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Sehnsucht nach Gesundheit
1.1. Die ganz alltägliche Hoffnung auf Gesundheit – ein religiöses Verlangen?
Die Medizin und ihre Möglichkeiten, Gesundheit zu erhalten und zu stabilisieren, sind in der modernen Gesellschaft Gegenstand vieler Erwartungen. Nicht wenige, die im Gesundheitswesen tätig sind, erleben diese Erwartungshaltung aber auch als eine Überforderung, ja als ein Anspruchsdenken1. Gerät die Hoffnung auf die Erfolge medizinischen Handelns in die Nähe zu religiöser Sehnsucht?
Beispiele für diese Überhöhung der Erwartungen an Medizin und Gesundheit überhaupt lassen sich jedenfalls schnell finden. Sie reichen bis zur Verbindung zwischen Wellness und Spiritualität.
Um mit einer nüchternen Feststellung und Beschreibung zu beginnen: Niemand wird bezweifeln, dass sich der Mensch nach Gesundheit sehnt. Diese Sehnsucht kommt in recht unterschiedlichen, aber unübersehbaren Phänomenen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft zum Ausdruck.
Wohl kaum ein Geburtstag vergeht, an dem nicht nach allen anderen Wünschen immer wieder der Wunsch angefügt wird: „… und vor allem Gesundheit!“. In dem bekannten Kanon, der nicht selten an einem Geburtstag gesungen wird, heißt es:
„Viel Glück und viel Segen auf all’ deinen Wegen;
Gesundheit und Frohsinn sei auch mit dabei!“
Hier werden dem gewünschten Glück und dem erhofften Segen die Gesundheit und der Frohsinn/die Freude beigesellt: Sie sollen das Glück und den Segen gleichermaßen konkretisieren und vervollständigen.
Selbst der 3. Johannesbrief im Neuen Testament beginnt mit den Worten:
„Der Älteste an den geliebten Gaius, den ich in Wahrheit liebe. Lieber Bruder, ich wünsche dir in jeder Hinsicht Wohlergehen und Gesundheit, so wie es deiner Seele wohlergeht.“ (3 Joh 1f)
Es ist in diesem Sinne wohl sicherlich angemessen, von einer Alltäglichkeit der Sehnsucht nach Gesundheit und Heil zu sprechen. Gesundheit wird heute allgemein als das Wichtigste im menschlichen Leben verstanden, nicht selten ist dabei sogar vom „höchsten Gut, das wir überhaupt besitzen“, die Rede.2
1.1.1. Gesundheit als aktive Aufgabe
Gesundheit wird aufgrund seiner allgemein hohen Wertschätzung zugleich zu einem Gegenstand moralischer Anstrengung. In den Dimensionen von Ernährung, Erhaltung der Fitness, ja in der Struktur des Gesundheitswesens und der in ihm üblichen Sprache kommt dieser ethische Verpflichtungscharakter ins Spiel. Das Erleben von Krankheit in seiner mittelbaren und unmittelbaren Nähe lässt auch und gerade den gesunden Menschen fragen, wie er seine Gesundheit durch eigenes Tun (oder Unterlassen) erhalten kann. Gemäß dem geläufigen Wort „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts!“ versuchen viele, gesund zu bleiben bzw. zu werden.
Durch bewusst gesunde Ernährung, die sich z. B. in der immer größeren Nachfrage nach Bio-Produkten niederschlägt, kommt dieser inhärent ethische Charakter der Gesundheitssehnsucht gegenwärtig vielleicht am pointiertesten zum Ausdruck. Davon zeugt auch das breit gefächerte Angebot im Supermarkt, in dem diese Produkte unübersehbar allen Kunden ins Auge fallen (sollen). Auch die jährliche „Grüne Woche“ in Deutschland ist ganz in diesem Sinne bestimmt von Öko- und Bio-Produkten, die u. a. eine gesündere Ernährung versprechen.
Aber darüber hinaus gilt umfassend im Blick auf die Verwendung des Begriffs Gesundheit: Sehnsucht, persönliche Anstrengung, ja öffentliches Bewusstsein verbinden sich miteinander. Krankenkassen nennen sich bewusst Gesundheitskasse (AOK), und aus Krankenpflegern sind inzwischen Gesundheitspfleger geworden.
Auf der Suche, Sehnsucht und Verlangen nach Gesundheit und Wohlbefinden zu verwirklichen, werden heute – führt man diese Beobachtungen weiter – die unterschiedlichsten Angebote gemacht, die Gesundheit und Wohlbefinden versprechen: Fitness-Studios, deren Nutzung heute für viele fest zum wöchentlichen Terminplan gehört – und dies nicht selten sogar mehrmals in der Woche –, werben dafür, durch körperliche Betätigung etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Sieben Tage in der Woche wird – gelegentlich hinter überdimensional großen „Schau-Fenstern“ – der Blick von Passanten auf die Nutzer der FitnessGeräte gelenkt, um bei möglichst vielen Menschen Interesse an deren Nutzung für das eigene Wohlbefinden zu wecken.
Wellness wird in diesem Kontext folgerichtig als optimales Wohlbefinden beschrieben. 1990 wurde in der Logik dieser Tendenzen in Deutschland die Europäische Wellnessunion (EWU) gegründet. So verwundert es nicht, dass in den vergangenen Jahren Wellnessanlagen (mit nicht nur verheißungsvollen Namen, sondern gleichermaßen) mit verheißungsvollen Angeboten wie Pilze aus dem Boden schossen.
Der Sinn dieser Anstrengungen ist dabei offensichtlich: Der vom Alltagsstress geplagte Mensch ist eingeladen, durch Wellness, gesundheitsfördernde Kuren, durch Bäder, Massagen, Licht-, Stein-, Geruchstherapien u. v. m. die Einheit von Körper, Geist und Seele wiederherzustellen.3
Die Besucherzahlen in den Thüringer Thermen – um Beispiele aus dem konkreten Umfeld des Autors dieser Studie zu nennen – bestätigen dieses Verlangen, wobei die Einrichtungen in ihren stets neuen Angeboten nicht einfallslos sind.
In der Kristall-Therme in Bad Klosterlausnitz findet sich ein „Sinnespfad“ (2012), auf dem man durch das Beschreiten mittels einer „natürlichen Fußreflexzonenmassage“ sein Bewusstsein erweitern soll. Dort heißt es zum Beispiel:
„Der Kristall-Sinnespfad mit den Stationen Granitsteine, Rindenmulch, Kalk-Kieselsteine und Tannenzapfen:
Der Sinnespfad mit unseren verschiedenen Stationen ist eine natürliche Fußreflexzonenmassage. Alle Organe und Körperteile haben auf der Fußsohle feste Punkte, mit deren Anregung durch ‚Massage‘ diese positiv angeregt sowie günstig beeinflusst werden. Es wird der gesamte Körper mit all seinen Organen und Sinnen durch gesetzte Reize stimuliert und die Selbstheilungskräfte Ihres Körpers aktiviert.
Durch das Begehen des Sinnespfades werden die sensorischen Fähigkeiten trainiert und die Durchblutung in den Füßen angeregt. Erweitern Sie Ihr Bewusstsein bei einem Rundgang durch unseren Sinnespfad.
Wir wünschen Ihnen viel Freude dabei!
Bleiben Sie gesund!
Ihr Kristall-Team!
Kristall-Therme
Genuss pur“4
Die Toskana-Therme in Bad Sulza5 wirbt an ihrem Eingang (2012) mit dem unübersehbaren Slogan:
„Verschenken Sie Glück und Gesundheit“.
In ihrem Flyer bezeichnet die Kette der Toskana Thermen in Bad Sulza (Thüringen), Bad Orb (Hessen) und Bad Schandau (Sachsen) einen Thermenbesuch mit einer individuellen Behandlung sogar als eine „nachhaltige Investition in Gesundheit und Wohlergehen“. Durch eine empfohlene „Indian Head Massage“ wird eine „Balance zwischen Körper und Geist“ versprochen, die ein „Gefühl von Harmonie und Wohlbefinden“ erzeugt. Eine „Klangmassage“ verheißt eine einmalige Wirkung, indem durch das direkte Auflegen und Anschlagen von verschiedenen Klangschalen auf dem Körper Klangwellen den Körper durchströmen, der dadurch eine sanfte Zellmassage erfährt; die einzelnen Körperbereiche werden mit ihnen entsprechenden Klängen bedacht, wodurch der Körper zu seiner ursprünglichen harmonischen Frequenz zurückfinden soll. Eine Reiki-Behandlung verspricht, die heilende, universelle Energie durch Handauflegen in den Körper einfließen zu lassen. Sie wird als sehr alte Heilkunst beschrieben, die „universale Lebenskraft“ bedeutet. Durch Auflegen der Hände werde hier heilende Kraft weitergeleitet; Reiki wirke auf allen Ebenen „reinigend und heilend“, und Körper, Geist und Seele kommen ins Gleichgewicht.6
1.1.2. An der Schwelle zum religiösen Heilsverlangen? Die qualitative Vertiefung der Erwartung an Heilung und Heil
Es ergeben sich interessanterweise – und das ist hier wichtig – aus dieser irgendwie „ganzheitlichen“ Ausweitung der alltäglichen Sehnsucht nach Gesundheit Dimensionen gewissermaßen „transzendenter“ Qualität, welche das moderne Verständnis von Heilung in diesen Entwicklungen begleiten kann. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Gesundheit und ganzheitliche Lebensqualität, körperliche und emotionale Bedürfnisse, somatische und spirituelle Seiten menschlichen Heilseins rücken zusammen. Stichworte wie „Glück und Gesundheit“, „Balance zwischen Körper und Geist“, „Gefühl von Harmonie und Wohlbefinden“, „ursprüngliche harmonische Frequenz“, „heilende universelle Energie“, „universelle Lebenskraft“, „heilende Kräfte“, „reinigende und heilende Wirkung“, „Gleichgewicht von Geist und Seele“ wirken attraktiv und vielversprechend für die meisten Menschen, zumal sie in ihrer so überaus ideenreichen Verwendung nicht nur körperliche Gesundheit, sondern Heil versprechen.
So scheint heute Gesundheit dem Menschen als letztes und endgültiges Ziel vor Augen zu stehen. Es ist folgerichtig, dass viele meinen, für die Gesundheit alles tun zu müssen. Manfred Lütz weist im Sinne dieser Dynamik mit der Behauptung „Gesund ist, wer nicht ausreichend untersucht wurde“ auf eine Überlegung von Rudolf Gross hin, demzufolge
„[d]ie Praxis zeige, dass die Zahl der krankhaften Werte mit der Zahl der Untersuchungen zusammenhänge. Macht man bei jedem Menschen 5 Untersuchungen, sind vielleicht noch mehr als 95 % gesund. Bei 20 Untersuchungen sind es nur noch 36 % und bei 100 Untersuchungen ist mutmaßlich jeder Mensch krank. Da jeder krankhafte Wert weitere Kontrolluntersuchungen nach sich zieht, gibt es ab einem bestimmten Punkt kein Halten mehr. Daraus folgt: Gesund ist, wer nicht ausreichend untersucht wurde.“7
Das heißt, der sich vertiefende, sich in seinen ganzheitlichen Aspekten differenzierende Blick auf Gesundheit und Heilsein führt auch zu einer „mikrokosmischen“ Sensibilität in diesem Bereich – zu einer qualitativen Vertiefung der Erwartung an Überwindung der Beeinträchtigung durch Krankheit, fehlender Balance und Belastungen. Die Sehnsucht des Menschen, gesund zu sein und gerne wissen zu wollen, wie er dies erreichen kann, erklärt vielleicht so manchen Arzttermin, der unter Umständen gar nicht nötig wäre.
Mit dem Rückgang existenzieller körperlicher, seelischer und sozialer Bedrohungen geraten heute – auch das ist eine weitere, ergänzende Beobachtung – zunehmend milde Erkrankungen, Befindlichkeitsstörungen und Symptome in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Betroffenen und des gesundheitsindustriellen Komplexes. In dieser Entwicklung liegt vielleicht auch der Grund, warum Naturheiler und Heilpraktiker zunehmend eine Rolle auf dem Feld der Erwartungen bezüglich der Gesundheit und des Wohlbefindens des Einzelnen spielen.
Die alternative Medizin befindet sich in einem solchen Ausmaß auf dem Vormarsch, dass in Europa bei steigender Tendenz jährlich etwa ein Drittel der Bevölkerung auf irgendeine Art und Weise diese Medizin in Anspruch nimmt;8 damit verbunden ist auch ein vermehrter Konsum von sogenannten Nahrungsergänzungsmitteln.
Kann man so – auch heute noch oder wieder – mit Platon formulieren: „Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit“9?
1.1.3. Eine tatsächlich religiöse Tiefe der Sehnsucht?
Aus theologischer Perspektive drängt sich jedenfalls – und damit wird der Fokus der hier vorgelegten Untersuchung berührt – angesichts dieser Phänomene gegenwärtiger Erwartungen an Gesundheit, Medizin, Wellness und Heilpraxis die Frage auf, ob darin nicht eine nicht zu verdrängende „religiöse“ Tiefe menschlicher Sehnsucht zum Ausdruck kommt – und zwar mitten in der modernen Gesellschaft, die sich als säkularisiert und von gläubigen Interpretationen weitgehend befreit versteht. In den Spitzen der ganzheitlichen, quantitativen und qualitativen Vertiefung von Sehnsucht und Erwartung an Gesundheit und Medizin könnte sich die genuin religiöse Hoffnung auf eine transzendente Geborgenheit in Krankheit und Bedrohung zum Ausdruck bringen. Ohne diese Beschreibung schon zu sehr theologisch anspruchsvoll füllen zu wollen, lässt es sich vielleicht im Sinne eines ersten Vorverständnisses dieser Untersuchung so formulieren: Sehnt sich der kranke Mensch zunächst nach Gesundheit, so gibt sich offensichtlich sogar der gesunde Mensch mit seinem Wohlbefinden nicht zufrieden. Wer kann schon von sich selbst sagen, er fühle sich vollkommen wohl? Und selbst der, der darum zu beneiden ist, wird eine Sehnsucht nach mehr verspüren, ganz gleich wie unterschiedlich er dieses „Mehr“ beschreibt oder auch gerade nicht beschreiben kann.
Man könnte in diesem Sinne noch einmal eine Beobachtung aus der gegenwärtigen Alltagswelt herausstreichen: „Heilfasten“ wird von immer mehr Menschen praktiziert, die als Voraussetzung für dieses (oft gemeinsame) Unternehmen gesund sein müssen. Drückt sich schon in dieser Voraussetzung eine Sehnsucht nach mehr als nur Gesundheit aus? Über unterschiedlich lange Zeitabschnitte begibt man sich ja gemeinsam auf einen Weg, der – wie der Name sagt – nicht nur Gesundheit, sondern Heil verspricht. Und auch hier steht noch einmal diese Beobachtung der Konvergenz zwischen körperlichen und spirituellen Anliegen in Frage: Anziehend und verheißungsvoll klingen in jedem Fall für die meisten Menschen Worte wie „ganzheitlich“ oder „Selbstheilungskräfte“. Körperliches und seelisches Wohlergehen sollen zusammengeführt werden. Fasten in Verbindung mit Meditation und Reflexion versprechen ganz offensichtlich mehr als nur (körperliche) Gesundheit.
Auf der Ebene anthropologischer Grundannahmen formuliert könnte dies heißen: Diese Sehnsucht nach mehr (als nur Gesundheit) scheint den Menschen auszuzeichnen, wobei er sicher den Inhalt seiner Sehnsucht nicht immer in Worte fassen kann. Heilfasten scheint ein Weg zu sein, dieser nur schwer fassbaren Sehnsucht auf die Spur zu kommen.
Hier aber kommt die einzigartige Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten „Gesundheit“ und „Heil“ – sie wird die vorliegende Untersuchung signifikant beschäftigen! – in einer ersten Wahrnehmung in den Blick. Der Ausspruch: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen!“ wird meist nur auf den kranken Menschen bezogen, der sich (als einzigem Wunsch) nach Gesundheit sehnt. So verständlich das (vielleicht) ist, so zielt dieser Ausspruch doch auch auf die vielen Wünsche und Sehnsüchte, die der gesunde (aber letztlich wohl jeder, auch der kranke) Mensch hat. Was in der Krankheit zum einzigen Ziel wird, die „Gesundheit“, das scheint in der Gesundheit zum Inbegriff einer irgendwie ebenso unbedingt erhofften Integrität zu werden, welche diese zugleich unbestimmt überschreitet – zum „Heil“.
Auf diesem Hintergrund lässt sich vielleicht vorläufig festhalten: „Heil“ ist sicher eine Umschreibung dessen, was weit über den Zustand der Gesundheit hinausgeht und wonach sich sowohl der kranke als auch der gesunde Mensch sehnen kann. Gewiss scheint dabei zu sein, dass „Heil“ nicht mit „Gesundheit“ gleichgesetzt werden darf, was möglicherweise, aber eben missverständlicherweise der Begriff „Heilung“ als der Weg von der Krankheit zur Gesundheit nahelegen könnte.
Oder in einer Art unmittelbaren, negativen Heuristik ausgedrückt: Würde man Heil mit Gesundheit identifizieren, dann hätte der vermeintlich gesunde Mensch keine Sehnsucht mehr nach Heil und bliebe zudem vor jeder „Unheilserfahrung“ bewahrt; nur der kranke Mensch „wüsste“ dann noch, was Sehnsucht nach Heil bedeutet.
Auch hier kann, wenn man so will, noch einmal die Analyse der Alltagssprache behilflich sein, um ein erstes Problembewusstsein, ja Vorverständnis abzusichern: Wenn die Sprache den Menschen verrät, dann gilt: „Heilfroh“ kann sowohl ein gesunder als auch ein kranker Mensch sein, genauso wie der Mensch in beiden gesundheitlichen Situationen „Heilserlebnisse“ und „Heilserfahrungen“, aber auch „Unheilserlebnisse“ und „Unheilserfahrungen“ haben kann.
Die Sehnsucht des Menschen nach Heil als etwas, das weit mehr als Gesundheit ist, kommt in diesem Sinne offensichtlich in unzähligen und vielfältigen Werken in Literatur, Musik, Theater, Malerei etc. zum Ausdruck. Etwas pointiert gesagt: Der Traum von einer „heilen Welt“ scheint „in dieser Welt“ nie ausgeträumt werden zu können.
1.1.4. Die gegenwärtige (theologisch-)ethische Bewertung: Die These von der Gesundheit als Ersatzreligion
Die Fülle der Aspekte, die mit dieser Beziehung zwischen Gesundheit und Sehnsucht nach Heil verbunden sind, lässt sich hier im einleitenden Blick auf das alltägliche Lebensgefühl nur andeuten. In Bezug auf die moraltheologischen Fragestellungen aber bleibt ein letzter Hinweis: Auch wenn die Unterscheidung zwischen Heilung und Heil im allgemeinen Bewusstsein der Gegenwart in diesem Sinne präsent ist, wertet eine (theologisch-)ethische Analyse die gegenwärtigen Tendenzen schließlich sogar als eine Entwicklung, in der die Wünsche an die Gesundheit die Rolle einer „Ersatzreligion“10 einnehmen würden.
Ludger Honnefelder setzt etwa in diesem Sinne beim Sprachgebrauch des Wortes Gesundheit an und geht sodann der Frage nach, als welches Gut denn eigentlich Gesundheit zu verstehen ist. Dabei verweist er zunächst auf Nietzsche, der die Gesundheit für undefinierbar hält, aber auch auf Aristoteles, bei dem das Wort „gesund“ ein Paradebeispiel für ein Wort mit vielfacher Bedeutung ist, das auf einen ursprünglichen Sinn verweist. Und er rekurriert auf Platon, bei dem „Gesundheit“ als „Harmonie“ von Leib und Seele verstanden wird, weswegen jener auch die sittliche Tugend als „Gesundheit der Seele“ bestimmen kann.11
Gesundheit in diesem Sinne als Vollständigkeit und Harmonie zu verstehen, scheint nach Honnefelder der Definition der WHO Recht zu geben, die Gesundheit als „Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur der Abwesenheit von Krankheit und Schwäche“ definiert. Eine solche umfassende Bestimmung aber geht nach Honnefelder viel zu weit und lässt ihn deshalb noch einmal zurückfragen, ob nicht doch die von der WHO abgelehnte Alternative richtig sei, dass Gesundheit nur die Abwesenheit von Krankheit und Schwäche darstellt. Aber hier ist es wieder die schlichte Eindimensionalität, welche im Blick auf eine solche Vereinfachung zögern lässt.12
Und so findet Honnefelder schließlich einen Schlüssel zum rechten Verständnis von Gesundheit noch einmal bei Aristoteles,
„wenn er zwischen ‚Leben‘ (ζην) und ‚Gutleben‘ (ευ-ζην) unterscheidet. Mit dem bloßen Leben, so will Aristoteles mit dieser Unterscheidung sagen, hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt. Eudaimonia, Glück, nennt er diese Form tätigen Lebens. Gesundheit ist also ein Gut, das zum gelungenen Leben gehört, aber nicht schon mit ihm identisch ist. Denn gelungenes Leben umfasst den ganzen Menschen und sein tätiges Werk. Es stellt sich ein auf dem Rücken der Praxis, in der wir die uns sinnvoll erscheinenden Ziele verfolgen. Und es ist gar nicht unmittelbar als solches zu erstreben, sondern das in allen Zielen verfolgte Ziel, das inklusive Ziel.“13
Es sei, so Honnefelder weiter, genau diese Vorstellung vom gelungenen Leben, welche Augustinus in das christliche Verständnis integriert habe. Dieser betone allerdings, dass der Mensch das gelungene Leben nicht vollständig und nicht endgültig zu erreichen vermöge, sondern in Endlichkeit, Sterblichkeit und Versagen seine Grenzen erfahre und deshalb das definitiv gelungene Leben nur als Gegenstand seiner Hoffnung, als geschenktes Heil erwarten könne.14
Und: Steht Augustinus nach Honnefelder dabei in der Gefahr, das gelungene Leben so zu spiritualisieren, dass die Gesundheit als dessen integrales Gut verzichtbar zu werden scheint, so zeigt sich für Honnefelder im „Gesundheitskult“ der Gegenwart aber offenkundig das Gegenteil – eine Tendenz, in deren Zusammenhang schließlich die Befürchtung von der Ersatzreligion auftaucht:
„Immer stärker nimmt die Gesundheit die Rolle des Endziels ein und wird in Form eines Kults der Körperlichkeit zum aktuellen Kandidaten für das gelungene Leben. Die Ziele der Medizin drohen sich in Richtung Optimierung, Enhancement, von der Bedarfs- auf die Wunschmedizin zu verschieben. Fitness und Wellness werden zum Selbstzweck. Gesundheit droht die Stelle des Heils einzunehmen und zum Gegenstand einer neuen Religion zu werden.“15
Das heißt: Theologische Ethik sieht in solchen Tendenzen offensichtlich die Gefahr, dass sich das Handeln gegenwärtiger Kultur im Bereich von Gesundheit und Medizin in einer Dynamik verliert, welche den religiösen Glauben ersetzt. Warum mit einer solchen Entwicklung eine Gefahr verbunden ist, bleibt dabei offen: ob die Institutionen des Gesundheitssystems dadurch überfordert werden, ob eine religiöse Aufladung das medizinische Handeln selbst verfälscht und in diesem Sinne ein ethisches Problem darstellt oder ob der Verlust der eigentlich religiösen Erfahrung für ein Leben in Menschlichkeit bedrohlich ist. Ausgedrückt wird lediglich eben die Sorge, dass der Ersatz moralische Folgen hätte, die von Gewicht sind.
1.2. Empirische Untersuchung: Mit welchen Erwartungen und an wen wenden sich Menschen in ihrer Sehnsucht nach Heilung?
Im Sinne dieser ersten, an der gegenwärtigen Lebenswelt erhobenen Beschreibung der vorsichtig charakterisierten quantitativen und qualitativen Konvergenz zwischen Erwartungen an Medizin und religiösem Glauben wird das Forschungsprojekt der vorliegenden Untersuchung in seiner Zielrichtung klar. Das Ziel dieser Studie ist es, auf dem Hintergrund der konkreten Strukturen heutiger Erwartungen an Medizin und Glaube die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung theologischethisch zu reflektieren. Es geht dabei – das ist im Sinne einer deutlichen Abgrenzung der Möglichkeiten und der limitierten Zielrichtung der Untersuchung zu verstehen! – nicht um Qualitätsmanagement für das medizinische Handeln, für das moderne Gesundheitswesen, für das heutige Arzt- oder Patientenethos oder gar für medizinische Produkte, und geht es geht auch nicht um Rechtgläubigkeit im Sinne theologischer Unterscheidung und lehramtlicher Autorität innerhalb postmoderner pluraler und oft subjektivistischer Sinnsuche. Die Reflexion auf die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung, religiöser Erwartung und medizinischer Option, die in der Analyse dieser Arbeit versucht wird, dient einem allerersten Ansatz, um auch im modernen Kontext Glaube und Medizin ethisch verantworten zu können. Die wissenschaftlich vorgenommene Differenzierung in den gegenwärtigen Tendenzen der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll helfen, Sachgerechtigkeit und Komplexität als Basis von Ethik zu sichern.
Dabei bewegt sich die Studie in einem vierfachen Schritt, um ihre Ergebnisse begründen zu können.
Im ersten Teil werden die vielfältigen intuitiven und normierten Definitionen von Gesundheit und Heil im Sinne der gesellschaftlichen Vorstellungen und der wissenschaftlichen, also medizinischen bzw. theologischen Standards der Gegenwart zum Ausgangspunkt genommen. Dabei zeigt sich in den Definitionen die osmotische Offenheit dieser Begriffe füreinander im Sinne der schon angedeuteten Kaskade der Sehnsucht: der Wunsch nach alltäglichem Leben in Gesundheit und Freude und die darin irgendwie präsente Hoffnung auf eine noch größere, umfassende Integrität.
Genau diese sich steigernde Erwartung wird im Sinne der religionssoziologischen Definition religiöser Erfahrung in ihrer Funktion als Kontingenzbewältigung (Niklas Luhmann) mithilfe von „kleinen“ und „großen Transzendenzen“ (Thomas Luckmann) zu deuten versucht: Lässt sich der These folgen, dass der Einsatz für ein Leben in Gesundheit heute gegenüber der „großen Transzendenz“, der Hoffnung auf Gottes Heil, konkret und erfahrbar in den Vordergrund gerückt ist, die „kleine Transzendenz“ der Gesundheitswünsche also der großen gewissermaßen den Rang abgelaufen hat? Als Ausdruck der Diesseitsreligion, der Verlagerung der Sehnsucht nach Geborgenheit des Lebens in das Hier und Jetzt? In solchen Fragen geht es um die Überprüfung der von der Moraltheologie formulierten Sorge übersteigerter Ansprüche an die Gesundheit als „Ersatzreligion“.
Im zweiten Teil wird zur Klärung einer solchen Bewertung das Ergebnis einer empirischen Untersuchung zu Erwartungen von Patienten an Medizin und religiösem Glauben vorgestellt. Anhand von Fragestellungen soll dabei das Zueinander zwischen kleinen und großen Transzendenzen im Kontext der Erwartungen an Gesundheit und Heilung/ Heil ergründet werden, und zwar im Spiegel der an das medizinische oder kirchliche Personal herangetragenen Wünsche nach gesundheitlicher Heilung, medizinischer Linderung, aber auch nach Rat, Unterstützung, Orientierung, Führung, ja Hoffnung, innerem Frieden und Trost.
In einem dritten Teil werden die erfragten Erwartungen in ihrer theologischen Qualität mithilfe einer Analyse neutestamentlicher Heilungserzählungen abgesichert. Die biblischen Heilungsgeschichten zeigen eine Dynamik, welche von konkreten Erwartungen der Hilfesuchenden an Jesus und seine Jünger zur „tieferen“ Ebene gläubiger Hoffnung führt. Diese Dynamik lässt sich – im Sprachgewand heutiger Religionssoziologie – als Erfahrung großer Transzendenz durch die Vermittlung kleiner Transzendenz verstehen: Neben der Hoffnung auf ganz konkrete physische Gesundung steht damit – ja auch noch einmal neben der Frage nach zunächst psychischer Integrität (Unterstützung, Führung, Rat, Orientierung) – eine Ebene ganzheitlicher Erfüllung, Befriedigung, Geborgenheit und Integrität infrage (Trost, Hoffnung, innerer Friede), die über die konkrete diesseitige Erfahrung irgendwie hinausführt und deshalb in die Dimensionen „großer Transzendenz“ verweist.
Lässt sich in der empirischen Untersuchung der Erwartungen von Menschen an Medizin und religiösem Glauben zeigen, dass diese theologische Zuordnung zwischen dem Verlangen nach Heilung körperlicher und psychischer Gebrochenheit und der Sehnsucht nach einer letzten Geborgenheit und Vollkommenheit bei Gott (dem Heil) als innerem Verweiszusammenhang verloren gegangen ist? Anders gefragt: Ist die große Transzendenz der Hoffnung auf Gott durch das bloße Heilungsbegehren ohne tieferen Blick auf eine letzte Geborgenheit des Lebens verdrängt worden?
Es wird sich im vierten und fünften Teil dieser Untersuchung zeigen, dass jede vereinfachende und undifferenzierte Behauptung von Ersatzmechanismen der Komplexität des Verhältnisses zwischen Glaube und Medizin heute nicht gerecht werden kann. Die konkreten Ergebnisse der empirischen Untersuchung gegenwärtiger Erwartungsstruktur werden demgegenüber vielmehr ausführlich im Blick auf verschiedene Bedeutungsfelder hin ausgewertet. So soll am Ende die kritische theologisch-ethische Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube stehen, wie sie für die Gegenwart von Relevanz ist.
Die vorliegende Untersuchung lässt sich dabei in ihrer theologischen Perspektive von dem beschriebenen Vorverständnis im Sinne der angedeuteten Konturen leiten und versucht sie kritisch zu bewerten. Vereinfacht ausgedrückt: Die unübersehbare Sehnsucht und Suche der Menschen sowohl nach „Heilung und Gesundheit“ als auch nach „Glückseligkeit und Heil“ zeichnen den Menschen als transzendentes Wesen aus, das immer über sich selbst hinaus verweist. Der Mensch will gesund sein und ein heilvolles Leben er-leben. Er sehnt sich zeit seines Lebens immer nach einer umfassenden Absicherung der „Integrität“ seines Lebens. In Zeiten der Krankheit sehnt sich der Mensch nach Heilung und Gesundheit. In Zeiten der Gesundheit sehnt er sich danach, diese zu erhalten und ist auf der Suche, diese Sehnsucht zu stillen. In den noch so glückseligen Momenten seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens möchte er diese festhalten und weiß doch, dass dies unmöglich ist, da sein Leben ständigem Wandel unterworfen ist. Und so ist sein Leben selbst in diesen Momenten von einer Sehnsucht gezeichnet, die er immer wieder neu zu erfüllen sucht.
Um die Dynamik, die Umschichtungen und „Bewegungen“ in den Erwartungen von heute an Gesundheit und Glaube im Sinne der Beziehung zwischen „kleiner“ (körperliche Gesundheit) und „großer“ (Sehnsucht nach innerem Frieden und Heil) Transzendenz angemessen in den Blick zu bekommen sowie differenziert beschreiben zu können, muss die dahinterstehende Struktur der Erwartung an Medizin und Glaube im Blick auf die Formen und Orte verstanden werden, in denen Gesundheit und Heil zum Gegenstand der Hoffnung wird. Aber darüber hinaus muss verstanden werden, wer der Adressat dieser Erwartungen und ihrer Intentionen eigentlich ist. Ja, in einem letzten Schritt stellt sich auch die Frage danach, auf welche Weise und in welchen Lebensbezügen die Erfüllung der Suche nach Heilung und Heil im Sinne der ganzheitlichen Dimensionen (somatisch und emotional) erfahren wird. Darüber hinaus ist der „Umgang“ mit der Verweigerung dieser Erfüllung zu erheben. Das heißt, es geht um die Erforschung, inwieweit Menschen selbst diese Erfüllung als Möglichkeit oder Unmöglichkeit erleben, welche Instanzen ihnen diese Erfüllung nach ihrer Erfahrung zu erschließen vermögen und welche nicht, worin dieses Erleben eigentlich besteht und ob es in einer unreduzierbaren Pluralität (sinnlich, emotional, spirituell, je nach Präferenz des Einzelnen) oder signifikanten Einzigartigkeit bestimmter ausgezeichneter „universaler“ Konstanz (anthropologischer „Wesensbestimmung“?) erfahren wird.
Die Richtungen der Analyse lassen sich in diesem Sinne in folgenden Fragen zum Ausdruck bringen:
Wie und wo sucht der heutige Mensch diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Wie und wo nicht?
Von wem erhofft er diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Von wem nicht?
Wie und wo findet er diese Erfüllung (Heilung und Heil) für Leib und Seele? – Wie und wo nicht?
Worin besteht für den Menschen diese Erfüllung (Heilung und Heil) eigentlich? – Worin nicht?
Gibt es nur eine Erfüllung für Leib und Seele oder kann diese in den Vorstellungen der Befragten durchaus unterschiedlich aussehen?
So kann das Ziel der Untersuchung mit der Frage zusammengefasst werden: Mit welchen unterschiedlichen Erwartungen und an wen wenden sich Menschen in ihrer Sehnsucht nach Heilung und Heil, um Erfüllung für ihr Leben an Leib und Seele zu finden?
Diese Frage ist aus dem Blick theologischer Ethik entscheidend, um sowohl für die suchenden und erwartungsvollen Menschen als auch für die, die bei der Erfüllung von Erwartungen helfen sollen, das Zueinander zwischen Medizin und Glaube heute angemessen reflektieren zu können. Hier liegt das eigentliche Ziel der Untersuchung, auch wenn sie im Sinne einer Grundlagenforschung nur die Analyse der Differenz und Konvergenz von Medizin und Glaube leisten kann, ohne konkrete Konsequenzen für die Gestaltung von medizinischer oder auch kirchlicher Praxis im Einzelnen beleuchten zu können. Aber es ist die Arbeit an der konkreten Erfahrung der Spannung zwischen medizinischer und religiöser Kultur heute, welche aus dem Blickwinkel der Moraltheologie die Voraussetzung für ethisch verantwortbare Praxis in beiden Feldern darstellt.
1.3. Das Verhältnis von Medizin und Glaube – Forschungsbericht
Sowohl die medizinische als auch die theologische Wissenschaft sind sich heute darin einig, dass der Mensch nur als Leib-Seele-Einheit zu begreifen ist, das heißt, es gibt ihn nur als leibhaftige Seele bzw. als beseelten Leib. Aus diesem Wissen, besser aber noch aus dieser Erfahrung leitet sich der Zusammenhang vom körperlichen und seelischen Wohl bzw. Leiden des Menschen ab. Aus diesem Zusammenhang wiederum ergeben sich Erwartungen der Menschen an Medizin und Glaube. Diese Erwartungen bestimmen das Verhältnis von Medizin und Theologie. Mit welchen konkreten Erwartungen sich Menschen heute aber speziell an die Medizin bzw. die kirchliche Seelsorge wenden, ist im deutschsprachigen Raum, so haben Recherchen im Rahmen dieser Arbeit ergeben, derzeit noch nicht hinreichend erforscht. Ansätze, dem körperlichen und seelischen Wohl des Menschen zu dienen, werden einerseits auf medizinischem und andererseits auf theologischem Feld reflektiert. Für das Miteinander von medizinischer Praxis und dem Vollzug religiöser Wirklichkeitsbewältigung im Umgang mit Gesundheit und Krankheit werden in der Literatur Konzepte beschrieben, welche das komplementäre Verhältnis von Medizin und Theologie einzufangen versuchen.
Der Theologe Eugen Biser spricht von einer „therapeutischen Theologie“, die keine theologische Spezialform neben anderen ist, „sondern die Form, in welcher die theologische Sache heute allein verhandelt werden kann“16. Für Biser entwickelte sich eine Entzweiung von Theologie und Medizin bereits in den Evangelien, in denen die Heilungsgeschichten anfänglich noch durchweg Glaubensgeschichten sind, mehr und mehr aber zum Argument für Jesu göttliche Vollmacht werden. Darin sieht Biser den Beginn der argumentativen und spekulativen Verarbeitung der Botschaft Jesu, aus der die wissenschaftliche Theologie hervorging, in deren weiterem Verlauf sich der therapeutische Bereich abspaltete: für Biser der Preis für die Ausgestaltung des Wissenschaftscharakters der Theologie.17 Je abstrakter die so entstandene Systemtheologie wurde, umso mehr verlor sie nach Biser die Sprachfähigkeit, die sie zur Heilszusage befähigte.18
Wie Eugen Biser beklagt auch Brigitte Fuchs die verloren gegangene biblische Anthropologie einer Leib-Seele-Einheit und sieht in der gegenseitigen Entflechtung von Medizin und Theologie keine wesensmäßige Ergänzung beider Sektoren. Es sei ein Graben zwischen den Kompetenzbereichen der Kirche – für das Seelenheil – und der Medizin – für die körperliche Heilung – entstanden, in den der leidende Mensch falle, weil er mit der Frage, wie seine Krankheit in seinen Glaubens- und Lebensweg zu integrieren sei, allein gelassen werde. Eine kopflastig gewordene Theologie könne dem leidenden Menschen nicht mehr geben, was ihm eine naturwissenschaftliche Medizin schuldig bleibe. Auf diesem Erfahrungshintergrund entwickelte Brigitte Fuchs auf der Grundlage des christlichen Glaubens ein therapeutisches Meditationsprogramm, das den religiösen Glauben der Patienten für ihren Heilungsprozess fruchtbar machen soll.19
Für den Mediziner Herbert Benson spielen der Glaube und die Erwartungshaltung eine eminent wichtige Rolle für einen jeden Heilungsprozess. Er fordert dazu auf, an das Gute zu glauben oder an etwas, das besser ist als alles, was Menschen sich vorstellen können, und bezeichnet einen solchen Glauben als eine ausgezeichnete Medizin für uns Sterbliche.20 Gesundheit und Wohlbefinden hält Benson für optimierbar im richtigen Zusammenspiel der drei Komponenten Medikamente, Operationen (und andere Eingriffe) und Selbstfürsorge. Diese Komponenten bezeichnet er als den „dreibeinigen Stuhl“ und beklagt zugleich, dass in der heutigen medizinischen Praxis dieser Stuhl nicht im Gleichgewicht ist, weil wir viel zu wenig auf die Selbstfürsorge und viel zu stark auf Medikamente und medizinische Eingriffe setzen.21 Eine unersetzliche Rolle innerhalb der Selbstfürsorge spielt für Herbert Benson das von ihm so genannte „erinnerte Wohlbefinden“, das er in drei Arten unterteilt: Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des Patienten; Glaube und Erwartungshaltung auf Seiten des behandelnden Arztes; Glaube und Erwartungshaltung, die durch die Partnerschaft zwischen Patient und Arzt entstehen.22
Nach den Beziehungen von Medizin und Spiritualität im Blick darauf, was den Menschen heil macht, fragt der Arzt Santiago Ewig und stellt zunächst nüchtern fest: „Spiritualität spielt in unserem ärztlichen Handeln wenn überhaupt nur noch eine hintergründige Rolle in der Praxis des einzelnen Arztes; in der Medizin als Betrieb hat sie ausgedient.“23 Dabei sei Spiritualität nicht der Medizin unterlegen, da sich beide auf sehr unterschiedlichen Ebenen bewegen. Während die Sorge der Medizin dem Körper gehöre, so gelte die der Spiritualität der inneren Gesundung des existenziell Kranken und greife damit weit über die körperliche Verfassung aus auf die absolute Zukunft des Kranken. Wenn auch die Bedingungen für eine gelebte Spiritualität in der Medizin heute ohne Frage ausgesprochen ungünstig seien, sieht Ewig gerade in der Spiritualität eine Angelegenheit der Graswurzelrevolution, die im Kleinen stattfinde und sich außerhalb des Gemachten, der Technik, ereignen müsse. Die Kirchen seien sich gar nicht bewusst, was für ein Potential der Verkündigung offenstehe und wie richtungweisend eine Auffassung von Medizin, die Spiritualität zulässt und sich von ihr umgreifen lasse, in unserer Gesellschaft wirken könne.24
Elisabeth Hofstätter verweist darauf, dass Religion als Privatangelegenheit im naturwissenschaftlich orientierten Krankenhausalltag marginalisiert worden sei und man durch ein Pro-forma-Angebot eines Seelsorgers meine, die spirituellen Bedürfnisse der Patienten berücksichtigt zu haben. Ob in einem naturwissenschaftlich orientierten Krankenhaus die Patienten ihre spirituellen Bedürfnisse überhaupt zu äußern wagten, sei die eine Frage; eine andere die nach den spirituellen Bedürfnissen konfessionsloser Patienten. Eine Zusammenarbeit von Therapeuten und Seelsorgern in städtischen Krankenhäusern sieht Hofstätter wenig reflektiert und organisiert und eher in einem Konkurrenzverhältnis zueinander als in einem förderlichen Miteinander, das dem Wohl und der Heilung des Patienten dienen würde.25
Für den Mediziner und Theologen Roland W. Moser ist es unstrittig, dass die heutige moderne, technisierte Medizin auf den „engen interdisziplinären Dialog mit den Geisteswissenschaften, der philosophischen Wissenschaft, der Theologie und der Ethik angewiesen“26 ist. So wie die Theologie heute neuere Einsichten über den Menschen von der Medizin und Biologie aufnehme und sie theologisch integriere, so müsse umgekehrt heute auch die Medizin dazu bereit sein, neuere Einsichten über den Menschen von den Geisteswissenschaften, der Theologie, der Philosophie, der Ethik, der Soziologie und der Politik aufnehmen und diese medizinisch integrieren. Obwohl der Begriff „Interdisziplinarität“ zu einem Schlagwort geworden sei, spricht Moser vom Eindruck, dass bei der Suche nach interdisziplinärer Zusammenarbeit unnötige Widerstände aufgebaut werden gegen das, was weiterhelfen könnte, und er fragt, ob sich hinter diesen Widerständen Angst oder Vor-Urteile verbergen, die dieses notwendige interdisziplinäre Denken so schwierig machen.27
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bereits im Jahr 2000 in den USA die Frage auftauchte, ob Ärzte religiöse Begleitungen für Todkranke verschreiben sollten. Die Frage wurde dort mit einem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit und der Ärzte an Religion im medizinischen Bereich begründet. In Deutschland schlägt sich dies in einem neuen Fachgebiet nieder. Seit 2011 gibt es an der Ludwig-Maximilians-Universität München einen eigenen Lehrstuhl für „spiritual care“, also für spirituelle Anteilnahme, Fürsorge, Pflege. Die beiden Lehrstuhlinhaber (Eckhard Frick, kath.; Traugott Roser, ev.) schulen Mediziner und Angehörige anderer Gesundheitsberufe.28
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Gesundheit, Heil und Heilung in ihrer Bezogenheit aufeinander interpretiert werden und somit Medizin und Glaube in direkte Beziehung kommen.
Die Analyse der Erwartungsstruktur an Medizin und Glaube soll aber helfen, die Ansätze seitens medizinischer und theologischer Wissenschaft aufgrund einer empirischen Untersuchung in weitere fruchtbare Beziehung zu bringen.
1 „Die wissenschaftliche Entwicklung in der Medizin hat ein Anspruchsdenken gefördert, das regelmäßig nicht erfüllt werden kann.“ B. Ballhausen, Das arztrechtliche System als Grenze der arbeitsteiligen Medizin. Zugleich ein Beitrag zur privatrechtsdogmatischen Integration des Arztrechts (Göttinger Schriften zum Medizinrecht 14), Göttingen 2013, 10.
2 Zit. nach http://www.alternative-gesundheit.de/gesundheit-ist-das-hoechste-gut-des-menschen.html (abgerufen am 31.10.2015).
3 Vgl. F. Unger, Paradigma der Medizin im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, 41.
4 Kristall Sauna-Wellnesspark mit Soletherme, Köstritzer Straße 16, 07639 Bad Klosterlausnitz.
5 Toskana-Therme, Wunderwaldstraße 2a, 99518 Bad Sulza.
6 Vgl. Toskanaworld GmbH (Hg.), Flyer „toskanaworld.net, glück und gesundheit.“, Bad Sulza 2011.
7 M. Lütz, Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den FitnessKult, München 2002, 18.
8 Vgl. M. Schweiger, Medizin. Glaube, Spekulation oder Naturwissenschaft? Gibt es zur Schulmedizin eine Alternative?, München 22005, 148.
9 Hier zitiert nach M. Schlackl, Was ist Wellness?, in: „geist.voll“ 4/2006, 4–8: 5.
10 Zum Begriff vgl. z. B. Gabriel, K., Gesundheit als Ersatzreligion. Empirische Beobachtungen und theoretische Reflexionen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen. Umdeutungen von Gesundheit und Krankheit (Grenzfragen 33), Freiburg/Br. 2010, 25–43.
11 Vgl. L. Honnefelder, Gesundheit – unser höchstes Gut? Anthropologische und ethische Überlegungen, in: Hoff, G.-M. / Klein, C. / Volkenandt, M. (Hg.), Zwischen Ersatzreligion und neuen Heilserwartungen, Freiburg/Br. 2010, 111–127: 111f.
12 Vgl. L. Honnefelder, Gesundheit — unser höchstes Gut?, 112.
13 Ebd., 112f.
14 Vgl. ebd., 113.
15 L. Honnefelder, Gesundheit – unser höchstes Gut?, 113f.
16 Vgl. E. Biser, Kann Glaube heilen? Zur Frage nach Sinn und Wesen einer therapeutischen Theologie, in: Fuchs, B. / Kobler-Fumasoli, N. (Hg.), Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin, Münster 2002, 35–56: 45.
17 Vgl. ebd., 35f.
18 Vgl. ebd., 37.
19 Vgl. B. Fuchs, Therapeutische Meditationen, in: Fuchs, B. / Kobler-Fumasoli, N. (Hg.), Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin, Münster 2002, 98–111.
20 Vgl. H. Benson, Heilung durch Glauben. Selbstheilung in der neuen Medizin, München 1997, 363.
21 Vgl. ebd., 27.
22 Vgl. ebd., 37.
23 S. Ewig, Medizin und Spiritualität – was macht uns heil?, in: ZME 58 (2012), 341–349: 341.
24 Vgl. ebd., 347–349.
25 Vgl. E. Hofstätter, Religion und Krankenhaus – Partner beim Heilen? Einige Überlegungen zu einer wechselvollen Geschichte, in: Futterknecht, V. / Noseck-Licul, M. / Kremser, M. (Hg.), Heilung in den Religionen. Religiöse, spirituelle und leibliche Dimensionen (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft 5), Wien 2013, 371–391: 373f.
26 R. W. Moser, Jesus Christus, der Arzt. Krankheit und Heilung in der Bibel, Freiburg/ Schweiz 2012, 179.
27 Vgl. ebd., 179f.
28 Vgl. N. Jachertz, Die Hilfen beim Sterben, in: CIG 22 (2013), 257–258: 258.