalten.
Ich hob es heraus, stellte es auf den Tisch, steckte unter tiefem Schweigen den merkwürdigen Silberschlüssel hinein und drehte ihn vorsichtig hin und her, bis das Schloß endlich nachgab und das Kästchen offen vor uns stand. Es war bis zum Rand mit Schnitzeln aus irgendeinem braunen Material gefüllt, das eher Pflanzenfasern als Papier glich. Als ich eine etwa drei Zoll dicke Schicht entfernte, stieß ich auf einen Brief in einem gewöhnlichen modernen Umschlag, auf dem in der Schrift meines Freundes Vincey stand:
»An meinen Sohn Leo, falls er dieses Kästchen öffnet.«
Ich gab den Brief Leo, der einen Blick auf den Umschlag warf, ihn auf den Tisch legte und mir bedeutete fortzufahren.
Als nächstes kam ein sorgfältig zusammengerolltes Pergament zum Vorschein. Ich rollte es auf und sah, daß es ebenfalls von Vincey beschrieben war und die Überschrift trug: ›Übersetzung der griechischen Unzialschrift auf der Scherbe.‹ Nachdem ich es neben den Brief gelegt hatte, nahm ich eine zweite, stark vergilbte und zerknitterte Pergamentrolle heraus. Als ich sie aufrollte, stellte ich fest, daß es gleichfalls eine Übersetzung der griechischen Unzialschrift war, jedoch in Mönchslatein; Stil und Form der Lettern deuteten darauf hin, daß sie aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammten. Unter dieser Rolle lag auf einer zweiten Schicht des faserigen Materials ein harter, schwerer, in gelbe Leinwand gehüllter Gegenstand. Langsam und behutsam entfernten wir das Leinen und fanden darunter eine sehr große, ohne Zweifel überaus alte Scherbe von schmutziggelber Farbe. Sie schien von einer mittelgroßen Amphora zu stammen und war zehneinhalb Zoll lang, sieben Zoll breit, etwa einen viertel Zoll dick und auf der Außenseite dicht mit einer stellenweise verblichenen, doch größtenteils gut lesbaren griechischen Unzialschrift bedeckt, die mit größter Sorgfalt ausgeführt war, offenbar mittels einer Rohrfeder, deren sich die Alten häufig zu bedienen pflegten. Irgendwann vor langer Zeit war dieses wunderbare Fragment einmal in zwei Stücke zerbrochen und mit Zement und acht langen Nieten wieder zusammengefügt worden. Auch auf der Innenseite befanden sich zahlreiche Inschriften, die jedoch von der verschiedensten Art waren, also anscheinend von verschiedenen Händen und aus verschiedenen Zeiten stammten.
»Ist noch mehr drin?« flüsterte Leo aufgeregt.
Ich tastete herum und holte etwas Hartes hervor, das in einen kleinen Leinenbeutel eingenäht war. Darin befanden sich ein hübsches Miniaturbild aus Elfenbein und ein kleiner schokoladenbrauner Skarabäus, der diese Symbole trug:
Wie wir später feststellten, bedeuteten sie ›Suten se Ra‹, daß heißt: ›Königlicher Sohn Ras oder der Sonne.‹ Das Miniaturbild stellte Leos Mutter dar – eine hübsche dunkeläugige Griechin. Auf der Rückseite stand in Vinceys Handschrift: »Mein geliebtes Weib.«
»Das ist alles«, sagte ich.
»Gut«, erwiderte Leo und legte das Bild, das er zärtlich betrachtet hatte, hin. »Nun laß uns den Brief lesen.« Ohne Zögern erbrach er das Siegel und las uns folgendes vor:
»Mein Sohn Leo! Wenn Du diesen Brief öffnest, hast Du das Mannesalter erreicht, und ich bin schon so lange tot, daß fast alle, die mich kannten, mich vergessen haben werden. Bedenke jedoch, wenn Du dies liest, daß ich gewesen bin und – wer weiß? – vielleicht noch bin, daß ich Dir durch diesen Brief über den Abgrund des Todes die Hand reiche und aus der Stille des Grabes zu Dir spreche. Obwohl ich tot bin und Du Dich meiner nicht erinnerst, bin ich in der Stunde, da Du dieses liest, dennoch bei Dir. Seit Deiner Geburt bis zum heutigen Tage habe ich Dein Gesicht kaum gesehen. Vergib mir das, mein Sohn. Dein Leben kostete das Leben einer Frau, die ich von ganzem Herzen liebte, und der Schmerz darüber erfüllt mich heute noch. Wäre ich am Leben geblieben, so hätte ich dieses törichte Gefühl gewiß überwunden; doch es ist mir nicht beschieden weiterzuleben. Meine Leiden, körperlich und geistig, übersteigen meine Kraft, und sobald ich alle Vorkehrungen für Dein künftiges Wohlergehen getroffen habe, gedenke ich ihnen ein Ende zu bereiten. Möge Gott mir verzeihen, falls ich unrecht handle. Doch mir ist ohnedies bestenfalls nur noch ein Jahr beschieden.«
»Er hat also Selbstmord begangen«, rief ich aus. »Dacht' ich's mir doch!«
»Doch nun genug von mir«, las Leo, ohne darauf einzugehen, weiter. »Was ich noch zu sagen habe, soll Dir, dem Lebenden, gelten – nicht mir, dem Toten, der schon so vergessen ist, als hätte er niemals gelebt. Mein Freund Holly (dem ich Dich, wenn er damit einverstanden ist, anvertrauen werde) wird Dir wohl von dem ungewöhnlich hohen Alter Deines Geschlechts erzählt haben. In diesem Kästchen findest Du genügend Beweise dafür. Die Scherbe mit der von Deiner fernen Ahne niedergeschriebenen Legende hat mir mein Vater auf seinem Totenbett übergeben, und seither hat sie unablässig meine Phantasie beschäftigt. Schon mit neunzehn Jahren beschloß ich, gleich einem unserer Vorfahren zur Zeit der Königin Elisabeth, den dieser Entschluß ins Unglück stürzte, ihr Geheimnis zu ergründen. Was ich dabei erlebte, kann ich hier nicht näher schildern, doch dies habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen: An der Küste Afrikas, in einer bisher unerforschten Gegend nördlich der Sambesimündung, befindet sich ein Vorgebirge, an dessen äußerster Spitze ein Fels aufragt, der, ganz wie ihn die Inschrift schildert, die Form eines Negerkopfes hat. Als ich dort landete, erfuhr ich von einem umherziehenden Eingeborenen, der wegen eines Verbrechens von seinem Stamm ausgestoßen worden war, daß es tief im Landesinnern große becherförmige Gebirge und von endlosen Sümpfen umgebene Höhlen gibt. Er berichtete mir weiter, daß die Leute dort eine arabische Mundart sprechen und von einer schönen weißen Frau beherrscht werden, die sie nur selten zu Gesicht bekommen, die aber über alle Lebende und Tote Macht haben soll. Zwei Tage, nachdem er mir dies erzählt hatte, starb dieser Mann an einem Fieber, welches er sich beim Durchqueren der Sümpfe zugezogen hatte, und Mangel an Lebensmitteln und die Symptome einer Krankheit, die mich später aufs Lager warf, zwangen mich, zu meiner Dhau zurückzukehren. Von den Abenteuern, die ich danach erlebte, will ich hier nicht sprechen. An der Küste Madagaskars erlitt ich Schiffbruch und wurde nach einigen Monaten von einem englischen Schiff gerettet, das mich nach Aden brachte. Von dort begab ich mich in der Absicht, nach gründlichen Vorbereitungen meine Expedition fortzusetzen, nach England. Unterwegs machte ich in Griechenland Station, wo ich – ›omnia vincit amor‹ – Deine geliebte Mutter kennenlernte und heiratete, wo Du geboren wurdest und sie starb. Damals befiel mich meine jetzige Krankheit, und ich kehrte nach England zurück, um zu sterben. Trotz allem gab ich die Hoffnung jedoch nicht auf und begann Arabisch zu lernen, um, falls ich doch wieder gesunden sollte, wieder nach Afrika zu gehen und das Rätsel, das so viele Jahrhunderte in unserer Familie überliefert wurde, zu lösen. Ich bin jedoch nicht gesund geworden, und damit ist die Geschichte für mich zu Ende. Nun liegt alles an Dir, mein Sohn, und so übergebe ich Dir die Ergebnisse meiner Arbeit und die er erbten Beweise für ihren Ursprung. Ich werde Vorsorge treffen, daß sie erst in Deine Hände gelangen, wenn Du ein Alter erreicht hast, in dem Du imstande sein wirst zu entscheiden, ob Du das größte Rätsel der Welt entschleiern oder das Ganze als eine dumme Fabel, entsprungen dem zerrütteten Gehirn einer Frau, abtun willst. Ich glaube nicht, daß es eine Fabel ist; ich glaube, daß es einen Ort gibt, wo die Lebenskräfte der Welt sichtbar existieren, und daß dieser Ort aufzuspüren ist. Das Leben gibt es; warum sollte es nicht auch Mittel geben, es unendlich zu verlängern? Ich möchte Dich jedoch keineswegs beeinflussen. Lies und urteile selbst. Entschließest Du Dich, das Rätsel zu lösen, so habe ich dafür gesorgt, daß Dir die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Solltest Du jedoch zu der Überzeugung gelangen, daß das Ganze eine Schimäre ist, so beschwöre ich Dich, vernichte die Scherbe und die Schriften und erlöse dadurch unser Geschlecht für immer von diesem unseligen Erbe. Vielleicht wäre es das klügste. Das Unbekannte gilt stets als schrecklich, nicht weil die Menschen von Geburt abergläubisch sind, sondern weil es oft in der Tat schrecklich ist. Wer sich mit den ungeheuren geheimen Kräften, welche die Welt beleben, befaßt, kann ihnen leicht zum Opfer fallen. Und wenn Du das Ziel erreichen solltest, wenn Du aus dieser Prüfung in ewiger Jugend und Schönheit, gefeit gegen Zeit und Leid, enthoben dem natürlichen Verfall von Fleisch und Geist, hervorgehen solltest – wer vermag zu sagen, ob Dir dies zum Glück gereichen würde? Wähle, mein Sohn, und möge die Macht, die alle Dinge lenkt und die da sagt: ›Bis hierher und nicht weiter!‹ Deine Wahl zum Glück für Dich und die Welt lenken, die Du, falls Du Erfolg hast, eines Tages gewiß allein durch die Kraft Deiner ungeheuren Erfahrung beherrschen würdest. – Lebe wohl!«
So endete jäh der Brief, der keine Unterschrift und kein Datum trug.
»Was hältst du davon, Onkel Holly?« sagte Leo mit bebender Stimme, als er ihn auf den Tisch legte. »Wir haben ein Geheimnis erwartet; nun haben wir, scheint's, eins gefunden!«
»Was ich davon halte? Offen gesagt – daß dein armer Vater nicht ganz bei Verstand war«, erwiderte ich gereizt. »Ich dachte mir das schon an jenem Abend vor zwanzig Jahren, als er in mein Zimmer trat. Du siehst ja selbst, der Arme hat sein Ende selbst beschleunigt. Es ist der reinste Unsinn.«
»Ganz recht, Sir«, sagte feierlich Job, der ein höchst nüchterner Wirklichkeitsmensch war.
»Nun, immerhin sollten wir nachsehen, was auf der Scherbe steht«, sagte Leo, nahm die von seinem Vater stammende Übersetzung und las vor:
»Ich, Amenartas, aus dem Königlichen Hause der Pharaonen Ägyptens, Frau des Kallikrates (des durch Schönheit Starken), eines Priesters der Isis, welche die Götter lieben und die Dämonen fürchten, verkünde, dem Tode nahe, meinem kleinen Sohn Tisisthenes (dem Mächtigen Rächer): Ich floh mit Deinem Vater in den Tagen des Nectanebes* aus Ägypten und bewog ihn, aus Liebe zu mir sein Gelübde zu brechen. Wir flohen südwärts übers Meer und wanderten zweimal zwölf Monde an der Küste Libyens (Afrika), die der aufgehenden Sonne zugewandt ist und wo an einem Flusse sich ein großer Fels erhebt, geformt wie der Kopf eines Äthiopiers. Vier Tage weit von der Mündung des Flusses erlitten wir Schiffbruch. Einige ertranken, andere erkrankten und starben. Uns beide jedoch führten wilde Männer durch Wüsten und Sümpfe, über denen Schwärme von Seevögeln den Himmel verdunkelten, und nach zehn Tagen gelangten wir an einen hohlen Berg, wo die Ruinen einer großen Stadt stehen und wo es Höhlen gibt, deren Ende noch kein Mensch gesehen hat; und sie brachten uns zur Königin des Volkes, das Fremden Töpfe auf die Köpfe setzt, einer Zauberin, die um alle Dinge weiß und deren Leben und Schönheit ewig ist. Und sie blickte auf deinen Vater Kallikrates mit Augen der Liebe und wollte mich töten und ihn zum Manne nehmen, doch er liebte mich und fürchtete sie und wies sie ab. Da führte sie uns durch schwarze Magie auf schrecklichen Wegen zu der großen Schlucht, an deren Eingang tot der alte Philosoph lag, und zeigte uns die Flammensäule des Lebens, die nie erlischt und deren Stimme die Stimme des Donners ist; und sie trat in die Flammen und trat unversehrt und noch schöner daraus hervor. Dann schwor sie, deinen Vater unsterblich wie sich selbst zu machen, wenn er mich tötete und sie zum Weibe nähme, denn mich konnte sie nicht töten, weil sie gegen die Zauberkraft meines Volkes machtlos war. Und er hielt seine Hand vor die Augen, um ihre Schönheit nicht zu sehen, und widerstand ihr. Da tötete sie ihn in ihrem Zorn mit ihrer Zauberkraft; doch dann weinte sie um ihn und trug ihn fort mit lauten Klagen. Da sie mich fürchtete, schickte sie mich zur Mündung des großen Flusses, wohin die Schiffe kommen, und auf einem dieser Schiffe, das mich weit forttrug, wurdest Du geboren, und nach vielen Wanderungen kam ich endlich nach Athen. Nun sage ich Dir, mein Sohn Tisisthenes: Suche diese Frau auf und ergründe das Geheimnis des Lebens, und wenn Du kannst, räche Deinen Vater Kallikrates und töte sie; wenn Du Dich aber fürchtest oder es nicht vermagst, so sage ich dies zu allen, die Deinem Samen entsprießen und nach Dir kommen, bis endlich ein Tapferer sich unter ihnen findet, der in den Flammen baden und auf dem Platz der Pharaonen sitzen wird. All die Dinge, von denen ich gesprochen habe, mögen unglaublich sein, doch ich selbst habe sie gesehen, und ich lüge nicht.«
»Möge Gott ihr das verzeihen«, stöhnte Job, der mit offenem Mund gelauscht hatte.
Ich selbst sagte nichts; mein erster Gedanke war, daß mein armer Freund in seiner geistigen Verwirrung sich die ganze Geschichte ausgedacht hatte, obwohl es höchst unwahrscheinlich schien, daß jemand so etwas erfinden konnte. Um meine Zweifel zu beseitigen, nahm ich die Scherbe und begann die griechische Unzialschrift darauf zu lesen, und ich muß sagen, wenn man bedenkt, daß es von einer Ägypterin stammte, war es ein sehr gutes Griechisch. Nachstehend eine genaue Wiedergabe der Inschrift:
Zur besseren Lesbarkeit hier auch eine Wiedergabe in Kursivschrift:
Die Übersetzung Vinceys war, wie ich bei näherer Untersuchung feststellte, genau und elegant.
Auf der nach außen gewölbten Seite der Scherbe, neben der Unzialschrift am oberen Rand, befand sich in mattroter Farbe die gleiche Zeichnung, die wir bereits auf dem ebenfalls in dem Kästchen liegenden Skarabäus gesehen hatten. Die Hieroglyphen oder Symbole waren hier jedoch umgekehrt angeordnet, als seien sie auf Wachs gepreßt gewesen. Ob dies die Kartusche* des Kallikrates oder eines Prinzen oder Pharaos war, von dem seine Frau Amenartas abstammte, vermag ich nicht zu sagen; auch weiß ich nicht, ob sie gleichzeitig mit der griechischen Unzialschrift auf die Scherbe gezeichnet oder erst später von irgendeinem anderen Mitglied der Familie nach dem Skarabäus kopiert wurde. Doch dies war noch nicht alles. Unter der Schrift befand sich, gleichfalls in mattem Rot, die etwas unbeholfene Zeichnung des Kopfes und der Schultern einer Sphinx mit zwei Federn, den Symbolen der Königswürde, die auf den Bildern von heiligen Stieren und Göttern häufig anzutreffen sind, die ich aber noch nie bei einer Sphinx gesehen hatte. Außerdem stand auf der rechten Seite der Scherbe, neben der Unzialschrift, in Rot gemalt und in blauer Farbe unterzeichnet, folgender sonderbarer Vers:
HIMMEL, MEER UND ERDENBALL
BERGEN WUNDER ÜBERALL.
HOC FECIT
DOROTHEA VINCEY.
Zutiefst verblüfft, drehte ich die Scherbe um. Sie war von oben bis unten mit Inschriften und Namen in griechischer, lateinischer und englischer Sprache bedeckt. Die erste, in griechischer Unzialschrift, stammte von Tisisthenes und lautete: ›Ich konnte nicht gehen. Tisisthenes an seinen Sohn Kallikrates.‹ Hier ihre Nachbildung und ihre Wiedergabe in Kursiv:
Dieser Kallikrates, der offenbar nach griechischer Sitte den Namen seines Großvaters trug, versuchte anscheinend das Vermächtnis auszuführen, denn seine stark verblaßte und kaum noch leserliche Eintragung lautete: ›Ich gab die Reise auf, denn die Götter waren gegen mich. Kallikrates an seinen Sohn.‹ Nachstehend die Abschrift:
Zwischen diesen beiden Eintragungen, deren zweite von oben nach unten geschrieben und so schwach und undeutlich war, daß ich sie ohne die von Vincey verfertigte Nachbildung wohl kaum hätte entziffern können, stand der forsche, moderne Namenszug eines Lionel Vincey, ›Aetate sua 17‹, der wohl von Leos Großvater stammte. Rechts davon entdeckte ich die Initialen ›J.B.V.‹ und darunter eine Anzahl griechischer Unterschriften in Unzial- und Kursivschrift sowie mehrmals den Satz ›An meinen Sohn‹, der darauf hindeutete, daß die Scherbe gewissenhaft von Generation zu Generation weitervererbt worden war.
Die nächste lesbare Inschrift nach den griechischen Namenszügen lautete: ›Romae, A.U.C.‹ Sie zeigte, daß die Familie inzwischen nach Rom übersiedelt war. Das Datum ihrer dortigen Niederlassung ist leider mit Ausnahme der Endung CVI für immer verlorengegangen, denn gerade an der Stelle, wo es stand, war ein Stück der Scherbe abgebrochen.
Es folgten sodann zwölf lateinische Unterschriften, die über die ganze Scherbe verstreut waren. Sie alle endeten, mit nur drei Ausnahmen, mit dem Namen ›Vindex‹, ›der Rächer‹, den die Familie nach ihrer Übersiedlung nach Rom anstelle des griechischen Tisisthenes, das gleichfalls ›Rächer‹ bedeutet, angenommen zu haben schien. Dieser Name verwandelte sich sodann in ›De Vincey‹ und schließlich in das einfache, moderne ›Vincey‹. Wie seltsam, daß auf diese Weise der von einer Ägypterin vor Christi Geburt geleistete Racheschwur in einem englischen Familiennamen erhalten blieb!
Einige der römischen Namen auf der Scherbe habe ich später in Geschichtswerken und anderen Annalen wiedergefunden. Es waren, wenn ich mich recht entsinne, die folgenden:
MUSSIUS VINDEX
SEX. VARIUS MARULLUS
C. FUFIDIUS C. F. VINDEX
und
LABERIA POMPEIANA CONIUX MACRINI VINDICIS,
wovon der letzte natürlich der einer römischen Dame war. Die folgende Liste umfaßt sämtliche lateinische Namen auf der Scherbe:
C. CAECILIUS VINDEX
M. AIMILIUS VINDEX
SEX. VARIUS MARULLUS
Q. SOSIUS PRISCUS SENECIO VINDEX
L. VALERIUS COMINIUS VINDEX
SEX. OTACILIUS M. F.
L. ATTIUS VINDEX
MUSSIUS VINDEX
C. FUFIDIUS C. F. VINDEX
LICINIUS FAUSTUS
LABERIA POMPEIANA CONIUX MACRINI VINDICIS
MANILIA LUCILLA CONIUX MARULLI VINDICIS
Auf diese römischen Namen folgt offenbar eine Lücke von mehreren Jahrhunderten. Nie wird sich in Erfahrung bringen lassen, was mit der Scherbe in jenen dunklen Zeiten geschah und wie es kam, daß sie von der Familie aufbewahrt wurde. Wie man sich entsinnen wird, hatte mein armer Freund Vincey mir erzählt, daß seine römischen Vorfahren sich später in der Lombardei niederließen und dann, als Karl der Große in diese einfiel, mit ihm über die Alpen zogen und sich in der Bretagne ansiedelten, von wo sie unter der Herrschaft Edwards des Bekenners nach England übersiedelten. Woher er dies alles wußte, ist mir nicht bekannt, denn auf der Scherbe findet sich kein Hinweis auf die Lombardei oder Karl den Großen, während, wie man gleich sehen wird, die Bretagne erwähnt wird. Doch weiter: Die nächsten Eintragungen auf der Scherbe, wenn man von einem länglichen Fleck aus Blut oder roter Farbe absieht, sind zwei rote Kreuze, die wohl Kreuzfahrerschwerter darstellen, und ein zierliches in Scharlach und Blau gemaltes Monogramm (›D.V.‹), welches vielleicht von der gleichen Dorothea Vincey stammt, die den bereits erwähnten Vers schrieb. Links davon standen in blassem Blau die Initialen ›A.V.‹ und das Datum 1800.
Dann folgte die vielleicht merkwürdigste Inschrift auf diesem ungewöhnlichen Relikt. Sie ist in gotischen Buchstaben und lateinischer Sprache abgefaßt, läuft quer über die Kreuze oder Kreuzfahrerschwerter hinweg und trägt das Datum 1445. Wir entdeckten außerdem, was noch sonderbarer ist auf einer zweiten Pergamentrolle in dem Kästchen eine gleichfalls in gotischen Buchstaben verfaßte Übersetzung der lateinischen Inschrift. Nachstehend ist sie wiedergegeben. Lateinische Inschrift auf der Scherbe:
Modernisierte Schriftform dieser Inschrift:
»Ista reliquia est valde misticum et myrificum opus, quod majores mei ex Armorica, scilicet Britannia Minore, secum convehebant; et quidam sanctus clericus semper patri meo in manu ferebat quod penitus illud destrueret, affirmans quod esset ab ipso Sathana conflatum prestigiosa et diabolica arte, quare pater meus confregit illud in duas partes, quas quidem ego Johannes de Vinceto salvas servavi et adaptavi sicut apparet die lunae proximo post festum beatae Mariae Virginis anni gratiae MCCCCXLV.«
Übersetzung dieser Inschrift:
»Diese Reliquie ist ein sehr mystisches und wundersames Werk, welches meine Vorfahren aus Armorica, das ist Klein-Britannien (die Bretagne), mitgebracht haben; ein Geistlicher riet meinen Vater eindringlich, sie gänzlich zu vernichten, da sie vom Satan selbst durch magische und teuflische Kunst angefertigt sei, weshalb mein Vater sie nahm und in zwei Stücke zerbrach, doch ich, Johannes de Vincey, rettete beide Teile und fügte sie, wie Ihr seht, wieder zusammen am heutigen Montag nach dem Fest der Heiligen Jungfrau Maria im Jahre des Heils 1445.«
Die nächste und vorletzte Eintragung stammte aus der Zeit Königin Elisabeths und trug das Datum 1564: »Eine höchst seltsame Historie, die meinen Vater das Leben gekostet hat; denn auf der Suche nach dem Platz an der Ostküste Afrikas wurde seine Pinasse bei Lorenzo Marquez von einer portugiesischen Galeone versenkt, wobei er ertrank. – John Vincey.«
Es folgte die letzte Inschrift, die, nach der Schreibweise zu schließen, von einem Vertreter der Familie um die Mitte des 18. Jahrhunderts stammte. Es war eine nicht ganz korrekte Wiedergabe des bekannten Zitats aus ›Hamlet‹; sie lautete:
»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde,
Als du dir in deiner Schulweisheit träumen läßt,
Horatio.«
»So, mein lieber Leo«, sagte ich, nachdem ich alle diese Schriften, soweit sie lesbar waren, sorgfältig untersucht hatte, »das wäre alles. Nun kannst du dir deine eigene Meinung über das Ganze bilden. Die meine steht bereits fest.«
»Und wie sieht sie aus?« fragte er neugierig.
»So: Ich halte diese Scherbe für echt und glaube, daß sie, so seltsam das auch scheinen mag, seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. in deiner Familie weitervererbt worden ist. Die Eintragungen beweisen das eindeutig, und wir müssen diese Tatsache, so unwahrscheinlich sie auch sein mag, akzeptieren. Doch das ist auch schon alles. Daß deine Ahne, die ägyptische Prinzessin, oder ein von ihr beauftragter Schreiber die Eintragung verfaßt hat, steht für mich außer Zweifel, doch ebenso fest bin ich davon überzeugt, daß ihre Leiden und der Verlust ihres Gatten ihren Geist verwirrt haben und daß sie nicht ganz bei Verstand war, als sie dies niederschrieb.«
»Und wie willst du erklären, was mein Vater gesehen und gehört hat?« fragte Leo.
»Das war ein reiner Zufall. Sicher gibt es an der afrikanischen Küste Felsen, die wie Männerköpfe aussehen, und viele Leute, die ein verstümmeltes Arabisch sprechen. Zweifellos gibt es auch eine Menge Sümpfe dort. Ich muß dir ganz ehrlich sagen, Leo – ich glaube, daß dein Vater, als er diesen Brief schrieb, nicht ganz bei Sinnen war. Er hatte Schweres durchgemacht, und da er eine sehr lebhafte Phantasie hatte, hat er sich zu sehr mit dieser Geschichte beschäftigt. Jedenfalls glaube ich, daß das Ganze völliger Unsinn ist. Ich weiß, es gibt in der Natur seltsame Dinge und Kräfte, die wir nur selten bemerken und, wenn wir sie bemerken, nicht begreifen. Doch solange ich es nicht mit meinen eigenen Augen sehe, was wohl kaum je der Fall sein wird, kann ich einfach nicht glauben, daß es irgendein Mittel gibt, den Tod zu besiegen, oder daß mitten in einem afrikanischen Sumpf eine weiße Zauberin lebt oder gelebt hat. Unsinn, mein Junge, nichts als Unsinn! – Was meinst du, Job?«
»Daß es eine Lüge ist, Sir. Falls es aber doch wahr ist, so hoffe ich, Mr. Leo wird sich auf so etwas nicht einlassen, denn dabei kann nichts Gutes herauskommen.«
»Vielleicht habt ihr beide recht«, sagte Leo ruhig. »Ich will mich darüber nicht äußern und nur das eine sagen: Ich werde die Sache ein für allemal aufklären, und wenn ihr nicht mitkommen wollt, dann werde ich es allein tun.«
Ich sah den jungen Mann an und merkte, daß er es ernst meinte. Wenn Leo etwas ernst meint, dann verzieht er immer auf eine merkwürdige Weise den Mund, eine Gewohnheit, die er schon als Kind hatte. Ich dachte jedoch gar nicht daran, Leo zu erlauben, irgendwohin allein zu gehen; dazu hing ich viel zu sehr an ihm. Ich bin kein Mann mit vielen Freundschaften und Bindungen. Die Umstände sind in dieser Hinsicht gegen mich, und Männer wie Frauen scheuen vor mir zurück, oder ich bilde mir das ein, was auf dasselbe herauskommt. Sie scheinen aus meinem reichlich abstoßenden Äußeren auf mein Inneres zu schließen, und da mir dies unerträglich ist, habe ich mich weitgehend von der Welt und den Menschen zurückgezogen. Leo war für mich die ganze Welt – Bruder, Kind und Freund –, und ich war entschlossen, wohin er auch gehen mochte, nicht von seiner Seite zu weichen. Natürlich durfte ich ihm nicht zeigen, welche Macht er über mich hatte, und ich sann nach einer Möglichkeit, mich aus der Affäre zu ziehen.
»Ja, Onkel, ich werde es tun; und wenn ich die ›Flammensäule des Lebens‹ auch nicht finde, so werde ich dort zumindest ausgezeichnete Gelegenheit zur Jagd finden.« Da war die Möglichkeit, und ich nutzte sie sofort.
»Zur Jagd?« sagte ich. »Ja, sicherlich; daran dachte ich gar nicht. Es muß ein ziemlich wildes Land sein, voll von Großwild. Ich wollte immer schon vor meinem Tode noch einen Büffel erlegen. Weißt du, mein Junge, an diese ganze Geschichte glaube ich nicht, aber das Wild reizt mich, und wenn du nach reiflicher Überlegung wirklich dorthin fahren willst, so werde ich mir Urlaub nehmen und dich begleiten.«
»Dachte ich's mir doch«, sagte Leo, »daß du dir so etwas nicht entgehen lassen wirst. Doch wie steht es mit dem Geld? Es wird ein reichlich teurer Spaß werden.«
»Zerbrich dir deshalb nicht den Kopf«, erwiderte ich. »Wir haben dein ganzes Vermögen, das sich all die Jahre gut verzinst hat, und außerdem habe ich noch zwei Drittel von dem, was mir dein Vater für deine Versorgung hinterlassen hat. An Geld mangelt's also nicht.«
»Schön, dann laß uns dies alles gleich einpacken und in die Stadt fahren, um nach unseren Gewehren zu sehen. Wie steht's, Job, kommst du auch mit? Höchste Zeit, daß du einmal etwas von der Welt siehst.«
»Ach, Herr«, antwortete Job, »mir liegt nicht viel an fremden Ländern, aber wenn die Herren diese Reise machen, dann brauchen sie doch jemanden, der für sie sorgt; und nachdem ich Ihnen nun zwanzig Jahre treu gedient habe, kann ich Sie doch jetzt nicht im Stich lassen.«
»So ist's recht, Job«, sagte ich. »Große Wunder wirst du wohl nicht erleben, doch ein paar schöne Jagden sind sicher auch nicht zu verachten. Und jetzt hört mich gut an, ihr beiden. Ich möchte nicht, daß ihr irgendeinem Menschen von diesem Unsinn erzählt.« Ich deutete auf die Scherbe. »Wenn das bekannt würde und mir irgend etwas zustieße, dann würden meine Verwandten mich für verrückt erklären und mein Testament anfechten, und ich würde zum Gespött von ganz Cambridge werden.«
Drei Monate nach diesem Tag schwammen wir auf dem Ozean – unterwegs nach Sansibar.