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Brauner Bär an Schwarzer Adler

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Brauner Bär an Schwarzer Adler!“

Sophie ließ die Taste des Walkie-Talkies los, woraufhin das Gerät ein Knacken von sich gab. Gleich darauf hörte sie die Stimme ihres Bruders Michael:

„Hier Brauner Bär. Wo bist du, Schwarzer Adler?“

Wieder ein Knacken im Gerät.

„Habe den verabredeten Beobachtungsposten erreicht. Alles ruhig. Was soll ich tun?“

„Bleib in Position! Flinkes Wiesel und ich sind unterwegs!“

Flinkes Wiesel war der Codename von Kai, Michaels Klassenkameraden und bestem Freund. Die beiden befanden sich auf dem Gelände der Gärtnerei, die den Eltern von Michael und Sophie gehörte. Sophie war ein elfjähriges Mädchen von schwarzer Hautfarbe. Sie war in Afrika zur Welt gekommen und dort in einem Waisenhaus gelandet. Im Alter von drei Jahren hatten sie Michaels Eltern adoptiert und nach Deutschland geholt. Wer ihre wirklichen Eltern waren, wusste Sophie nicht. Doch sie fragte auch nicht danach. Schon so viele Jahre waren die Gärtnerei und Michaels Familie ihr Zuhause.

Jetzt lag Sophie in einem Gebüsch auf dem Gelände einer stillgelegten Fabrik. Dort gab es ein riesiges halb verfallenes Gebäude, das den Kindern als Abenteuerspielplatz diente. Doch an diesem Tag achtete Sophie auf etwas anderes. Auf der Freifläche vor der Fabrikhalle stand seit kurzem ein Wohnwagen mit Vorzelt. Augenscheinlich hauste dort jemand. Das wäre an und für sich nicht weiter ungewöhnlich gewesen. Doch die Kinder hatten die Bewohner beobachtet und festgestellt, dass häufig Autos auf den Hof gefahren kamen, dort abgestellt und erst nach Tagen wieder abgeholt wurden.

„Bestimmt eine Bande von Autoschiebern“, hatte Sophie vermutet und seit diesem Tag war aus den Kindern eine Gruppe von Detektiven geworden, die den Gaunern das Handwerk legen wollte. Wie es der Zufall so wollte, hatte Sophie erst kürzlich zu ihrem Geburtstag ein Paar Walkie-Talkies geschenkt bekommen, die sich nun als äußerst nützlich erwiesen. Nur Kai war nicht so begeistert. Da es nur zwei und nicht drei Geräte gab, konnte er nie auf eigene Faust ermitteln, denn weder Sophie noch Michael waren bereit, ihr Funkgerät aus der Hand zu geben.

„Schwarzer Adler an Brauner Bär! Kommen!“

Sophie sprach im Flüsterton, denn sie war schon recht nahe an dem Wohnwagen und wusste nicht, ob sie von dort gehört werden konnte.

Warum antwortet der nicht?

„Hier Brauner Bär. Ankunft verzögert sich. Mussten Zorro noch Futter geben!“

Zorro war ein mittelgroßer schwarzer Chow-Chow mit blauer Zunge, der ein so dichtes und weiches Fell hatte, dass er zum Knuddeln besser geeignet war als jeder Teddybär. Hinzu kam, dass er äußerst gutmütig war und die Kinder überall hin begleitete. Nur zu dem Fabrikgelände durfte er nicht mitkommen, denn um dorthin zu gelangen, musste man einen Bahnkörper überqueren, auf dem zwei S-Bahnlinien verkehrten. Die Eltern hatten dies den Kindern natürlich streng verboten, doch sie hielten sich nicht daran.

„Wir müssen es ihnen ja nicht auf die Nase binden“, meinte Sophie immer dann, wenn ihr Bruder Bedenken äußerte. Die Gleise verliefen auch erst am äußersten Ende des Grundstücks der Gärtnerei, dort, wohin die Eltern ohnehin niemals kamen.

„Jetzt beeil dich doch“, drängelte Kai, der mitbekommen hatte, dass Sophie schon vor Ort war.

„Ja, ja, gleich, muss mir nur die Schuhe binden.“

Michael, der ein knappes Jahr jünger als Sophie war, hatte die Ruhe weg.

„Gib mir doch mal das Walkie-Talkie“, bat Kai.

„Ich hab’s schon.“

Michael stand auf und drückte die Sprechtaste.

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Kommen!“

„Hier Schwarzer Adler! Gerade ist ein Auto auf den Hof gefahren. Kann die Leute nicht sehen. Die Fabrikhalle liegt dazwischen. Beziehe neuen Posten. Over!“

Michael sah Kai mit einem empörten Blick an.

„Mensch, die will schon los!“

„Hättest du mal nicht so getrödelt!“

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Brauner Bär an Schwarzer Adler!“

Doch das Funkgerät blieb stumm.

„Jetzt aber los!“

Und so rannten Michael und Kai vom Wohnhaus aus den gepflasterten Weg entlang einer Reihe von Schuppen, dann an Gewächshäusern vorbei, bis sie schließlich ein einzeln stehendes Haus erreichten. Hier hatte in früheren Zeiten der Vorarbeiter der Gärtnerei gewohnt, doch schon seit einigen Jahren stand das Haus leer und durfte von den Kindern als Spielplatz genutzt werden. Doch viel lieber als dort verbrachten sie ihre Zeit in ihrem Baumhaus. Dieses befand sich gleich neben dem Haus in der Krone eines hohen Baumes.

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Brauner Bär an Schwarzer Adler!“

Sophie antwortete noch immer nicht. Michael und Kai umrundeten das leerstehende Haus und liefen dann über eine Wiese, die den Abschluss des Grundstücks bildete. Sie mussten über einen Zaun klettern, dann standen sie an einem Geländer, das den Bahnkörper begrenzte.

„Da kommt die S-Bahn Richtung stadteinwärts!“

Kai duckte sich. Mit hohem Tempo rauschte die Bahn vorbei. Wenig später kam aus der anderen Richtung ein weiterer Zug.

„Jetzt“, gab Michael das Kommando, nachdem auch dieser vorbei war. Rasch kletterten sie über das Geländer, sahen noch einmal nach links und rechts, und rannten dann über die Gleise.

„Geschafft!“

Die beiden Jungen zwängten sich durch eine Lücke im Zaun und kamen so auf das Grundstück der stillgelegten Fabrik. Sie folgten einem schmalen Pfad, der durch dichtes Buschwerk führte. Michael strebte voran. Als er den Rand des Gebüsches erreichte, blieb er stehen. Kai kam heran und dann kauerten sich beide auf den Boden und spähten hinüber zu dem Wohnwagen mit dem Vorzelt.

„Sieht alles ruhig aus“, stellte Kai fest.

„Ich versuche noch mal, Sophie zu erreichen.“

Michael drückte die Sprechtaste seines Walkie-Talkies und flüsterte hinein:

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Kommen!“

Dieses Mal hatte er Glück. Sofort erklang die Antwort:

„Hier Schwarzer Adler. Habe neuen Beobachtungsposten bezogen!“

„Und wo ist der?“

„Auf dem Dach...“

„Auf dem... wie kommst du denn dahin?“

„Ist ganz einfach. Ich erklär es dir. Wo seid ihr denn?“

„Im Gebüsch. Wo wir uns treffen wollten.“

„O.K. Dann schaut, dass ihr an der Rückseite der Fabrik entlang geht. Wenn ihr schon fast am Ende des Gebäudes angekommen seid, findet ihr einen Einstieg. Der führt in einen Raum, in dem die Decke herunterhängt. Wenn ihr euch da durchzwängt, kommt ihr zu einer Treppe. Die ist noch ganz gut erhalten. Na, und dann seid ihr eh schon da. Also bis gleich!“

Michael sah Kai verständnislos an. Dann blickten sie beide hinüber zu der alten Fabrikhalle.

„Auf dem Dach...“

„So weit waren wir noch nie! Und Sophie ist jetzt einfach so mir nichts, dir nichts, da hinauf spaziert, hat weder auf uns gewartet, noch Bescheid gesagt!“

Michael war sauer.

„Ich versteh dich ja. Aber so ist sie nun mal. Sie setzt einfach ihren Willen durch. Du kennst sie doch.“

„Das ist es ja!“

„Und was machen wir jetzt?“

„Na, wir werden natürlich zu ihr gehen, ist doch Ehrensache!“

„Na, dann mal los.“

„Moment“, bremste Michael. „Wir müssen aber aufpassen. Von hier bis zur Hausecke kann man uns vom Wohnwagen aus sehen!“

„Aber da ist doch alles ruhig...“

„Schon. Aber du weißt ja nicht, ob zufällig einer durchs Fenster späht. Könnte doch sein...“

„Und? Wie machen wir es dann?“

„Wir rennen ganz schnell, aber nacheinander. Du zuerst!“

„Ich?“

„Na klar, oder hast du Schiss?“

Kai schüttelte den Kopf, doch ganz wohl war ihm nicht in seiner Haut. Dennoch machte er sich bereit. Eine Zeitlang lag er sprungfertig am Rand des Gebüschs und beobachtete den Wohnwagen. Schließlich spurtete er los. Michael sah ihm nach und wartete dann noch ein Weilchen. Nichts geschah. Kai stand im Schatten der Fabrikhalle und schnaufte mächtig. Gleich darauf rannte Michael los. Lachend kam er neben seinem Freund an.

„Klasse, was?“

Er hob das Funkgerät an den Mund und sprach hinein:

„Brauner Bär an Schwarzer Adler! Kommen!“

„Schwarzer Adler hier!“

„Befinden uns jetzt auf der Rückseite der Halle. Gibt’s was Neues?“

„Gerade fährt ein Wagen auf den Hof. Beeilt euch!“

„Jetzt aber Tempo! Sonst erlebt Sophie das ganze Abenteuer alleine!“

Sie eilten entlang der Rückwand der Halle, bis sie an eine Stelle kamen, wo man hinter einer Öffnung ein eingestürztes Dach erkennen konnte.

„Das muss es sein...“

„Und wie sollen wir dahin kommen?“

Unmittelbar an der Hauswand verlief ein tiefer Schacht, der dazu diente, den Kellerfenstern Tageslicht zu spenden. Für den Geschmack der Kinder war er etwas zu breit, um einfach hinüber zu steigen. Noch dazu war alles baufällig. Doch dann entdeckte Kai eine Quermauer in dem Schacht, die ziemlich nahe an dem Einstieg verlief.

„Da können wir hinüber balancieren...“

„Wenn du meinst...“

Dieses Mal war es Michael, der zögerte.

„Na gut. Ich will kein Spielverderber sein. Ich gehe als Erster!“

„Pass auf. Soll ich nicht das Walkie-Talkie halten?“

„Geht schon...“

Kaum hatte er es ausgesprochen, war er auch schon an dem Einstieg angelangt, einer ehemaligen Türöffnung, die durch herausgebrochenes Mauerwerk noch etwas vergrößert war. Michael schlüpfte hinein und wartete drinnen auf Kai, der sich anschickte, flugs zu folgen.

„So, und wo ist nun diese Treppe, von der Sophie gesprochen hat?“

„Keine Ahnung. Aber aus dem Raum führt eh nur eine Tür.“

„Ja, aber da müssen wir unter dem durchhängenden Dach durch...“

Misstrauisch beäugte Kai das halb in den Raum hängende Dach. Gesteinsbrocken hingen an verrosteten und verbogenen Eisenstangen. Schwarze Dachpappe zeigte Risse.

„Ach was. Das ist bestimmt schon ewig so. Warum soll das noch weiter runter krachen? Ausgerechnet dann, wenn wir da sind...“

Michael bückte sich unter dem Dach durch und kam so zu einer Türöffnung, die ihn in eine weitläufige Halle führte. Sie war leer, aber überall von Schutt übersät. Gleich zu seiner Rechten entdeckte er die Treppe, die auf das Dach führte.

„Wo bleibst du denn?“

„Komm ja schon...“

Kai zögerte noch immer. Doch dann fasste er sich ein Herz und folgte seinem Freund, der sich schon anschickte, die Treppe zu erklimmen. Sie mündete in ein kleines Häuschen, das auf dem Dach stand. Michael blieb in der Türöffnung stehen und sah sich um. Zu seiner Linken verlief eine Begrenzungsmauer, die vielleicht einen Meter hoch war. Dahinter musste der Hof mit dem Wohnwagen liegen. Dieser war von Michaels Standpunkt aus nicht zu sehen, doch erkannte er das Eingangstor des Hofes, das zur Straße führte.

„Was ist?“ Worauf wartest du?“, fragte Kai, der von hinten herankam.

„Gleich. Ich frag mich nur, wo Sophie ist...“

Doch dann entdeckte er seine Schwester, die hinter einer alten Kiste direkt am Geländer des Daches kauerte und ab und zu einen vorsichtigen Blick hinüber warf. Als sie Michael sah, winkte sie ihn heran. Geduckt lief Michael hinüber, dicht gefolgt von Kai. Bei Sophie angekommen, ließen sich die beiden außer Atem auf dem Boden nieder.

„Und?“, fragte Michael. „Was ist passiert?“

„Da ist ein Auto gekommen, so ein Sportwagen. Ein Kerl ist ausgestiegen und zu dem Wohnwagen gegangen. Er hat geklopft. Ein Mann kam heraus und ging mit ihm zu dem Wagen.“

„Und? Konntest du hören, worüber sie geredet haben?“

„Nicht wirklich, dafür ist es zu weit weg. Aber nach einer Weile ist der Mann, der in dem Sportwagen kam, dann zu Fuß weggegangen.“

„Und dann?“

„Nichts!“

„Nichts?“

„Nein, gar nichts.“

„Meint ihr, der Wagen ist geklaut?“, fragte Kai nach einer Weile.

„Was denn sonst?“, gab Michael im Brustton der Überzeugung zurück. „Das ist doch klar wie Kloßbrühe! Die nutzen die verlassene Fabrik, um in aller Ruhe ihren dunklen Geschäften nachzugehen.“

„Und was sagst du?“, wandte sich Kai an Sophie.

„Keine Ahnung. Sieht zumindest sehr verdächtig aus.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir können natürlich hier bleiben und weiter beobachten. Aber ich krieg langsam Hunger...“

Sophie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Jetzt ging es schon auf Mittag zu.

„Mensch, das Essen! Wie spät ist es denn?“

Michael zuckte zusammen, als ihm einfiel, dass ihre Eltern sie ja zum Mittagessen erwarteten.

„Kurz vor halb eins“, antwortete Kai nach einem Blick auf seine Armbanduhr.

„Dann wird’s höchste Zeit, dass wir heimgehen. Wir können ja am Nachmittag zurückkommen.“

Puppendrama

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