Читать книгу Krebs-Endstadium! Was nun Joseph? - Herbert E Große - Страница 6

Оглавление

Noch 28 Wochen

I.

In Marseille wollte ich nicht bleiben. Die Stadt war mir zu groß, zu anonym, viel zu laut und zu hektisch.

„Sind das schon die ersten Anzeichen von Angst? Die Angst vor dem pulsierenden Leben, dem Lärm und der Hektik? Vor all dem, was ich früher zusammen mit Helene gesucht hatte und nicht genug davon bekommen konnte“, fragte ich mich.

„Jetzt sind es also nur noch 28 Wochen“, sagte ich mir und nahm mir vor, ein kleines Heftchen von mindestens 250 Seiten zu kaufen und jeden Tag einen kleinen Bericht über den Zustand meiner Melanome zu verfassen. So viele Seiten müsste das Heftchen schon haben. Man weiß ja nicht, ob es ein paar Tage mehr werden würden, redete ich mir die Angelegenheit selbst schön.

In Martigues hoffte ich, mehr Ruhe zu finden und auf die Rückkehr des Kreuzfahrtschiffes zu warten.

Das beste Hotel war eines der modernen Ketten, in denen die Zimmer meist nicht größer als die Kabinen auf dem Kreuzfahrtschiff sind.

„Das muss aber nicht sein für die letzten Tage“, sagte ich mir und fuhr bis Arles.

Dort stellte ich das Auto an der Rhône ab und ging zu Fuß in die Innenstadt.

Im Hotel „Jules César“ mietete ich bis zur Ankunft des Kreuzfahrtschiffes am nächsten Montag ein Zimmer mit einem großen Bett.

Ein Hotelboy holte mein Auto und ich beauftragte die Hausdame, sich um meine Wäsche zu kümmern. Danach nahm ich ein ausgiebiges Wannenbad und legte mich schlafen.

Was war das angenehm, endlich mein Bein unverdeckt zu lassen. Ich war mit mir und meinen Problemen wieder allein und es kam wieder ein leichtes Angstgefühl wegen der malignen Melanome an meinem Bein auf und ich fragte mich, wie das alles weitergehen sollte.

„Morgen wird die Welt wieder in Ordnung sein; wenigstens etwas anders“, redete ich mir ein und schlief auch bald tief und fest.

Im Frühstücksraum herrschte eine ungezwungene angenehme Atmosphäre.

Es gab in diesem ersten Haus am Platz keinen Dress-Code, aber man sah, dass die Strickjacken und Pullover der Gäste nicht in einem Billiggeschäft gekauft worden waren.

Nachdem ich die örtliche Zeitung gelesen hatte, war es fast schon Mittag. Zwischen 12 und 14 Uhr läuft in Südfrankreich - außer natürlich in den Restaurants - nichts mehr, das wusste ich.

Also stand erst einmal das Vertreten der Beine und ein Besuch des Cafés am „Place du Forum“ an.

Ich kannte Arles von früheren Besuchen und musste wieder an Helene denken. Auch sie mochte dieses typische Straßencafé neben dem kleinen Platz. Unter Bäumen stand ein Denkmal für Frédéric Mistral; eine Bronzestatue. Mistral im Anzug, Mantel über dem Arm, Stock und dem spitzen Kinnbart.

Wir haben damals das erste Mal in diesem Café gesessen.

Die Tische standen fast auf der Straße. Ein kleines Mädchen lief unter den Bäumen umher und kam plötzlich ganz aufgeregt zu seiner Mutter, die neben uns an einem Tisch einen kleinen Kaffee trank.

„Maman, Maman, der Mann dort drüben unter dem Baum steckt mir die Zunge heraus.“

Die Mutter wollte sofort wissen, welcher Mann so etwas machen würde.

„Na der da auf dem Sockel“, sagte das Kind außer sich. Es meinte den Spitzbart von Mistral.

Kurz danach hatte sich unmittelbar vor dem Café ein Auffahrunfall ereignet.

Ich hatte ihn nicht beobachtet. Helene hingegen war unmittelbare Augenzeugin geworden und machte sich Gedanken, ob sie als Zeugin vor Gericht aussagen müsste.

Es war aber alles ganz anders gekommen.

Zunächst hatten sich beide Fahrer beschimpft. Was sie genau gesagt haben, war für uns nicht zu verstehen. Es hatte sich eine Autoschlange gebildet und die ersten Wartenden hatten angefangen zu hupen. Das hatte aber die beiden Unfallbeteiligten weniger gestört, denn sie setzten sich in dem Café an einen Tisch und tauschten die Unfallbögen aus. Dabei haben beide einen Kaffee getrunken.

Da der gesamte Verkehr zum Stillstand gekommen war, stiegen auch die anderen wartenden Fahrer aus und gingen ins nächste Café. Es war langsam richtig still geworden ohne den üblichen Verkehrslärm. Nach einigen Minuten waren alle wieder in ihre Autos gestiegen und der Stau löste sich auf. Helene hatte amüsiert festgestellt, dass man hier als Richter bestimmt nicht so viel zu tun hätte wie bei uns zu Hause in Deutschland.

Ich ertappte mich, dass ich in letzter Zeit sehr oft an Helene dachte und beschloss, das zu ändern.

Mein Bein tat heute sehr weh und ich war froh, im Café zu sitzen. Die Sonne schien, es war warm und ich war wieder in Arles. Nur die Schmerzen in der linken Leiste erinnerten mich daran, dass ich heute noch in meinem neuen kleinen Buch etwas eintragen müsste.

Da war sie wieder die Angst.

„Oder war es schon Panik?“, fragte ich mich und wurde richtig wütend über meine Situation, die ich im Grunde als sehr ungerecht empfand.

Früher hatten mir hier in Arles die Stadthäuser mit ihren Dachterrassen und den offenbar nachträglich aufgesetzten „Lauben“ imponiert. Heute hatte ich nicht die richtige Muse, alles so wie früher zu sehen. Auch die vielen Sehenswürdigkeiten interessierten mich nicht wirklich und ich spazierte ziellos durch die Stadt. Aufgefallen war mir nur, dass sich in der Arena kein Gerüst mehr befand.

Gegen 15 Uhr saß ich wieder in dem Café am „Place de Forum“, bestellte mir einen kleinen Roten und versuchte, einen Brief an Helene zu schreiben. Warum und was ich ihr schreiben wollte, wusste ich eigentlich gar nicht.

Am Nachbartisch saßen eine Frau von ungefähr 50 Jahren und ein fürchterlich unsympathischer jüngerer Mann.

Beide verhandelten über etwas, was ich nicht ergründen konnte.

Es war eine sehr attraktive Frau. Ihr Haar war fast schwarz. Doris hätte bestimmt gewusst, ob es gefärbt oder nur getönt war.

Helene ging mir schon wieder durch den Kopf, weil ich überlegte, ob sie gewusst hätte, wie diese Frau zu ihrem schönen Haar gekommen sei.

Völlig gedankenverloren bestellte ich mir auf Deutsch einen neuen Wein. Der Kellner schaute mich eigenartig an und ich merkte, was ich angestellt hatte. Ich entschuldigte mich und bestellte auf Französisch.

Auch die interessante Frau vom Nebentisch schaute mich amüsiert an.

Dabei sah sie richtig hübsch aus. Bislang hatte sie offenbar ernsthaft verhandelt und war gestresst. Um ihre Augen hatten sich kleine süße Fältchen gebildet.

„Das ist ja eine tolle Frau“, dachte ich mir und versuchte meinen Brief an Helene weiterzuschreiben. Auf dem Papier stand lediglich: Liebe Helene, Du wirst es nicht glauben, aber ich sitze in ...

Ich ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen und hatte die Augen geschlossen. Trotzdem bemerkte ich, dass die Frau vom Nebentisch aufgestanden und in Richtung Toilette gegangen war. Es war nicht zu vermeiden, ich musste ihr nachschauen.

„Mann, hat die noch eine klasse Figur für ihr Alter, eine typische Französin“, dachte ich.

Als sie den Tisch verlassen hatte, griff ihr Verhandlungspartner sofort zu seinem portable und ich konnte hören, dass sein Verhandlungsspielraum bei maximal vierhundert lag.

Wie von höherer Stelle geleitet, beschloss ich, der Frau zu folgen und ihr zu sagen, was ich gerade zufällig gehört hatte.

Vor der Toilette sprach ich sie an und sagte: „Pardon Madame, ich weiß zwar nicht, worüber Sie verhandeln. Aber Ihr Partner hat gerade telefonisch erfahren, dass er bis vierhundert gehen kann. Vielleicht hilft Ihnen diese Information. Der Mann ist mir so unsympathisch, dass ich nicht anders konnte, als Sie anzusprechen und Ihnen das mitzuteilen. Hoffentlich bin ich Ihnen nicht zu nahegetreten, Madame.“

Ich konnte ihr ja nicht sagen, dass sie mich faszinierte und ich es ihr deshalb gesagt habe.

Sie schaute mich mit ihren großen braunen Augen an und ging wortlos zurück zu ihrem Tisch.

„Mensch Jo, du Idiot. Du lernst auch nie aus“, sagte ich halblaut zu mir selbst.

Zurück an meinem Tisch wartete ich auf den Kellner, um zu zahlen.

Als ich den Brieftorso an Helene zusammenfaltete, schaute ich nochmals zum Nebentisch. Jetzt verhandelte die Frau etwas resoluter und nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich die beiden handelseinig geworden sein müssten.

Nach dem Zahlen humpelte ich in Richtung „Place de la République“.

Nach einigen Schritten ging es mit dem Laufen recht gut. Vor dem Platz bog ich nach links in Richtung Arena ab. Mir war wieder das wunderbare Restaurant oberhalb der Arena eingefallen. Da ich den Namen vergessen hatte, entschloss ich mich, das Restaurant zu suchen, um heute Abend dort zu essen.

Es dauerte nicht lange und ich stand davor. Nach dem Studium der Speisekarte war ich mir sicher, hier mit Helene sehr gut gegessen zu haben.

„Pardon Monsieur, ich möchte mich bei Ihnen für die Information bedanken.“

Man sah der Frau vom Café an, dass es ihr schwergefallen war, mich auf offener Straße anzusprechen.

„Aber Madame, ich bitte Sie. Ihr Geschäftspartner war mir so unsympathisch, dass ich nicht anders konnte, als Sie zu informieren. Ich hoffe, dass ich Ihnen helfen konnte.“

„Ihre Hilfe kann ich niemals gutmachen, Monsieur.“

„Doch Madame, wenn es Ihnen möglich ist, würde ich Sie gern heute Abend in diesem Restaurant zum Essen einladen. Bitte verzeihen Sie meine Direktheit, ich bin kein Franzose.“

„Ich werde kommen“, sagte sie und war auch schon verschwunden. Die ganze Situation muss ihr sehr peinlich gewesen sein. Ich wusste, dass französische Frauen so etwas niemals tun.

Im „César“ sagte ich Bescheid, dass man mir heute keinen Tisch frei zu halten brauche, weil ich außer Haus essen müsse.

Bevor ich auf mein Zimmer ging, bat ich an der Rezeption, mich gegen 19 Uhr zu wecken. Das Badezimmer war so angenehm, dass ich ein Wannenbad nahm und mich danach in mein Bett legte. Dabei bemerkte ich, dass mein Zimmer nach meinem Weggang bereits zum zweiten Mal aufgeräumt worden war.

„Ich muss unbedingt der Hausdame Bescheid sagen, dass ich das ständige Aufräumen nicht mag, weil ich meine Unordnung brauche“, nahm ich mir vor.

Um 20 Uhr war das Restaurant erst spärlich besetzt und ich bekam ohne Reservierung den Tisch, an dem ich auch mit Helene gesessen hatte.

Bei einem Glas Muscat verging die Wartezeit sehr schnell. Bereits nach einer viertel Stunde erschien sie. Frisch frisiert, ohne sichtbares Make-up in einem Abendkostüm. Mir wäre fast der Mund offengeblieben. Als ich mich erhob, fiel mein Stuhl um, weil ich mit dem Bein einknickte. Niemand registrierte diesen Unfall. Ich stellte mich mit meinem vollen Namen vor, sie nannte nur ihren Vornamen Anne-Marie. Jetzt wurde mir wieder bewusst, dass ich nicht in Deutschland war. Die Zeit verging wie im Fluge. Wir sprachen, wie in Frankreich üblich, über das Essen, aber kein Wort über persönliche Verhältnisse. Ich erfuhr allerdings so viel, dass sie bei dem Geschäft am Nachmittag im Café mit maximal 300 gerechnet und zur Not auch bei 250 abgeschlossen hätte. Unhöflichkeit kam über mich und sie sagte auf meine Nachfrage, dass man sich bei 400 geeinigt hätte. Ich gratulierte ihr, sie wurde rot und sagte, dass dieser Preis mein Verdienst sei. Im Laufe des weiteren Gesprächs bat sie etwas umständlich, das heutige Essen bezahlen zu dürfen. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin so glücklich und zufrieden über das Geschäft, dass ich Sie einfach zum Dank einladen möchte“, sagte sie. „Auf keinen Fall, Madame, das lasse ich nicht zu. Ich bin derjenige, der glücklich ist, weil ich Sie kennengelernt habe und mit Ihnen essen durfte“, erwiderte ich aus Höflichkeit. „Monsieur, ich bestehe darauf!“, sagte sie schließlich sehr energisch. „Dann müssen Sie mir aber die Gelegenheit geben, mich zu revanchieren, Madame.“ „Vielleicht“, war ihre fast unhörbare Antwort. Als der Wirt die Rechnung brachte, stellt sich heraus, dass sie ihre Kreditkarte nicht dabeihatte. Offenbar kannte man sie hier im Restaurant und bemerkte, dass dies doch kein Problem sei. Ich bezahlte dann mit meiner Karte und sie nahm meine Einladung morgen zum Apéritif im „César“ an. Das ist auch so eine südliche Lebensart. Zum „Apéritif“ trifft man sich am späten Nachmittag, also vor dem eigentlichen Diner, bei einem Glas und kleinen Snacks und Trockenfrüchten, um gesellig zusammen zu sein und sich auf das abendliche Essen, das durchaus wo ganz anders und mit anderen Personen stattfinden kann, einzustimmen. „Monsieur, ich wohne gleich hier nebenan. Bitte bemühen Sie sich nicht, ich finde allein“, sagte sie und ging einfach. In diesem Moment war ich sprachlos und blieb noch ein paar Minuten. Seit dreißig Jahren habe ich beruflich mit Betrügern zu tun und glaubte bisher, diese Sorte von Menschen sofort zu erkennen. „Na, essen musste ich ohnehin und interessant war sie ja auch“, tröstete ich mich selbst und dachte daran, wie köstlich Helene sich darüber amüsiert hätte. Außerdem hatte ich den gesamten Abend nicht einmal an meine Melanome und meine Probleme mit diesem verdammten Krebs gedacht. „Das war Entschädigung genug“, sagte ich mir und verließ das Restaurant, um ins nahe gelegene Hotel zu gehen.

II.

Im Rathaus von Arles hatten junge Künstler ihre Werke ausgestellt.

Wirklich Interessantes war nicht dabei. Was hätte ich auch mit einem Bild in meiner Situation anfangen sollen? Dem Nachwuchskünstler hätte ein Kauf sicher gutgetan. Aber wie gesagt, war nichts Kaufenswertes dabei.

Nach dem Besuch des Amphitheaters landete ich wieder im Café am „Place du Forum“.

Mit dem gemeinsamen Apéritif im „César“ rechnete ich nicht mehr, ging jedoch rechtzeitig ins Hotel, setzte mich in den hoteleigenen Park und bestellte mir einen kleinen Muscat. Als ich gerade den ersten Schluck trinken wollte, sprach sie mich von hinten kommend an. „Wollen wir hierbleiben oder in die Hotelhalle gehen?“, fragte sie ohne Begrüßung. „Bonjour Anne-Marie, schön, dass Sie gekommen sind. Sie sehen blendend aus, Madame.“ Ein Kellner brachte ihr ein Glas Champagner. Ich schlug vor, hier im kleinen Park zu bleiben und sie war einverstanden. „Joseph, ich muss Ihnen nochmals danken. Erst in der Nacht ist mir so richtig bewusstgeworden, welchen Wert Ihre Information im Café hatte. Was machen Sie übermorgen?“ „Ich habe nichts Besonderes vor, warum fragen Sie?“ „Ich kenne in Saintes Maries de la Mer ein besonderes Restaurant, in dem man sehr gute Bouillabaisse essen kann. Übermorgen wäre es möglich, hat der Wirt mir telefonisch bestätigt.“ „Gut, einverstanden, dann lassen Sie uns übermorgen ans Meer fahren“, gab ich zur Antwort.

Nach dem Apéritif gingen wir ins Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen. Wegen des gestrigen Abendessens hatten weder sie noch ich Lust auf ein großes Menü. Während des Essens erfuhr ich, dass ihr Ehemann vor vier Monaten gestorben war und dass sie zurzeit das Geschäft auflöste und gestern das Haus mit Ladenlokal dank meiner Information zu einem guten Preis habe verkaufen können. Genaueres erzählte sie mir nicht. Ich fragte auch nicht nach, weil ich wusste, dass man in Frankreich solche Fragen nicht stellt. Irgendwann erfährt man es, aber nur dann, wenn der andere es möchte. Ich sagte ihr, dass ich hier in Arles eine Wartezeit verbringe und am Montag eine Bekannte in Marseille abholen müsse. „Dann endet also unsere Bekanntschaft am Sonntag?“, fragte sie etwas traurig. „Wenn Sie möchten, ja. Ich kann aber danach wiederkommen, ich habe jetzt alle Zeit der Welt und würde mich freuen, Sie wieder zu sehen.“ Ein leichtes Lächeln und ein kleiner Glanz in ihren Augen war die Antwort. „Joseph (sie sprach meinen Namen so wunderschön französisch aus), haben Sie Zeit und Lust, mich morgen nach Avignon zu begleiten? Ich muss den Rest unserer Ware zu einem Geschäftsfreund bringen, damit er sie für mich verkaufen kann.“ „Gern, Anne-Marie. Ist es möglich, dass wir mit meinem Auto fahren?“ Ich wurde einfach den Gedanken, dass sie vielleicht doch eine Betrügerin sein könnte, nicht los und wollte mit meinem Auto unabhängig sein. „Das wäre mir sogar sehr recht, weil ich nicht gern selbst Auto fahre“, bekam ich zur Antwort und wir verabredeten uns für zehn Uhr vormittags hier im Hotel zur Abfahrt.

Anne-Marie war - für französische Verhältnisse - ziemlich pünktlich in der Hotelhalle erschienen.

Sie gab eine Art Vertreterkoffer dem Concierge und dieser holte mein Auto aus der Garage. Auf der Fahrt nach Avignon gerieten wir in einen Stau und Anne-Marie teilte telefonisch mit, dass wir erst nach 14 Uhr im Geschäft sein könnten.

In Avignon setzte ich sie vor einem Juweliergeschäft ab und wir verabredeten uns in einem Café an der „Pont St. Bénézet“.

Eigenartigerweise hatte ich in Avignon überhaupt keine Probleme mit meinem Bein, was mir erst bewusstwurde, als ich über den riesigen Platz vor dem Papstpalast spazierte.

Beim „Papst“ war ich schon mit Helene, sodass ich nun langsam durch die Stadt schlenderte. Nach einer Stunde ging ich zu unserem Treffpunkt, dem Café.

Anne-Marie saß schon in einer Nische und telefonierte.

Sie hatte mich nicht gesehen. Kurz bevor ich ihren Tisch erreichte, hörte ich Gesprächsfetzen und erkannte, dass sie offenbar von mir sprach. Ich verstand, dass ich Cordhosen tragen würde, aber Maßschuhe vom Schuhmacher. Danach glaubte ich zu hören, dass sie bemerkt hätte, dass ich eine „Lange & Söhne“ trüge und ein sehr angenehmer Mann mit einer harten französischen Aussprache wäre. Ich wusste, dass französische Frauen bei Männern eine harte Aussprache besonders mögen. Danach sagte sie, dass unsere Bekanntschaft dann enden würde, wenn ich von ihr Zärtlichkeiten erwarten würde, weil sie diese vier Monaten nach dem Tode von Papa nicht erteilen könnte.

Ich empfand es als unhöflich, länger zuzuhören und machte mich bemerkbar.

Als sie mich sah, beendete sie das Telefonat mit den Worten, dass ich gerade kommen würde und sie wieder anriefe.

„Hallo Joseph, ich habe gerade mit meinen Kindern telefoniert und berichtet, dass die Abwicklung des Geschäftes dank Ihrer Hilfe gut verläuft.“

„Na, liebe Anne-Marie, ich chauffiere Sie doch nur.“

Jetzt hatte ich das Gefühl, dass sie keine Betrügerin war und nur den Tod ihres Mannes noch nicht verkraftet hatte.

„Sie sind ein guter Freund und Ratgeber geworden. Gestern beim Essen hatten Sie mir empfohlen, beim Notar darauf zu bestehen, dass die Übergabe erst nach Eingang des Kaufpreises auf meinem Konto erfolgen darf. Mein Sohn hat mir gerade das Gleiche gesagt, nachdem er seinen Anwalt befragt hat. Wieso wissen Sie so etwas?“

„Sehen Sie, Anne-Marie, ich bin schon etwas älter als Sie und da weiß man das eben. Ich kenne das französische Wort nicht, aber auf Deutsch sagt man Lebenserfahrung.“

Da ich kein Wörterbuch dabei hatte, beließen wir es dabei und gingen erneut in Richtung Innenstadt.

Sie hatte sich bei mir untergehakt und machte einen glücklichen Eindruck.

„Joseph, Sie laufen heute ganz problemlos. Wie kommt das?“

„Ich hatte einen Unfall. Das Laufen fällt mir nur an bestimmten Tagen schwer. Warum weiß ich nicht. Sie haben recht, heute habe ich überhaupt keine Probleme.“

An einer Boutique hielten wir an und sie schaute ganz gebannt auf ein Kleid in der Auslage. Ich hatte schon Angst vor dem Einkaufsstress, den ich von Doris her kannte.

„Nein, lieber Freund, das will ich Ihnen nicht antun. Lassen Sie uns einen Apéritif nehmen, eine Kleinigkeit essen und wieder nach Hause fahren.“

Am späten Abend waren wir wieder in Arles.

Sie verabschiedete sich schnell und ich fiel nach meinem geliebten Bad ins Bett und schlief durch.

Erst als ich schon im Bett lag, fiel mir auf, dass bei meiner Ankunft stets ein Bad eingelassen war. „Toller Service“, dachte ich mir.

III.

Anne-Marie hatte vorgeschlagen, gleich nach dem Frühstück nach Saintes Maries zu fahren, weil sie mir noch die Camarque zeigen wollte.

Woher sollte sie auch wissen, dass ich mit Helene schon dreimal dort war.

Gleich hinter Arles musste ich auf eine kleine Straße nach links abbiegen. Es war eine Art Sackgasse.

„Hier stand die berühmte „Pont de Langlois“, die van Gogh gemalt hat“, erklärte sie mir und wies darauf hin, dass heute für die Touristen immer neue Standorte angegeben würden und dass die Brücke sogar anderenorts rekonstruiert worden sei.

Ich genoss es und fand immer mehr Gefallen an der Art und Weise ihrer Reiseführung.

Danach lotste sie mich auf der Landstraße neben der Rhône bis zur „Salin de Giraud“.

„Siehst Du Helene, das haben wir nicht gesehen“, sagte ich mir und schaute dabei Anne-Marie an. Sie war so ganz anders aber irgendwie doch wie Helene. Auf jeden Fall gefiel mir ihr schwarzes Haar besonders gut. Das machte sie jugendlicher.

Von einem aus Holzstämmen gezimmerten Aussichtsturm konnte man das riesige Areal der Saline überblicken. Große Bagger waren im Einsatz und das auf Halden gestapelte Salz wurde mit LKW abgefahren.

„Und jetzt möchte ich Ihnen noch ein Stück Strand zeigen, der sich an der Rhônemündung ständig verändert. Hoffentlich sind noch nicht zu viele Wohnmobilisten da. Dort gibt es nämlich keine Sanitäranlagen“, schlug Anne-Marie vor.

Helene hatte immer eine Karte oder einen Reiseführer auf dem Schoß und war begeistert, wenn sie etwas gefunden hatte.

Ich war erneut von Anne-Maries Reiseführung beeindruckt und nahm mir wieder einmal vor, nicht so oft an Helene zu denken und andere Frauen mit ihr zu vergleichen.

Der Strand war leer, kein Wohnmobilist weit und breit zu sehen. In den Dünen konnte man aber ihren Besuch erkennen.

Anne-Marie zog ihre Schuhe aus und ging mit den Füßen ins Wasser. Ich tat ihr gleich, schlug meine Hose aber nur so weit hoch, dass man die ekligen schwarzen Flecken an meinem linken Bein nicht sehen konnte.

Anne-Marie alberte für einen kurzen Augenblick regelrecht herum.

„Scheiß Krebs!“, hätte ich bald laut geschrien. Ich war wütend auf mich und diese ungerechte Welt.

Wir umfuhren den „Étang de Vaccarès“ und kamen gegen Mittag in Saintes Maries an.

Natürlich hatte sie mir vorher die Flamingos, die Stiere und wilden weißen Pferde gezeigt.

Ich tat so, als würde ich das alles zum ersten Mal sehen und Anne-Marie war eine glückliche Reiseführerin.

In einem kleinen Restaurant aßen wir einen Salat und tranken eine Flasche weißen Côtes du Rhône. „Wir müssen heute Abend sehr viel essen und trinken. Bis dahin ist fasten angesagt, Joseph. Doch jetzt müssen wir erst einmal in die Kirche, die Sie unbedingt sehen müssen. Außerdem möchte ich der heiligen Sara etwas opfern und im Gebet danken.“ „Ich bin ein sogenannter Heide, also kein Christ. Ist die heilige Sara nicht die Schutzpatronin der Zigeuner?“, fragte ich, weil ich nicht verstand, warum Anne-Marie der Sara ein Opfer bringen wollte. „Die heilige Sara ist nach Ansicht der Zigeuner die Dienerin der Marien. In der Camarque wird sie aber als Angehörige einer edlen Familie und Königin der Camarque betrachtet und sie ist auch die Schutzpatronin der Geschäftsleute. Meine Familie ist streng katholisch und deshalb möchte ich bei der heiligen Sara beten“, sagte sie ganz lieb und nett und ohne Unterton.

In der Kirche hielt ich mich nahe der Tür in der Oberkirche auf.

Anne-Marie ging zur heiligen Sara in die Unterkirche, bedeckte ihren Kopf mit einem Seidentuch, zündete eine Kerze an und betete sehr lange.

Ich kannte die Kirche bereits, war auch schon auf dem begehbaren Dach und setzte mich auf einen der Stühle. Es war nicht zu verhindern, dass ich weinen musste.

„Warum muss ich jetzt abtreten, wo ich doch diese wunderbare Frau kennengelernt habe? Das ist doch ungerecht!“, warf ich Gott vor.

Bevor wir die Kirche verließen, musste ich mir noch die heilige Sara mit den vielen Opfergaben in der Unterkirche ansehen. Meine Traurigkeit, die Anne-Marie nicht bemerkte, verging langsam.

Auf der Suche nach einem Café kamen wir an einem Schuhgeschäft vorbei. Durch das Schaufenster konnte man einen Kunden erkennen, der neue Schuhe anhatte und vor einem Spiegel stand, um sich die Haare zu richten. Ich fragte mich, ob der wohl Schuhe oder einen Kamm kauft.

Daneben befand sich ein Geschäft, in dessen Auslage grellbunte Schlafanzüge ausgestellt waren. Anne-Marie machte mich darauf aufmerksam und sagte, dass sie die Dinger sehr lustig finden würde.

„Anne-Marie, Sie sagten doch, dass wir heute Abend viel essen und trinken müssten. Was halten Sie davon, wenn wir uns jeder so einen Schlafanzug kaufen und zwei Zimmer in einem Hotel nehmen. Dann brauchen wir nicht in der Nacht zurück und können nach dem Frühstück ganz in Ruhe nach Hause fahren.“

Sie erschrak und wurde ganz blass.

„Keine Angst, ich meine zwei getrennte Zimmer.“

Anne-Marie beruhigte sich und fand schließlich den Vorschlag gar nicht so schlecht.

„Dann brauchen wir aber auch jeder eine Zahnbürste und Zahncreme, mon ami.“

„Und im Auto duften wir dann morgen wie in Studentenzeiten“, fügte ich noch hinzu.

Jetzt fand sie meinen Vorschlag sogar richtig lustig.

Wir kauften ein und suchten ein kleines Hotel.

Auf einem solchen Hotel bestand sie, weil das zur Studentenzeit dazugehören würde. Wir bekamen ein Zimmer im ersten und eins im dritten Stock.

Anne-Marie erklärte mir, dass heute ihr Tag sei, und dass ich das bitte akzeptieren möge.

Sie klärte mich darüber auf, dass wir bestimmt bis Mitternacht essen würden und dass der Wirt heute maximal zehn Gäste hätte.

Als wir am Abend zum Restaurant kamen, stand an der Tür ein Schild „complet“.

Ich folgte einfach Anne-Marie, die wie eine gute Bekannte begrüßt wurde. Es waren tatsächlich nur acht Gäste anwesend.

In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so gut Fisch gegessen, wie an diesem Abend.

Der Wirt war stolz, dass er sieben geangelte Fischarten servieren konnte.

Bislang war ich immer der Meinung, dass eine Bouillabaisse eine Fischsuppe sei. Weit gefehlt und von Suppe keine Spur. Es wurden in Abständen verschiedene frische gekochte Fische serviert. In der Mitte des Tisches standen mindestens zehn warme und kalte Soßen, in die die Filets der Fische getaucht und mit viel Genuss gegessen wurden. Als Beilage gab es frisches Gemüse der Camarque und eine Art Chips. Es war ein Essen, dass man nicht vergessen kann.

Im Laufe des Abends erfuhr ich erneut, dass Anne-Maries Ehemann vor etwas mehr als vier Monaten verstorben war. Sie sagte nichts Genaues, aber es war für mich klar, dass er Krebs hatte. Es muss aber recht schnell mit ihm zu Ende gegangen sein.

Jetzt wollte sie zu ihrem Sohn nach Millau ziehen, um ihm im Geschäft zu unterstützen. Er betreibe dort eines der bekannten Lederwarengeschäfte.

„Kennen Sie Millau?“

Ich wusste nur, dass es bei Millau eine große Autobahnbrücke geben soll. Anne-Marie klärte mich auf, dass Millau das Zentrum der Handschuhherstellung sei und dass alle Großen dieser Welt Handschuhe aus Millau trügen.

„So wie besondere Männer eben eine klassisch schlichte Uhr von „Lange & Söhne“ tragen. Sie kennen Millau nicht und ich kenne nur zwei Männer, die solche Uhren tragen. Der eine ist mein Sohn, der seine Uhr von seinem Vater geerbt hat und der andere sind Sie, lieber Joseph.“

Jetzt erinnerte ich mich wieder an das belauschte Telefonat in Avignon und wusste, dass sie mich mag.

„Meine Uhr habe ich zu meinem 50. Geburtstag bekommen“, sagte ich so einfach daher.

„Und geschenkt hat sie Ihnen bestimmt Helene“, sagte sie in einem ganz anderen Ton.

„Woher wissen Sie?“

„Mon ami, Sie haben mich bereits zweimal mit Helene angesprochen. Sie muss Ihnen sehr viel bedeuten.“

Das war entwaffnend offen und ich erklärte ihr, wer Helene sei. Sie schaute mich aber nur etwas traurig und ungläubig an.

„Anne-Marie, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass es so ist, wie ich Ihnen geschildert habe. Warum sollte ich Sie belügen? Am Sonntag reise ich ab und danach sehen wir uns, wenn Sie es wünschen, mit Sicherheit nicht wieder.“

Anne-Marie nahm meine Hände zwischen die ihrigen und küsste sie.

„Ich hatte gehofft, dass Sie mich vielleicht in Millau besuchen werden. Ende des Jahres ist meine Trauer bestimmt nicht mehr so groß und ich könnte für Sie mehr sein als zurzeit.“

„Ende des Jahres ist alles vorbei!“, rutschte mir heraus und ich war zugleich über mich selbst zornig.

Sie starrte mich mit großen Augen entsetzt an und wollte wissen, was ich damit gemeint habe.

Ich wich ihr bei der Antwort aus und sie schien - so bildete ich mir jedenfalls ein - verstanden zu haben. Jetzt war der wunderschöne Abend verdorben.

Am nächsten Tag fuhren wir nach dem Frühstück zurück nach Arles.

„Morgen habe ich leider keine Zeit für Sie, weil ich den Termin beim Notar habe und packen muss. Am Samstag holt mein Sohn meine Sachen ab, aber am Sonntag können wir den ganzen Tag zusammen sein. Sie müssen doch erst am Montag in Marseille sein“, sagte sie beim Abschied.

Ich konnte ihr nicht mehr antworten, weil ich kein Wort mehr herausbrachte und nickte nur. Sie küsste mich rechts und links auf die Wange und ging. Ich reiste bereits am Sonntag nach dem Frühstück aus Arles ab, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.

Der Gedanke, mich von ihr zu verabschieden, war mir unerträglich.

Krebs-Endstadium! Was nun Joseph?

Подняться наверх