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6 Ein frühchristlicher Brauch
ОглавлениеAm nächsten Morgen erhoben wir uns bei der ersten Dämmerung, säuberten uns, so gut es ging, und rüsteten uns zum Aufbruch. Als es so hell war, daß wir unsere Gesichter erkennen konnten, mußte ich laut auflachen. Jobs feistes rundliches Gesicht war durch die Moskitostiche zum nahezu doppelten Umfang angeschwollen, und Leo sah nicht viel besser aus. Von uns dreien war ich noch am besten weggekommen, vermutlich infolge der größeren Zähigkeit meiner dunklen Haut und der Tatsache, daß sie größtenteils mit Haaren bedeckt war, denn seit unserer Abreise aus England hatte ich meinen von Natur aus üppigen Bart ungehindert wuchern lassen. Die beiden anderen hingegen waren verhältnismäßig gut rasiert, was dem Feind natürlich ein viel größeres Angriffsfeld geboten hatte. Nur Mahomed hatten die Moskitos gänzlich verschont – wahrscheinlich weil sie in ihm den wahren Gläubigen witterten. Wie oft wünschten wir uns in den nächsten Wochen, so zu riechen wie ein Araber!
Als wir uns, soweit das unsere geschwollenen Lippen zuließen, ausgelacht hatten, war es hell, und vom Meer her wehte eine frische morgendliche Brise, welche die über dem Sumpf hängenden Nebelschwaden zerriß und sie da und dort in großen bauschigen Ballen vor sich her trieb. Wir setzten unser Segel, warfen noch einen Blick auf die toten Löwen und das Krokodil, deren Häute wir leider zurücklassen mußten, da uns die Mittel, sie zu präparieren, fehlten, und verließen die Lagune. Als gegen Mittag der Wind abflaute, entdeckten wir zum Glück einen Fleck trockenen Landes, der sich zum Kampieren eignete. Wir zündeten ein Feuer an und brieten uns zwei wilde Enten und ein Stück Fleisch von dem erlegten Wasserbock. Das restliche Bockfleisch schnitten wir in Streifen und hängten es zum Trocknen in die Sonne, um nach Art der Buren ›Biltong‹ daraus zu machen. Auf diesem trocknen Fleck Land blieben wir bis zum nächsten Morgen und brachten die Nacht natürlich wieder im Kampf mit den Moskitos zu, doch ansonsten ohne Störung. Auch die nächsten ein, zwei Tage vergingen ohne besondere Abenteuer, abgesehen davon, daß wir einen überaus graziösen hornlosen Bock schossen und mancherlei Arten von Wasserlilien in voller Blüte sahen; einige davon waren blau und von besonderer Schönheit, doch kaum eine unversehrt, da es in dieser Gegend zahlreiche weiße Wassermaden mit grünen Köpfen gab, die sich von ihnen nährten.
Am fünften Tage unserer Reise, als wir uns nach meiner Schätzung einhundertfünfunddreißig bis einhundertvierzig Meilen westlich der Küste befanden, hatten wir das erste bedeutsame Erlebnis. An jenem Vormittag gegen elf Uhr legte sich der Wind, und nachdem wir noch ein Stück gerudert waren, machten wir erschöpft an einer Stelle halt, wo unser Fluß sich mit einem anderen von etwa fünfzig Fuß Breite vereinigte. Am Ufer wuchsen einige Bäume, unter denen wir kurz rasteten. Da das Land ziemlich trocken war, gingen wir sodann eine kurze Strecke den Fluß entlang, um die Gegend zu erkunden und ein paar Wasservögel zu schießen. Schon nach kaum fünfzig Metern erkannten wir, daß es unmöglich war, mit dem Walboot noch weiter stromauf zu fahren, denn keine zweihundert Meter von der Stelle, wo wir an Land gegangen waren, befand sich eine Reihe von Untiefen und Sandbänken, über denen das Wasser höchstens sechs Zoll maß. Wir waren in eine Wassersackgasse geraten.
Wir machten kehrt und gingen ein Stück das Ufer des anderen Flusses entlang, wobei wir bald aus verschiedenen Anzeichen den Schluß ziehen konnten, daß es sich um gar keinen Fluß, sondern um einen alten Kanal handelte, ähnlich jenem, der oberhalb Mombasas an der Küste von Sansibar den Tana mit dem Ozy verbindet und es den auf dem Tana herabkommenden Schiffen ermöglicht, unter Vermeidung der gefährlichen Sandbank vor der Tanamündung die See zu erreichen. Der Kanal vor uns war offenbar in einem fernen Zeitalter von Menschenhand angelegt worden, woher auch die aufgeworfenen Ufer rührten, die einstmals sicherlich als Treidelpfade gedient hatten. Von wenigen Stellen abgesehen, wo sie ausgehöhlt oder eingestürzt waren, standen diese aus festem Ton bestehenden Ufer im gleichen Abstand voneinander, und auch das Wasser schien überall gleich tief zu sein. Es hatte so gut wie keine Strömung, und so war seine Oberfläche dicht mit schwimmenden Pflanzen bedeckt, zwischen denen Wasservögel, Leguane und anderes Getier schmale Wasserbahnen freigehalten hatten. Da wir auf dem Fluß nicht mehr weiter konnten, gab es für uns nur zwei Möglichkeiten: zu versuchen, den Kanal zu benützen, oder zum Meer zurückzukehren. Hier konnten wir jedenfalls nicht bleiben, wenn wir uns nicht von der Sonne braten, den Moskitos auffressen lassen oder am Sumpffieber zugrunde gehen wollten.
»Nun, ich glaube, wir sollten es wagen«, sagte ich, und die anderen stimmten auf ihre Weise zu – Leo, als hätte ich den besten Witz der Welt gemacht; Job mit höflich unterdrücktem Widerwillen; und Mahomed mit einer Anrufung des Propheten und einer Verwünschung aller Ungläubigen und ihrer Art, zu denken und zu reisen.
So brachen wir denn, als die Sonne schon ziemlich tief am Horizont stand, wieder auf. Etwa eine Stunde lang konnten wir, wenn auch mit großer Mühe, das Boot rudern, doch dann wurden die Wasserpflanzen so dicht, daß wir uns einer höchst primitiven und beschwerlichen Methode bedienen und das Boot schleppen mußten. Zwei Stunden lang mühten Mahomed, Job und ich, den man für stark genug hielt, soviel wie die beiden anderen zu ziehen, uns am Ufer ab, während Leo im Boot saß und mit Mahomeds Messer die Pflanzen, die sich an seinem Bug sammelten, wegstieß. Nach Einbruch der Dunkelheit rasteten wir ein paar Stunden zur Freude der Moskitos, doch um Mitternacht zogen wir, die verhältnismäßige Kühle der Nacht nutzend, weiter. Vor Morgengrauen ruhten wir wiederum einige Stunden aus und setzten dann unsere Arbeit fort, bis gegen zehn Uhr vormittags ein Gewitter mit einem fürchterlichen Wolkenbruch auf uns niederging und wir die nächsten sechs Stunden praktisch unter Wasser zubringen mußten.
Ich halte es nicht für nötig, die nächsten vier Tage unserer Reise in allen Einzelheiten zu schildern; es genügt wohl, wenn ich sage, daß sie die gräßlichsten meines ganzen Lebens waren – eine eintönige Folge von Schinderei, Hitze, Mühsal und Moskitoplage. Die ganze Zeit zogen wir durch ein Gebiet scheinbar endloser Sümpfe, und daß wir dem Fieber und dem Tod entgingen, verdanken wir wohl nur der ständigen Einnahme von Chinin und Abführmitteln und unserer ununterbrochenen schweren Arbeit. Am dritten Tag unserer Kanalfahrt erblickten wir einen runden Hügel, der durch die Sumpfnebel schimmerte, und als wir am vierten Abend kampierten, schien dieser Hügel nur noch fünfundzwanzig bis dreißig Meilen entfernt. Wir waren nun völlig erschöpft und glaubten das Boot mit unseren mit Blasen bedeckten Händen keinen Meter weiterziehen zu können. Am liebsten hätten wir uns hingelegt und in dieser entsetzlichen sumpfigen Einöde auf unser Ende gewartet. Es war eine furchtbare Situation, in der sich wohl kaum ein anderer zivilisierter Mensch je befunden hat; und als ich mich im Boot ausstreckte, verfluchte ich, bevor ich in einen Schlaf tiefster Erschöpfung sank, bitterlich die Torheit, die mich veranlaßt hatte, mich an einem so wahnwitzigen Unternehmen, das, wie mir jetzt klar war, nur mit unserem Tod in diesem grausigen Land enden konnte, zu beteiligen. Während ich langsam einschlummerte, stellte ich mir vor, wie unser Boot und seine unglückliche Mannschaft in zwei oder drei Monaten aussehen würden. Mit klaffenden Fugen würde es daliegen, halb voll stinkendem Wasser, das der den Nebel vor sich hertreibende Wind über unsere modernden Gebeine spülte, und das würde das Ende von uns sein, die wir uns anmaßten, einen Mythos zu erforschen und die Rätsel der Natur zu entschleiern.
Schon glaubte ich zu hören, wie das Wasser gegen unsere ausgedörrten, klappernden Gebeine schlug, wie mein Schädel gegen den Mahomeds und seiner gegen meinen rollte, und dann richtete Mahomed sich auf und starrte mich mit leeren Augenhöhlen an und verfluchte mich mit grinsenden Kinnladen, weil ich, ein Hund von einem Christen, einen wahren Gläubigen in seiner letzten Ruhe störte. Ich öffnete die Augen und erschauderte über meinen grauenvollen Traum, und sodann packte mich ein neuer Schauder, doch dies war kein Traum – zwei große Augen starrten funkelnd durch das trübe Dunkel auf mich nieder. Ich fuhr hoch und stieß einen entsetzten Schrei aus, so daß die anderen erwachten und gleichfalls schläfrig taumelnd und verwirrt aufsprangen. Und plötzlich blitzte kalter Stahl auf, und ein langer Speer berührte meinen Hals, und dahinter sah ich das Glitzern anderer Speere.
»Friede«, sagte eine Stimme auf arabisch oder in einem Dialekt, der dem Arabischen stark glich. »Wer seid ihr, die ihr auf dem Wasser dahergeschwommen kommt? Sprecht, oder ihr seid des Todes« – und der Stahl drückte sich so fest in meinen Hals, daß es mich kalt überlief.
»Wir sind Reisende, die der Zufall hierher verschlagen hat«, erwiderte ich in meinem besten Arabisch, das sie zu verstehen schienen, denn der Mann wandte den Kopf und sagte zu einer großen Gestalt im Hintergrund: »Vater, sollen wir sie töten?«
»Was ist die Farbe dieser Männer?« antwortete eine tiefe Stimme.
»Weiß ist ihre Farbe.«
»Tötet sie nicht«, lautete die Antwort. »Vor vier Sonnen sandte ›Sie‹, die Herrscherin, mir die Nachricht: ›Weiße Männer kommen, tötet sie nicht, sondern bringt sie zu mir.‹ Holt also die Männer und alles, was sie mit sich führen, aus dem Boot.«
»Komm!« sagte der Mann und zerrte mich an Land, und ich sah, daß andere Männer das gleiche mit meinen Gefährten taten.
Am Ufer stand eine Schar von etwa fünfzig Männern. Soviel ich in dem Halbdunkel erkennen konnte, waren sie alle mit riesigen Speeren bewaffnet, hoch gewachsen, kräftig und von verhältnismäßig heller Hautfarbe. Abgesehen von einem um die Hüften geschlungenen Leopardenfell waren sie nackt.
Gleich darauf brachten sie auch Leo und Job herbeigeschleppt und stellten sie neben mich.
»Was, zum Teufel, ist denn los?« rief Leo, sich die Augen reibend.
»Mein Gott! Jetzt sitzen wir schön in der Tinte!« rief Job, und im gleichen Augenblick taumelte Mahomed auf uns zu, von einer dunklen Gestalt mit erhobenem Speer gefolgt.
»Allah! Allah!« jammerte Mahomed. »Hilf mir! Hilf mir!«
»Vater, dies ist ein Schwarzer«, sagte eine Stimme. »Was soll nach dem Willen der Herrscherin mit ihm geschehen?«
»Sie sagte nichts von ihm; doch tötet ihn nicht. Komm her, mein Sohn.«
Der Mann trat zu ihm, und die große dunkle Gestalt beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Gut, gut«, sagte der Mann und stieß ein Lachen aus, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Sind die drei Weißen da?« fragte die Gestalt.
»Ja, sie sind da.«
»Dann holt, was für sie vorbereitet ist, und nehmt ihre Sachen aus dem Floß.«
Kaum hatte er dies gesagt, kamen Männer herbeigeeilt, die – ich traute meinen Augen kaum – Sänften auf ihren Schultern trugen, und man bedeutete uns, darin Platz zu nehmen.
»Wie angenehm, daß man uns nach all der Plackerei tragen will«, sagte Leo, der allem stets die heiterste Seite abzugewinnen weiß.
Wohl oder übel tat ich es den anderen gleich und bestieg die mir zugedachte Sänfte, die ich höchst bequem fand. Sie schien aus einem aus Grasfasern gewebten Tuch zu bestehen, das jeder Bewegung nachgab und, da es unten und oben an der Holzstange befestigt war, Kopf und Nacken eine angenehme Stütze bot.
Kaum hatte ich mich darin niedergelassen, als auch schon die Träger, in einen eintönigen Singsang verfallend, lostrabten. Etwa eine halbe Stunde lag ich still da, dachte über unsere ungewöhnlichen Abenteuer nach und fragte mich, ob mir meine achtbaren verknöcherten Kollegen in Cambridge wohl glauben würden, wenn ich durch ein Wunder in unsere vertraute Tafelrunde versetzt, ihnen davon erzählte. Es ist wirklich nicht meine Absicht, die guten gelehrten Leute zu beleidigen oder herabzusetzen, indem ich sie verknöchert nenne, doch ich habe die Erfahrung gemacht, daß selbst hochgebildete Professoren allzuleicht verknöchern, wenn sie beharrlich stets denselben Pfaden folgen. Ich selbst hatte mich bereits auf dem besten Weg dazu befunden, doch hatte sich in letzter Zeit mein Gesichtskreis bedeutend erweitert. So lag ich also da und grübelte und fragte mich, wie dies wohl alles enden würde, und schließlich schlief ich ein.
Ich muß wohl sieben oder acht Stunden geschlafen haben – es war ja auch seit dem Untergang der Dhau für mich die erste Gelegenheit, mich wirklich auszuruhen –, denn als ich erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Die Träger trabten immer noch, und nach meiner Schätzung legten wir in der Stunde etwa vier Meilen zurück. Als ich durch den dünnen Seitenvorhang hinauslugte, sah ich zu meiner tiefen Erleichterung, daß wir die scheinbar endlosen Sümpfe verlassen hatten und nun über eine leicht gewellte Grasebene einem becherförmigen Hügel zustrebten. Ob es jener Hügel war, den wir vom Kanal aus gesehen hatten, weiß ich nicht, und ich habe dies auch später nicht herausfinden können, denn dieses Volk war, wie wir bald feststellen mußten, in solchen Dingen überaus verschwiegen. Neugierig betrachtete ich die Männer, die mich trugen. Sie waren wunderschön gewachsen, von gelblichbrauner Farbe, und kaum einer von ihnen maß unter sechs Fuß. Sie ähnelten in ihrem Aussehen stark den ostafrikanischen Somalis, nur daß ihr Haar nicht gekräuselt war, sondern in dichten schwarzen Locken bis auf ihre Schultern herabfiel. Ihre Gesichter waren scharf geschnitten und zum Teil von außerordentlicher Schönheit; vor allem ihre Zähne waren regelmäßig und wohlgeformt. Doch trotz ihrer Schönheit hatte ich den Eindruck, noch nie so böse, finstere Mienen gesehen zu haben. Sie drückten eine Kälte und Grausamkeit aus, die mich erschreckte und mit einem unheimlichen Gefühl erfüllte.
Etwas anderes, das mir an ihnen auffiel, war, daß sie nie zu lächeln schienen. Manchmal verfielen sie in den monotonen Singsang, den ich bereits erwähnte, doch die meiste Zeit waren sie völlig stumm, und nie hellte auch nur das leiseste Lächeln ihre bösen, düsteren Gesichter auf. Welcher Rasse mochten sie wohl angehören? Ihre Sprache war ein verstümmeltes Arabisch, doch sie waren keine Araber; dessen war ich mir ganz sicher. Dazu war ihre Haut zu dunkelgelb. Ich weiß nicht warum, doch ihr Anblick erfüllte mich mit einer tiefen Furcht, deren ich mich beinahe schämte. Während ich meinen Gedanken nachhing, erschien plötzlich eine andere Sänfte neben der meinen. Ihre Vorhänge waren zurückgezogen, und so sah ich, daß ein alter Mann darin saß, gekleidet in ein weites weißes Gewand aus grobem Leinen. Mir kam sofort der Gedanke, daß er die dunkle Gestalt gewesen war, die am Ufer gestanden hatte und von den anderen mit ›Vater‹ angeredet worden war. Es war ein wundersam aussehender alter Mann mit einem schneeweißen Bart, so lang, daß die Enden über die Seiten der Sänfte herabhingen, und einer Hakennase, über der zwei scharfe Augen funkelten. Seine Miene strahlte einen weisen und zugleich sardonischen Humor aus, der sich nur schwer beschreiben läßt.
»Bist du wach, Fremder?« fragte er mit tiefer Stimme.
»Gewiß, mein Vater«, erwiderte ich höflich, denn ich hielt es für ratsam, mich mit diesem unheimlichen Methusalem gut zu stellen.
Er strich sich über seinen schönen weißen Bart und lächelte leise.
»Aus welchem Lande du auch stammen magst – es ist ein Land, in dem man unsere Sprache kennt und in dem man seine Kinder zur Höflichkeit erzieht«, erwiderte er. »Doch sage mir, mein fremder Sohn, was sucht ihr in diesem Land, das seit undenklichen Zeiten keines Fremden Fuß betreten, hat? Seid ihr des Lebens überdrüssig?«
»Wir kamen hierher, um Neues zu suchen«, antwortete ich kühn. »Wir sind des Alten müde und deshalb übers Meer gezogen, um das Unbekannte kennenzulernen. Wir gehören einem tapferen Stamm an, der den Tod nicht fürchtet, mein hochverehrter Vater, wenn es Neues zu erforschen gilt.«
»Hm, mag sein«, sagte der Alte. »Ich will dir nicht voreilig widersprechen, mein Sohn, sonst würde ich sagen, daß du lügst. Es könnte jedoch sein, daß ›Sie‹, die Herrscherin, eure Wünsche erfüllen wird.«
»Wer ist ›Sie‹, die Herrscherin?« fragte ich neugierig.
Der Alte warf einen Blick auf die Träger und sagte dann mit einem Lächeln, das nichts Gutes zu verkünden schien:
»Das wirst du bald erfahren, mein fremder Sohn, falls es ihr gefällt, sich euch im Fleisch zu zeigen.«
»Im Fleisch?« erwiderte ich. »Was will mein Vater damit sagen?« Doch der Alte stieß nur ein gräßliches Lachen aus und gab keine Antwort.
»Wie heißt das Volk meines Vaters?« fragte ich.
»Der Name meines Volkes ist Amahagger, das Volk der Felsen.«
»Und darf ich fragen, wie der Name meines Vaters ist?«
»Mein Name ist Billali.«
»Und wohin gehen wir, mein Vater?«
»Das wirst du schon sehen.« Und auf einen Wink von ihm liefen seine Träger zu der Sänfte, in der Job ruhte (wobei er sein eines Bein heraushängen ließ). Anscheinend konnte er jedoch mit Job nichts anfangen, denn gleich darauf sah ich, wie seine Träger zu Leos Sänfte eilten.
Da weiter nichts Besonderes geschah, überließ ich mich dem angenehmen Schaukeln und schlief bald wieder ein, denn ich war schrecklich müde. Als ich erwachte, sah ich, daß wir uns in einer Schlucht aus Lavagestein befanden, an deren steil abfallenden Wänden schöne Bäume und blühende Sträucher wuchsen.
Plötzlich machte diese Schlucht eine Biegung, und ein wunderbarer Anblick bot sich mir. Vor uns lag ein grünes, etwa vier bis sechs Meilen weites Plateau, das die Form eines römischen Amphitheaters hatte. Es war von mit Sträuchern bewachsenen Felsen umsäumt, doch in seiner Mitte lag üppiges Weideland, da und dort von hohen, prächtig gewachsenen Bäumen bestanden und von gewundenen Bächen durchflossen. Ziegen- und Rinderherden weideten darauf, doch sah ich keine Schafe. Zuerst konnte ich mir nicht erklären, was für ein seltsamer Ort dies war, doch dann wurde mir klar, daß es der Krater eines längst erloschenen Vulkans sein mußte, der später ein See gewesen und schließlich auf irgendeine unerklärliche Weise trockengelegt worden war. Und ich darf wohl hier gleich darauf hinweisen, daß meine späteren Beobachtungen und die Erforschung eines ähnlichen, doch noch wesentlich größeren Ortes diese Annahme bestätigten. Es erstaunte mich jedoch, daß, obwohl ich zwischen den Herden mehrere Hirten hin und her gehen sah, keinerlei menschliche Behausungen zu entdecken waren. Ich fragte mich, wo sie wohl alle wohnen mochten. Meine Neugier sollte bald gestillt werden. Die Träger unserer Sänften wandten sich nach links, gingen etwa eine halbe Meile die Kraterwand entlang und machten dann halt. Als der alte Billali aus seiner Sänfte stieg, tat ich es ihm nach, und Leo und Job folgten meinem Beispiel. Das erste, was ich sah, war Mahomed, unser armer arabischer Gefährte, der erschöpft auf dem Boden lag. Anscheinend hatte man ihm keine Sänfte zur Verfügung gestellt, sondern ihn gezwungen, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, und da er schon bei unserem Aufbruch sehr ermattet gewesen war, befand er sich nun in einem Zustand völliger Entkräftung.
Als wir uns umblickten, stellten wir fest, daß wir uns auf einem Hügel vor dem Eingang einer großen Höhle befanden, und auf diesem Hügel war der gesamte Inhalt unseres Bootes, bis zu den Rudern und Segeln, ausgebreitet. Um die Höhle herum standen in mehreren Gruppen die Männer, die uns begleitet hatten, sowie andere, ähnlich aussehende Leute. Sie alle waren hochgewachsen und hübsch, und ihre Hautfarbe zeigte die verschiedensten Schattierungen; manche waren dunkel wie Mahomed, andere gelb wie Chinesen. Sie waren, bis auf ein Leopardenfell um die Hüften, nackt, und jeder von ihnen hielt einen großen Speer in der Hand.
Auch einige Frauen befanden sich unter ihnen, die statt des Leopardenfells die gegerbte Haut eines kleinen roten Bockes trugen, ähnlich der des Oribi, nur ein wenig dunkler. Diese Frauen waren ohne Ausnahme sehr schön und hatten große dunkle Augen, feingeschnittene Gesichtszüge und volles lockiges – nicht wie bei Negern gekraustes – Haar in allerlei Tönungen von Schwarz bis Kastanienbraun. Einige wenige trugen ein gelbliches Leinengewand, ähnlich dem Billalis, welches jedoch, wie wir bald erfuhren, eher eine Art Rangabzeichen als ein Kleidungsstück darstellte. Ihr Aussehen war weniger angsteinflößend als das der Männer, und zuweilen, wenn auch selten, lächelten sie sogar. Sowie wir ausgestiegen waren, umringten sie uns und betrachteten uns neugierig, doch ohne Erregung. Ihre größte Aufmerksamkeit erregten offenbar Leos große athletische Gestalt und klargeschnittenes griechisches Gesicht, und als er höflich seinen Hut vor ihnen zog, erhob sich ein leises Murmeln der Bewunderung. Das war jedoch noch nicht alles, denn nachdem sie ihn kritisch von Kopf bis Fuß gemustert hatte, trat die schönste dieser jungen Frauen – sie trug ein Leinengewand und hatte kastanienbraunes Haar – plötzlich zu ihm, legte ihren Arm um seinen Hals, beugte sich vor und küßte ihn auf den Mund.
Mir stockte der Atem, denn ich sah Leo bereits von einem Speer durchbohrt, und Job rief: »Nein, so was – dieses Frauenzimmer!« Leo selbst blickte ein wenig erstaunt drein, doch dann kam er wohl zu dem Schluß, daß wir uns in einem Land befanden, in dem noch die Bräuche der ersten Christen herrschten, und so erwiderte er die Umarmung.
Ich starrte ihn entsetzt an und erwartete, daß etwas Furchtbares geschehen würde, doch zu meinem Erstaunen schienen zwar einige der jüngeren Frauen verärgert, doch die älteren sowie die Männer lächelten nur leise. Als wir später die Bräuche dieses seltsamen Volkes besser kennenlernten, löste sich das Rätsel. Es stellte sich heraus, daß im Gegensatz zu allen anderen wilden Völkern der Erde bei den Amahaggern die Frauen den Männern nicht nur völlig gleichgestellt, sondern auch durch keinerlei feste Bande an sie gefesselt sind. Von Bedeutung ist lediglich die Abstammung mütterlicherseits, und die Menschen dort sind auf eine lange, vornehme mütterliche Ahnenreihe ebenso stolz wie wir auf unseren väterlichen Stammbaum. Sie erkennen keinen Mann als ihren Vater an, selbst wenn ihre väterliche Herkunft genau bekannt ist. Jeder Stamm oder ›Haushalt‹, wie sie ihn nennen, hat nur einen männlichen Führer, der ›Vater‹ genannt wird und auserwählter und unumschränkter Gebieter ist. So war zum Beispiel Billali der Vater dieses ›Haushalts‹, der aus etwa siebentausend Seelen bestand, und außer ihm wurde kein anderer Mann so genannt. Wenn eine Frau zu einem Mann Zuneigung faßte, zeigte sie dies, indem sie zu ihm trat und ihn vor aller Augen umarmte, so wie es dies schöne und entschlossene Mädchen, das Ustane hieß, bei Leo getan hatte. Erwiderte er ihren Kuß, so war dies das Zeichen, daß er sie annahm, und diese Verbindung dauerte so lange, bis einer der beiden des anderen überdrüssig wurde. Ich muß jedoch betonen, daß der Gattenwechsel nicht so häufig war, wie man vielleicht annimmt. Er führte auch zu keinerlei Streitigkeiten, zumindest nicht unter den Männern. Wenn eine Frau sie eines anderen wegen verließ, so nahmen sie dies als ebenso natürlich hin wie wir die Einkommensteuer oder unsere Ehegesetze; als etwas Unabänderliches, das der Gemeinschaft dient, so unangenehm es für den einzelnen auch sein mag.