Читать книгу Puppendrama - Herbert Speer - Страница 4
ОглавлениеHunderttausend Höllenhunde
Die Eltern saßen schon am Tisch auf der Terrasse und blickten die Kinder vorwurfsvoll an, als diese atemlos angerannt kamen. Zorro, der im Schatten gedöst hatte, sprang auf, und hüpfte freudig um die Kinder herum.
„Wir hatten doch halb eins ausgemacht“, begann Mutter zu schimpfen. „Das Essen wird doch kalt!“
„Tut uns Leid...“
„Sind eure Spiele so aufregend, dass ihr darüber ganz vergesst, auf die Uhr zu sehen?“
Vater goss sich gerade ein Weißbier ein und zwinkerte Sophie, die neben ihm Platz nahm, nachsichtig zu.
„Ich hol jetzt die Nudeln. Michael, hilfst du mir mal!“
Während Michael seiner Mutter ins Haus folgte, setzte sich Kai an den gedeckten Tisch. Er war oft zu Gast in der Gärtnerei und es war selbstverständlich, dass auch er an den Mahlzeiten teilnahm.
„Was gibt es denn?“, fragte Sophie, als ihre Mutter zurückkam.
„Was ganz Leckeres!“
„Was denn?“
„Spaghetti mit Meeresfrüchten!“
„Igitt!“, entfuhr es Michael und Sophie konterte:
„Du musst sie ja nicht essen!“
„Jetzt probiert doch erst mal“, versuchte Mutter zu schlichten, während sie das Essen auf die Teller verteilte. Sophie machte sich mit Heißhunger darüber her, während Michael die Krabben und das andere Meeresgetier aus den Nudeln pulte und an den Tellerrand legte.
„Du kannst sie mir geben“, wandte sich Kai an den Freund. „Mir schmeckt’s.“
„Das ist schön. Gute Esser sind uns immer willkommen!“
Gerade wollte sich Mutter den ersten Bissen in den Mund stecken, da klingelte das Telefon.
„Ich geh schon“, bot Herr Wagner an, doch seine Frau war schon aufgestanden.
„Lass nur“, sagte sie und verschwand im Haus. Es dauerte eine Weile, dann kam sie zurück.
„Es waren Kleines. Kai, es geht alles klar. Du darfst mitkommen nach Brüssel.“
Kleines waren Freunde der Familie und hatten sie für die Sommerferien eingeladen, sie in ihrer neuen Heimat Brüssel zu besuchen. Als Michael davon gehört hatte, war er sofort auf die Idee gekommen, seinen besten Freund mitzunehmen und hatte seine Eltern bekniet, dies zu erlauben. Sie waren auch gleich einverstanden gewesen, allerdings unter der Bedingung, dass auch ihre Gastgeber nichts dagegen hatten. Als dies nun geklärt war, brach Jubel unter den Kindern aus.
„He! Wir fahren nach Brüssel! Alle drei!“
„Super. Da werden wir jede Menge Spaß haben.“
„Wo liegt Brüssel eigentlich?“
Kai hatte sich noch gar keine Gedanken über die Reise gemacht.
„Brüssel ist die Hauptstadt von Belgien.“
Sophie war stolz auf ihr Wissen, hatte sie doch extra in einem Reiseführer gelesen.
„Hast du eigentlich schon mit deinen Eltern geredet, Kai?“, unterbrach Frau Wagner die Kinder.
„Also, eigentlich nicht. Weil, ich hab ja nicht gewusst, ob das überhaupt klappt...“
„Na, dann mach ich das. Aber jetzt wollen wir erst einmal in Ruhe unsere Spaghetti genießen.“
Nach dem Essen trugen die Kinder das schmutzige Geschirr in die Küche, dann machten sie sich auf den Weg zur verlassenen Fabrikhalle. In ihrer Phantasie legten sie schon einer gefährlichen Verbrecherbande das Handwerk. Doch zu ihrer Enttäuschung fanden sie das Gelände der Fabrik einsam und verlassen vor. Nachdem sie eine Stunde lang die baufällige Halle erforscht hatten, wurde ihnen langweilig und sie kehrten auf das Grundstück der Gärtnerei zurück.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Kai.
„Wie wär’s mit Verstecken?“
„Au ja! Du bist!“
Auf dem Gelände der Gärtnerei gab es eine Reihe von Schuppen, in denen man sich herrlich verstecken konnte. Freischlagen musste man sich an der Garagentür, die ein Stück entfernt lag.
Kai musste als Sucher anfangen. Er hasste das. Denn er traute sich nie richtig hinein in die dunklen Schuppen, aus Angst, erschreckt zu werden. Andererseits wusste er genau, dass es schlecht war, die Schuppen nicht genau genug zu untersuchen, weil dann die Gefahr bestand, dass die darin Versteckten herauskamen, wenn er schon weiter war und er sie dann auf ihrem Weg zum Tor nicht mehr einholen konnte. Dreimal lief das so ab und Kai hatte schon fast die Lust verloren, ehe es ihm beim vierten Mal gelang, Michael gerade noch vor Erreichen der Garagenwand abzuschlagen.
„Mann, das macht vielleicht Spaß. Aber jetzt kann ich nicht mehr.“
Michael stand japsend vor der Garagentür, an der er sich zum wiederholten Male rechtzeitig abgeschlagen hatte.
„Und was machen wir dann?“
Kai hatte ohnehin keine Lust mehr auf Verstecken.
„Gehen wir doch in unser Baumhaus und lesen Comics“, schlug Sophie vor.
„Au ja, das machen wir!“
Und schon eilten die Kinder den Weg durch Gewächshäuser und entlang von Pflanzungen bis hin zu ihrem Baumhaus. Fröhlich bellend rannte Zorro mit ihnen. Michael packte sich das herunterhängende Seil als Erster und kletterte flink daran hinauf. Sophie knuddelte noch einmal ihren Hund, dann folgte sie ihrem Bruder.
Kai hatte wie jedes Mal Schwierigkeiten, sich an dem Seil bis zu der Plattform hochzuarbeiten, die in etwa drei Metern Höhe angebracht war. Doch statt sich zu beschweren, biss er die Zähne zusammen und kämpfte sich nach oben.
Sophie und Michael hatten es sich in dem kleinen Raum bereits auf Kissen gemütlich gemacht.
„Welches liest du denn?“, fragte Kai.
„Reiseziel Mond!“
„Schade, das hätte ich gerne gehabt.“
„Schritte auf dem Mond ist noch frei.“
Sophie hatte sich den Blauen Lotos geschnappt.
„Die Fortsetzung nützt mir doch nichts, wenn ich den ersten Teil nicht kenne!“
„Dann nimm König Ottokars Zepter. Das ist auch stark.“
Michael öffnete eine kleine Schatulle, die in der Mitte des Raumes stand. Sie war prallvoll mit Süßigkeiten. Er schnappte sich eine Gummischlange und vertiefte sich dann in sein Comicabenteuer. Kai nahm sich wie vorgeschlagen König Ottokars Zepter, ließ sich auf dem einzig freien Platz nieder und fing an zu lesen.
„Ich liebe Tim und Struppi!“, entfuhr es Sophie mit einem Mal. „Wusstet ihr, dass die Hefte aus Brüssel stammen? Überhaupt sind die in Belgien ganz wild auf Comics.“
Weder Kai noch Michael reagierten. Sie waren zu fasziniert von ihren Geschichten.
„Die haben sogar ein eigenes Comicmuseum!“
„Echt wahr?“
Kai sah erstaunt auf.
„Hunderttausend Höllenhunde! Das ist wirklich zum Schießen!“, stieß Michael hervor. Er hatte überhaupt nicht zugehört.
„Was denn?“, fragte Sophie.
„Na der Kapitän Haddock. Du musst mal sehen, was der hier macht!“
„Will ich aber nicht. Ich les es später selber. Jetzt bin ich noch in China und das ist super spannend!“
„Mir gefallen die Schultzes am besten“, bemerkte Kai. „Wie der eine immer meint: ‚Ich würde sogar sagen’, und dann sagt er doch dasselbe.“
„Ja, und immer diese Verwechslung, ob man jetzt Schultze mit t oder Schulze ohne t schreibt, echt gut!“
Und wieder vertiefte sich jeder in seine eigene Lektüre. Als Sophie durch den Blauen Lotos durch war, hatte Michael das Reiseziel Mond noch nicht beendet. Und Kai war auch noch mit König Ottokars Zepter beschäftigt. So angelte sie sich Tim in Tibet und begann darin zu lesen. Eine Weile herrschte gespannte Ruhe. Nur das Umblättern der Seiten und das Rascheln des Schokoladenpapiers waren zu vernehmen. Nachdem Michael Reiseziel Mond beendet hatte, stürzte er sich auf die Fortsetzung.
„Schau mal, das ist doch irre!“
Er stieß Kai in die Seite und wies auf eine Reihe Bilder in dem Heft.
„Die Schultzes sind doch zu doof! Da entdecken sie Fußspuren auf dem Mond und glauben, es wären schon andere Menschen da gewesen, dabei sind es ihre eigenen!“
„Ja, und da! Wie sie rumhupfen! Stimmt das eigentlich, dass man auf dem Mond leichter ist?“
„Jetzt seid doch mal still!“
Sophie war inzwischen vertieft in Flug 714 nach Sydney, wo an Bord des Flugzeugs, mit dem Tim, Struppi, Kapitän Haddock und Professor Bienlein nach Sydney fliegen wollten, gerade eine Revolte ausbrach.
Mein Gott ist das spannend! Da kann ich das Gequatsche der Jungs nun wirklich nicht gebrauchen!
Schließlich kehrte wieder Ruhe ein. Als Sophie auch den zweiten Comicband beendet hatte, wandte sie sich wieder dem Reiseführer zu.
„Stellt euch vor! In dem Museum steht sogar die Rakete, mit der sie auf den Mond geflogen sind...“
„Echt?“
„Kann doch gar nicht sein! Lass mal sehen!“
Michael riss seiner Schwester das Buch aus der Hand.
„Das is ja nur so’n Modell...“
Enttäuscht ließ er das Buch sinken.
„Was dachtest du denn? Dass die da die echte Mondrakete aufstellen?“, fragte Kai. „Die ist doch viel zu groß, die passt doch gar nicht in ein Museum!“
„Ihr seid doch zu dämlich“, fuhr Sophie die beiden Jungen an. „Die Rakete gibt’s doch gar nicht. Das sind doch ausgedachte Geschichten!“
Und wieder wandte sich jeder der drei seiner Lektüre zu.
„He, schaut mal, das ist krass!“
„Was denn?“
Kai deutete auf eine Stelle in König Ottokars Zepter.
„Da fliegt der Tim aus dem Flugzeug. Kann gerade noch den Fallschirm öffnen, doch dann wird er ihm aus der Hand gerissen...“
„Ja, und dann?“
„Und dann landet er ausgerechnet in einem Heuhaufen! Das ist doch blöd!“
„Wieso ist das blöd?“
„Na, weil keiner so viel Glück hat!“
„Wieso nicht? Ist doch Tim, da muss es doch gut ausgehen!“
„Ja, aber das ist doch unglaubwürdig. Dass genau an der Stelle, wo er runterkommt, so ein Heuwagen daherkommt...“
„Also ich find das o.k.“, meinte Michael. „Aber hier, das ist klasse! Schau mal, da kommt ein General und schaut sich seine Soldaten an. Dem einen, der schlecht rasiert ist, zeigt er vier Finger und der sagt dann gehorsam: ‚Vier Tage Arrest.’ Dasselbe bei dem Typen, der einen Zettel hat liegen lassen. Ist doch klasse, was?“
Michael fing herzhaft an zu lachen, doch Kai wurde nicht schlau daraus. So nahm er sich den Blauen Lotos selbst vor, während Michael fortfuhr.
„Und am Schluss stellt sich heraus, dass der General niemand anders ist als Tim, der sich verkleidet hat!“
„Ach so, jetzt kapier ich. Ja, das ist wirklich gut!“
„Jetzt hab ich noch was! Haltet euch fest, das glaubt ihr nicht!“
Sophie hatte die ganze Zeit im Reiseführer geschmökert.
„In Brüssel gibt es ein Marionettentheater!“
„Ja und?“
„Es ist nicht irgendein Theater. Es ist ein eigenes Tim und Struppi Theater!“