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II Waldverschlagen

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Fing sie die die Sprache?

T rägt sie Musik der Delphine?- Gertrud Kolmar


In diesen Tagnächten soll es in einer Anstalt am Nieder-

rhein zu einer schweren Randale gekommen sein, er- zählte Nachbar Jost beim Kaffee nach der Beerdigung der alten Frau. „Ley, wie heisst doch gleich die Stadt...“ Ich hob meine Schulter in Unwissenheit und war ganz Ohr.

Die mit Tranquillizern ruhig gestellten Bewohner eines geschlossenen Hauses wurden auf einmal leben- dig, aus Apfelsaft und Weissbrot hatten sie sich einen Schnaps gebraut. Nach einer wundervoll durchzechten Nacht (Karneval auf fünf Kanälen) „kam das Ende na- türlich ganz schnell: Schlägerei, Grossalarm, verletzte Wächter...“ Aber einer sei entflohn und konnte bis zur Stunde nicht eingefangen werden.


gefunden. Die beiden Nachbarinnen rechts und links

sind ihr nicht Unbekannte, und zwar von niederrhei- nischen und berliner Behausungen her: Zenta Maurina (ein Foto der Dreissijärigen aus Lettlands Zeit) zur Lin- ken, Eleonora Duse (als Die Frau vom Meer in Ibsens Drama am Vorabend des Ersten Weltkriegs) zur Rech- ten... Ikonen in Dreisamkeit!

Hier, im alten Grenzland Römischer Herrschaft, gab es den Kult der Drei Göttinnen an Quellen und Flüssen. Auch unterm Bonner Münster wurden zahlreiche Wei- hesteine der Aufanischen Matronen geborgen. Wie viele tauchten erst aus den Trümmern zerbombter Städte auf! Schützende, nährende Göttinnen der Erde, in der Mitte stets die Jüngste, das Mädchen mit einem Korb voll Früchten auf seinen Knien.


over Beethoven“ röhren die nicht schlechter als Chuck

Berry oder die Rolling Stones. Als Samuel durch meine Mutter von meiner Geige hörte, die ich kaum noch aus ihrem schwarzen Kasten hervorholte, zeigte er lachend seinen später so berühmten Goldzahn und schlug mir auf die Schulter:

„Lass die Geige in ihrem Sarg, Holger, besorg dir eine Gitarre, sobald du vernünftig Akkorde schlagen kannst, machst du mit.“

Elsa schien der Vorschlag ihres Neffen garnicht so

übel, sie meinte sogar: „Wenn deine Begeisterung ihn ansteckt, Samuel, geht ihm auch seine Geige nicht ver- loren.“

Die Gitarre habe ich mir gekauft. Noch im selben Jahr lernte ich bei ihrem zweiten wellmahrer Konzert, in der Turnhalle meines alten Gymnasiums, Soledad Salinas kennen. Sie war Schülerin in der Musikschule in Neuss, der Leiter ein alter Studienfreund Isgards. Soledad war weder mit Samuel noch Ronald verbunden, aber da war ein Adam im Hintergrund, von dem ich lange Zeit nur durch Samuel gerüchtweise hörte, nachdem Soledad zu diesem boyfriend, einem Reederssohn, gezogen war.

Obwohl es zu einer „Elektrischen“ schon gelangt hätte, bin ich stattdessen mit dem Fahrrad und meiner Gitarre einen Herbst lang durch die Grenzländer von Maas und Mosel gestromert. Ich übernachtete in Ju- gendherbergen oder schlief in Wäldern in einem winzi- gen Zelt. Das gefiel mir so gut, dass ich auch im folgenden Jahr zu Samuel keinen Kontakt suchte. So blieben Samuel, Ronald und Manni (mir ein fast Unbe- kannter, der noch im selben Jahr mit Suicid abging) al-


lein. Meistens spielten sie in den Niederlanden, seltener

in Belgien, in Wellmahr meines Wissens nicht mehr. Adam muss damals, nach Mannis Tod, hinzugestossen sein, das war im Sommer der ersten Mondlandung, als Adam seine spanische Geliebte schoss auf die Rückseite desselben Mondes, wo auch ich einmal gelandet war: im Mare Crisium wie Soledad, nur zu einer anderen Zeit.

Hin und wieder hörte ich später durch Soledad von Ronnie und Sam, als sie einige Jahre, fast am Ende, in Kanada lebten, aber wiederkehrten zu ihrem grossen kurzen Comeback. Und plötzlich waren sie verschwun- den, verschwunden wie Höhlenmenschen, deren Höhle durch ein mittelschweres Erdbeben versiegelt wurde.

Eine Single, Dolphin Song, Soledad gewidmet, be- gleitete von nun an unseren gemeinsamen Weg.


verlor ihre Fackel nicht: über Nacht konnten Hundert-

tausend Händepaare sich zusammenschliessen. Jeder- zeit, aus der Tiefe der Zeit, „konnten Kräfte in Erscheinung treten, die alle Ordnung umgestalten, um uns von den knechtenden Mächten zu befreien.“

Aber die von Studentenschaften vieler Hochschulen ausgehende Provokation, ihr doktrinäres Gehabe, zog am Ende nur Gräben verschiedener Breite und Unver- söhnlichkeit durch ein ganzes Volk. Man wollte eine

„fleischfressende Pflanze“ in eine honigspendende Blume verwandeln? Stattdessen machte Protest aus Faule-Eier-Werfern Bombenbastler oder versandete in Resignation. Die Droge nahm ihren Siegeslauf.

Underground-Blätter gaben zuweilen die Parolen aus für sich fanatisierende Gruppen und verschwanden mit diesen. Was zunächst noch so frenetisch tönte: „Der Or- gasmus der Revolution ist antizipierbar!“, das lautete wenig später bei demselben Revoluzzer – klammheim- lich natürlich: „Füttere deinen Affen, aber lass mich in Ruh.“


zeugs mit Hilfe arabischer Freunde, in Mogadischu ge-

stellt.

Das ganze Land war über viele Monate in eine At- mosphäre getaucht, schneidender als Novembernebel. Aufgestanden war das Gespenst eines Volkes, dessen Geschichte wie kein anderes von Verrat und Selbstverrat gezeichnet ist. Und so wie Friedrich Hebbel 1848

„bis in den von Bären bevölkerten deutschen Urwald blickte (und ihn zu seinem Nibelungen-Drama inspirie- ren sollte), so blickte man in ein „Deutschland im Herbst“.-

Nach diesem Herbst, und nach einem Heimataufent- halt Soledads am Guadalquivir, machten wir uns auf die Suche nach den so rätselhaft im Vorjahr Verschollenen. Ich hatte ein Motorrad geleast, ein etwas geräumigeres Zelt mit Schlafsäcken auf einem Düsseldorfer Floh- markt erstanden. Unbehelmt (Helme waren damals noch nicht pflichtig) klapperten wir nun dasselbe Land zwischen Maas und Erft, wie zuvor ich allein, ab. Wir wechselten die Campingplätze wie später die unmöbi- lierten Zimmer. In keiner Amtsstube und in keiner Dorf- schenke erfuhren wir irgendetwas das Sinn machte über ihr Verschwinden. Ein pensionierter Postbeamter an einer Theke Kalterherbergs schüttelte nicht als letzter den Kopf:

„Wenn die nu mal keine Sympathisanten gewesen sind, wen kümmern die noch! Zwei Musiker aus Ka- nada, du lieber Gott.“-

Nebel und Graupelschauer tagegelang. An unserm letzten Zeltabend sagte Soledad – und bei ihrem vor- letzten Joint:


„Basta! Die zwei sind längst über den grossen Teich.“

„Meinst du? Wenn deine Delphine bloss keine Lem- minge gewesen sind! Lass doch den Joint, Soli, Liebes, pennen wir.“

„Bitte, erst noch mein kleiner Joint. Dann amor...“- Soledad verliess endgültig Deutschland, als ich, in

ihre Heimat ihr zu folgen, mich nicht entschliessen konnte. Stand aber wenig später im Hegau, im tiefsten Nebelland, vor einem Bildstock und las dem halb ver- witterten Stein einen uralten Wallfahrerspruch ab. Und kam mir endlich selber als so ein Pilger auf dem langen Weg nach Santiago de Compostela vor und zum Meer von Cabo de Finisterre.


Ich war etwas hinter den beiden zurückgeblieben,

hatte mich zum Pinkeln ans Gebüsch gestellt. Eine ei- gentümlich gespannte Ruhe herrschte – wie vor Gewit- tern, anstatt danach wie jetzt. Kein Vogellaut liess sich vernehmen, kein Windhauch regte einen Wipfel. Und da, wieder auf dem Pfad, aber noch einmal innehaltend, um einen Schuhriemen fester zu binden, sah ich aufbli- ckend ihn.

Er stand zwischen zwei Weissdornbüschen, ein deut- lich unter mittelgrosser, doch ausserordentlich kräftiger Mann, gekleidet in etwas wie Bärenfell. Das breite Ge- sicht schuppig ziegelrot, die Stirn mächtig mit selt- samen Höckern. Tieffschwarzes dichtes Haar sträubte sich nach allen Seiten wie dunkle Flammenzungen, seine Augen, klein und tiefliegend, rollten wild in einem tragischen Antlitz. Der Mann schien mit verzweifelten Blicken den Himmel über uns abzusuchen, nahm nur ganz flüchtig, wenn auch beharrlich wiederkehrend, Kenntnis von mir, der ich kaum fünf Meter vor ihm stand. Noch halb gebückt, stand ich gebannt – und den- noch furchtlos! Denn ich wusste (und erinnerte): eine solche Trauer, in welcher ich nur einmal, das war in T, einen Menschen angetroffen, lässt einen nicht um sich selber fürchten.

Plötzlich war er weggetaucht. Man rief mich, Bernd Kuzevow, unser Führer zum Kessler Loch, winkte: „Wir sind gleich da!“

Benommen, stolpernd, müde wie nach kilometerlan- gem Marsch, machte ich mich auf ihre Spur.-


Am Hohentwiel, wieder im Naturfreundehaus, er-

reichte mich die Nachricht von meines Vaters schwerer

Krankheit. Isgard, die mir schrieb:

„Schlafend fanden sie ihn, als Frank mit seiner Toch- ter ihn besuchen wollte. Schlafend brachte man ihn ins Krankenhaus. Ob er noch einmal aufwacht? Die Ärzte halten es für möglich...“

DIE FAHRT NACH T

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