Читать книгу Die vergessenen Kinder - Herbert Weyand - Страница 11

04. Juni 2012

Оглавление

Claudia und Kurt fuhren auf den Vorhof ihres Grundstücks. Sie kamen aus dem Lidl in Marienberg. In Grotenrath selbst gab es keine Einkaufsmöglichkeit mehr. Im Jägerhof konnte man schon einmal eine Fritte holen und ansonsten war das Essen auch ganz gut. Wer nicht mobil war, hatte Probleme. Trotzdem mochte keiner von beiden woanders wohnen, denn das Dorf hatte Charisma. Nahe des wunderschönen Heidegebiets gelegen, das sich bis weit in die Niederlande und von dort, auf die andere Seite der Maas, nach Belgien hineinzog. Der einzig störende Faktor waren die AWACs Flugzeuge bei Ostwind, die dann während des Starts und der Landung zu hören waren. Aber wann war schon einmal Ostwind? Zwei bis dreimal im Jahr wehte Güllegeruch durch den Ort. Aber auch wieder windabhängig.

Kurts Haus war ein altes Backsteingebäude, das etwa fünfundzwanzig Meter von der Waldstraße ab lag. Die Fläche davor war mit alten Basaltsteinen belegt, die früher einmal auf der alten Römerstraße zwischen Geilenkirchen und Boscheln lagen. Wie sie letztendlich zu ihrem jetzigen Liegeplatz kamen, wusste niemand mehr so richtig. Auf dem Hof standen in Unmengen Tontöpfe mit Pflanzen. Die Oleanderpflanzen würden in den nächsten vierzehn Tagen ihre Blüten öffnen. Geranien, Petunien und die vielen anderen Blickfänger standen in der ersten Blüte. An der Hauswand kletterten zwei mächtige Rosen und trugen unzählige Blüten in Rot und Gelb.

In der Wohnung blinkte der Anrufbeantworter. Kurt drückte den Abspielknopf. „Sie haben einen Anruf in Abwesenheit um fünfzehn Uhr siebenundfünfzig“, verkündete die Computerstimme abgehackt. Eine kurze Pause. „Frau Plum. Bitte rufen Sie zurück. Egal wie spät. Es ist dringend.“ Claudia sah zur Uhr. Kurz vor achtzehn Uhr.

„Einen Kaffee trinken wir aber noch“, meinte Kurt.

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn ernst an. „Das war Klein. Der Polizeipräsident. Wenn der anruft, ist es dringend.“ Ihr Bauchgefühl bestätigte sich wieder einmal.

Eine knappe halbe Stunde später näherten sich Kurt und Claudia dem abgesperrten Bereich um das ehemalige Feuerwehrhaus. Das gesamte Gebiet zu Hinter den Höfen und weiter zum Bolzplatz an der Schule war mit Gittern verstellt. Am scheinbar offiziellen Durchgang stand Schneider, der Orang-Utan vom Verfassungsschutz und wehrte die Neugierigen ab, die auf den Platz wollten.

„Da sind Sie ja“, empfing er sie, als habe es nie einen Zusammenstoß gegeben. „Es wird auch Zeit.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Claudia sah sicherlich nicht aus, wie er sich eine Hauptkommissarin der Mordkommission vorstellte. Sie hatte sich die Zeit zum Umziehen nicht genommen und trug die bequeme, drei Viertel lange, Schlabberhose sowie ein Hemd von Kurt. Das Haar hatte sie mit einem Gummi im Nacken zusammengebunden.

„Wer leitet den Einsatz?“, fragte sie kurz angebunden. Der Typ fehlte ihr noch.

Schneider sah sie merkwürdig an. „Soweit ich weiß, Sie.“

„Toll.“ Sie gab Kurt, der schon mit einem Bekannten im Gespräch war, einen Kuss. „Bis später. Mal sehen, was wir dort haben.“

Langsam, innerlich unwillig, schritt sie zu dem Baggerloch, das eineinhalb Stockwerke tief und ungefähr zehn Meter breit war. Neben ihr drängten sich Feuerwehrleute und Polizisten sowie Menschen, die aussahen, als hätten sie etwas zu sagen. In der Baugrube arbeiteten Männer in Overalls und Schutzhelmen, auf drei Ebenen, die treppenartig angelegt wurden. An den Grubenwänden wurde ein Gerüst befestigt, das die Wände verkleidete und stabilisierte. Ein Kran ließ Container hinunter, die, vom Erdniveau des Schulhofs und der ersten Stufe, von Baggern mit Abraum gefüllt wurden. Auf der Sohle wurde mit Schüppe und Hacke gearbeitet.

„Mensch Claudia. Da bist du endlich.“ Der kleine energiegeladene Mann, Anfang fünfzig mit sehr hoher Stirn, stürmte auf sie zu.

„Fabian? Was machst du denn hier?“, fragte sie erstaunt. Sie erkannte ihn in dem weißen Einmalanzug erst, als er die Kapuze abstreifte.

„Komm“, er fasste statt einer Antwort ihren Oberarm und deutete zu einem Unimog. „Ziehe dir einen Overall über.“

Sie stieg in den Wagen. Was machte das BKA hier? Erst der Verfassungsschutz und jetzt noch die Bundespolizei, in Person des Leiters für mysteriöse Todesfälle. Wie lange hatte sie Fabian schon nicht mehr gesehen? Ungefähr ein Jahr. Er war mit Paul und Griet befreundet. Als er ihre Nachbarn das letzte Mal besuchte, war sie mit Kurt an der See.

„So. Jetzt mal Butter bei die Fische“, sagte sie burschikos, als sie aus dem LKW stieg. „Der Typ vom Verfassungsschutz meinte, ich leite diese Aktion, von der ich nicht weiß, dass es sie gibt.“

„Meine Schuld“, gab Fabian Schröder zerknirscht zu. Sie standen etwas abseits auf dem ehemaligen Schulhof. „Wir wurden schon vergangene Woche auf den Bombenfund aufmerksam. Ich beginne beim Anfang. Ein Kollege unserer Behörde schnappte am gleichen Vormittag deinen Namen in Verbindung mit dem Verfassungsschutz auf. Nicht Landesbehörde, sondern Bund. Sie weiß, dass wir bekannt sind, und unterrichtete mich. Ich hatte auch Paul angerufen und wollte früher hier sein. Doch ich setzte erst einmal meine Abteilung darauf an und streckte die Fühler aus. Wir erfuhren nichts. Bei mir schrillten die Alarmglocken. Denn, wenn du nichts erfährst, gärt im Hintergrund eine große Sache. Du kennst das ja selbst … Bauchgefühl“, er grinste etwas verschämt. „Meine Leute haben auch noch übers Wochenende recherchiert. Nichts. Ich überlegte dich anzurufen, dachte jedoch es sei besser, ich komme hier hin.“ Er unterbrach und strich mit der Hand über die blanke Stirn. „Ich soll dir von Griet und Paul ausrichten, dass es an Zeit sei, noch einmal zu ihnen rüber zu kommen. Also weiter. Ich fuhr heute Morgen nach Aachen zu deiner Dienststelle, als der Anruf kam. In diesem Bunker liegen Leichen. Eben, das Scheiß Bauchgefühl. Obwohl ich schon in der vergangenen Woche mit dem Staatsanwalt über deine Freistellung für den Fall gesprochen habe, wollte er Kollegen der anderen Kommission hierher schicken, weil du dich im Urlaub befindest. Ich konnte ihn in einem langen Gespräch überzeugen, dass du die Beste bist. Deshalb musst du deinen Urlaub wohl oder übel unterbrechen.“

„Danke“, sagte Claudia und verbarg das Unbehagen, das bei Fabians Schilderung in ihr hochkroch. „Du kommst von Bonn nach Aachen … für nichts. Du willst mich doch hoffentlich nicht für dumm verkaufen?“ Das hatte er doch gar nicht nötig. Er wusste genau, dass er nur mit dem Finger schnippen brauchte und sie stände parat.

„Du kennst mich, ich kenne dich. Haben wir solche Spiele nötig?“ Er sah sie mit seinem treuesten Augenaufschlag an.

„Sicherlich nicht“, sie spürte die verräterische Röte, die am Hals hochstieg, jedoch vom hochgeschlossenen Overall verborgen wurde. Das Unbehagen wich jedoch nicht. „Was ist jetzt dort unten?“

„Wir wissen es noch nicht. Ich habe jeden, bis auf unsere Technik und Gerichtsmedizin aufgehalten, dort hineinzusteigen, bis du hier bist. Der Bauarbeiter dort vorn war im Bunker.“ Sie gingen auf den großen Mann zu. Fabian Schröder reichte ihr einen weißen Schutzhelm, an dessen Stirnseite eine Halogenlampe saß.

„Wir kennen uns.“ Claudia reichte ihm die Hand. „Josef Dingsbums … Dohmen.“

„Josef reicht“, nickte er.

„Sie waren im Bunker?“

Er nickte. „Das Bild werde ich wohl nie vergessen. Ich habe mich schon zweimal übergeben.“

„Gehen Sie erst mal nach Hause. Ich werde Sie finden, wenn ich Sie brauche.“ Sie gab Fabian ein Zeichen und sie gingen zum Rand des Baggerlochs, in das zwei dicke Kabel führten.

„Die Spurensicherung hat den Strom verlegt. Übrigens die vom LKA“, sagte er mit einem kurzen Seitenblick.

„Und was soll ich dann dort. Du weißt vielleicht noch nicht, dass ich seit der Entführung auf dem Katschhof einen kleinen Krieg mit denen habe?“

„Ist mir bekannt“, sagte er knapp.

„Und?“

„Nichts und. Krüger ist übrigens nicht dabei.“

„Wenigstens etwas.“ Sie stieg über die wacklige Bauleiter fünf Meter nach unten und stand vor dem Loch, das in die Unterwelt führte. Was mochte sie erwarten? Vorsichtig stieg sie auf die Mauer und machte zwei Schritte nach innen. Knapp zwei Meter dick, dachte sie. Unwillkürlich lief ein Schauer über ihren Körper. Ein weiterer Schritt, ungefähr fünf Zentimeter nach unten, und sie standen auf dem Fußboden des Luftschutzkellers, der von starken Lampen ausgeleuchtet wurde. Die Decke war etwa zwei Meter zehn hoch, wie sie von der Messlatte ablas, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. Fünf Mal fünf Meter maß der kahle Raum. Dicke Betonstücke lagen auf dem Boden. Die Decke senkte sich in Blickrichtung und wurde durch Metallstützen am Einsturz gehindert. Sie markierten gleichzeitig einen Durchlass durch die Einsturzstelle, der weiter in die Waagerechte führte. Vielleicht ein Zusammenbruch von dem Erdbeben 1992 dachte sie. Ein für die Gegend ungewöhnlich starkes Erdbeben, dessen Epizentrum nur wenige Kilometer entfernt lag. An der Seite standen die Maschinen, die das Loch freigebuddelt hatten. Alles in allem machte die Szenerie, keinen vertrauenserweckenden Eindruck auf sie. Nach ihrem Dafürhalten brach hier gleich alles zusammen. Ein leichter klaustrophobiescher Zustand stellte sich ein, ähnlich wie in der Röhre für Computertomografien. Sie musste zur Seite treten, weil Kollegen mit Schubkarren Schutt zu dem provisorischen Einzug im Loch schafften.

„Sie wollen bestimmt nicht, dass ich durch dieses Loch gehe?“, fragte sie den Mitarbeiter des LKA, der abwartend vor dem Loch stand.

„Wir sind hier im Vorraum, faktisch der bekannte Luftschutzbunker“, erklärte der Techniker der Spurensicherung. „Der Komplex zieht sich hinter dem Durchgang unendlich weiter. Hier ist alles sicher. Wir haben selbst an Stellen Stützen gesetzt, die die Statiker für unbedenklich hielten. Sie wollen durch dieses Loch gehen, da bin ich mir sicher.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. „Wir haben bisher nur einen kleinen Teil gesehen, aber der hat es in sich. Kommen Sie“, er winkte. „Sie sind Hauptkommissarin Plum“, stellte er fest. „Ich kenne Sie aus dem Fernsehen.“

„Tut mir leid. Ich hätte mich vorstellen müssen.“ Sie lächelte ihm zu.

„Oberkommissar Koch. Ich komme vom Niederrhein und bin beim LKA gelandet.“

„Auf gute Zusammenarbeit“, sie reichte ihm die Hand. „Unser BKA Kollege sprach von Leichen?“ Hinter der Einsturzstelle sah der Bunker wieder einigermaßen sicher aus.

„Ja kommen Sie. So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Er schüttelte den Kopf und öffnete eine gusseiserne Türe. Sie stiegen die dahinter liegende eiserne Treppe hinunter. Zweiunddreißig Stufen zählte Claudia. Also ungefähr sieben Meter. Sie liefen durch einen Korridor von dem rechts und links, wie sie vermutete, Schleusen abgingen. Auf den Türen standen mit Schablonen und Farbe aufgebrachte Hinweise: Stab, Funkraum, Schirrmeister, Lager, Küche und viele andere Bezeichnungen.

„Warten Sie einen Moment Frau Plum.“ Koch hielt sie auf und öffnete eine der vielen Schleusen, die mit ‚Lager‘ bezeichnet waren. „Schauen Sie ruhig hinein.“ Er führte sich auf, wie ein Fremdenführer und leuchtete mit der starken Stablampe, die er bei sich trug, hinein.

Claudia guckte in einen kaum drei Meter breiten Gang, der rechts und links mit Regalen verstellt war.

„Mein Gott“, entfuhr es ihr. „Das ist ein Gemischtwarenladen.“ Gartengeräte, Aluminiumtöpfe, Essgeschirre sowie Hunderte anderer Artikel stapelten in den Fächern.

„Sie haben recht. Ungewöhnlich für eine dörfliche Bunkeranlage. In dieser Anlage können sie Monate, wenn nicht Jahre überleben. Wir haben bisher nur wenig davon gesehen.“ Er sah sie verschwörerisch an. „Und nicht nur das. Als der Bunker errichtet wurde, bot er die Grundmaterialien, eine Zivilisation zu schaffen, wenn rundherum alles zerstört war. Von Atombomben wussten die damals noch nichts.

„Wie meinen Sie das?“, fragte Claudia.

„Das Dorf mag vielleicht neunhundert oder tausend Einwohner zählen. Wie ich gehört habe, ist hier Platz für ein Vielfaches von Einwohnern, und dann die Nahrungsmittel und Logistikräume und alle Voraussetzungen um eine Befehlsstruktur zu betreiben. Ungewöhnlich … oder nicht?“ Koch sah sie fragend an.

„Was wollen Sie damit sagen?“ Claudia hatte sich noch nie Gedanken über Bunker oder Bunkersysteme gemacht.

„Ach, nichts“, sagte der LKA-Mensch und ging weiter.

„In einem Dorf, wie dem deinem, gab es meist nicht einmal einen Luftschutzkeller und hier ist eine komplette riesige Bunkeranlage“, erläuterte Fabian, der hinter ihnen auftauchte.

„Auf dem heutigen NATO Gelände war doch damals der Flugplatz. Vielleicht deshalb“, stellte Claudia fest.

„Du hast falsche Vorstellungen“, stellte Schröder fest. „Damals gab es dort ein Stück planiertes Feld. Wenn es regnete, konnten die Maschinen nicht landen.“

Claudia verzichtete auf eine Antwort. Ein Dutzend gleich gekleideter Leute arbeitete in dem großen Raum, den sie betraten, nachdem Koch wieder eine Schleuse geöffnet hatte. Sie trugen ebenso die weißen Papieranzüge, nur die Farbe der Schutzhelme unterschied sich. Gelb herrschte vor, gefolgt von Blau und Rot. Claudia trug den einzigen weißen Helm. Wahrscheinlich war die Farbe den Besuchern vorbehalten. Emsig beschäftigt liefen sie hin und her.

„Hier haben wir unsere Operationsbasis eingerichtet. Wir mussten Strom von oben hier herunterbringen, weil wir noch nicht wissen, wie die Elektrizität in diesem Kasten funktioniert“, erläuterte Koch. „Im Moment betreiben wir jedoch Beschäftigungstherapie.“ Seine Stimme hatte einen bitteren Klang angenommen. „Das Militär wird übernehmen. Wir sind wegen der Öffentlichkeit und der Toten geduldet. Ein Missgeschick hat die Nachricht von den Leichen schnell nach oben getragen. Jetzt muss der Schein gewahrt werden. Und außerdem hat Kollege Schröder“, er warf Fabian einen bezeichnenden Blick zu, „unsere Arbeit gestoppt.“

Claudia hörte nicht mehr zu und betrachtete die modernen Schreibtische mit den Flachbildschirmen, die vollkommen deplatziert wirkten. Die Halogenlampen offenbarten die Hässlichkeit der unbearbeiteten Betonwände. Kein Staub, alles klinisch sauber. Die Luft war frisch, keineswegs muffig, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Atmosphäre bedrückte sie. Vor allem, weil sie nicht wusste, was sie erwartete.

Wann hatten die das alles hierher geschafft? Klar, sie war fast eine Woche nicht mehr auf dem Gelände gewesen. Da tat sich natürlich einiges.

„Kommen Sie Frau Plum“, forderte Koch sie auf und führte sie durch die Betriebsamkeit der beschäftigten Kollegen zu einer weiteren Schleuse. Sie traten in einen kleinen Vorraum, von dem drei Eingänge abgingen. Koch nahm den rechten und trat hindurch. Eine riesige Halle, unterbrochen von Stützen, wie in einem Parkhaus, tat sich vor Claudia auf. An den Wänden standen unzählige Meter Regale, auf denen Konserven und mittelgroße Säcke mit Lebensmittelen lagerten. „Mehl, Zucker, Reis, Suppen, Gemüse, alles, was das Herz begehrt.“ Er zeigte in die Regale. „Hier. Das Datum. 18. Mai 1913. Aus dem Ersten Weltkrieg. Kaum vorstellbar. Und immer noch genießbar, wie meine Kollegen feststellten. Hier Schwarzbrot, das kennen Sie sicher auch noch aus der Ausbildung.“

„Und wie“, schmunzelte sie. „Selbst die Dosen habe sich in den fast einhundert Jahren nicht verändert.“

„Wir müssen nach rechts.“ Rundum in der Halle gingen in unregelmäßigen Abständen weitere Türen ab. Claudia vermutete ebenfalls Schleusen. Weshalb Schleusen? Richtig, im Ersten Weltkrieg wurde erstmals mit chemischen Kampfmitteln, Gas, gekämpft. Ja, das machte Sinn.

Sie durchschritten eine weitere Schleuse. Ein SEK-Kommando lauschte den Anweisungen ihres Gruppenführers. Im Bunker wirkten sie gar nicht mehr so futuristisch, wie bei einem Einsatz auf der Straße. Sie trugen, im Gegensatz zu allen anderen, denen sie bisher begegnet waren, volle Montur. Schwarze Kampfanzüge und Helme mit geschlossenem Visier, auf denen starke LED Lampen ihren Sichtbereich ausleuchteten. Irgendetwas sagte Claudia, dass der Bereich, in dem sie sich bisher bewegten, von den Kollegen, als ungefährlich eingestuft wurde. Andernfalls wären sie nicht hier.

Etwas musste falsch gelaufen sein. Fabian sprach von der Spurensicherung und Gerichtsmedizin im unterirdischen Bereich. Aber SEK?

Nach Durchquerung einer weiteren Schleuse stockte Claudias Atem, als sie die Feldbetten sah. Sie zählte kurz durch. Einundzwanzig. Und ebenso viele leblose kleine Personen. „Die Luft hier ist trocken. Die Toten sind mumifiziert“, holte der Kollege sie in die Wirklichkeit zurück.

Sie trat an eines der Betten. Ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Vollständig bekleidet mit einer Cordhose. Nein, rief sie sich ins Gedächtnis. Manchesterhose hieß das früher. Darüber ein Flanellhemd. Blau mit einem Aufnäher auf der rechten Brust: ‚Franz‘. Glänzende blonde Haare umrahmten das zarte eingefallene Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Die Nägel an den nackten Füßen waren ungefähr zwei Zentimeter lang. Ein Blick auf die vor der Brust gefalteten Hände zeigte ähnlichen Wuchs der Fingernägel. Haare und Nägel wuchsen nach dem Tod noch einige Zeit weiter. Am Rande nahm sie rege Tätigkeit der Spurensicherung wahr. Blitzlichter flammten und Mediziner machten sich vorsichtig an den Toten zu schaffen. Sie trat zu einem anderen Bett. Oder sollte sie Totenliege sagen.

„Verdammt noch mal. Ich habe doch gesagt, dass hier nichts geschieht, bis Frau Plum hier ist. Wer hat das angeordnet?“ Fabian richtete die Frage wütend an die Anwesenden.

„Ich.“ Ein großer Mann erhob sich aus seiner gebückten Stellung und sah ihm entgegen. „Als ich heute Mittag hier herunterkam, standen die Türen auf. Das Klima in diesem Raum sollte nicht verändert werden.“

Claudia sah ihn verständnislos an.

„Keiner älter als Zwölf“, stellte der Rechtsmediziner mit einer Handbewegung in den Raum und beachtete Fabian nicht mehr. „Über die Todesursache kann ich noch nichts sagen. Ich tippe auf Verdursten. Die Trocknung der Körper ist nicht allein nach dem Tod entstanden. Wie gesagt … Auf jeden Fall sind nicht alle zum selben Zeitpunkt gestorben. Da liegen Jahre dazwischen. Aber auch da müssen wir noch genauer ran.“

Claudia hatte noch nie mit mumifizierten Leichen zu tun gehabt. Das Gewebe sah aus, wie Dörrfisch, den sie in Norwegen auf den Trockendarren gesehen hatte. Die Haut war trocken und hart, als sie mit den Fingerspitzen darüberstrich. Sie war dankbar für die Chirurgenhandschuhe. Etwas hatte die Flüssigkeit sehr schnell herausgezogen, sodass die biologische Zersetzung nicht stattgefunden hatte. In diesem Raumklima war scheinbar kein Lebensraum für Parasiten. Für Menschliche schon geisterte am Rande ihrer entsetzten Gedanken. Die Gesichtszüge der Kinder hatten fast noch Ausdruck, wenn nicht die, in die Höhlen gezogenen Augenlider gewesen wären. An den sichtbaren Füßen und Händen war die Haut geschrumpft und dunkel, fast schwarz. Die Körperhaltung der toten Kinder zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Wirbelsäule bog sich so durch, dass der Kopf nach hinten gezogen wurde. Eine gegenläufige embryonale Haltung ging ihr unsinnigerweise durch den Kopf.

Die Luft des Raumes legte sich schwer auf ihre Lungen und erschwerte das Atmen. Hals, Mund und Nase waren ausgedörrt, als habe sie tagelang nichts mehr getrunken.

„Wo kommen die her?“, fragte Claudia mehr rhetorisch, dabei revoltierte ihr Magen. „Hier, das ist ja fast noch ein Baby.“ Sie kümmerte nicht, dass Tränen die Wangen herunterrollten. Das Gesicht des Kindes war vollkommen entspannt. Die dünne dunkle pergamentartige Haut spannte über den Knochen Kopfes. Elisabeth stand auf dem Namensschild. Die kleinen Händchen waren gefaltet und lagen auf dem Bauch. Jemand hatte die Leichen hergerichtet. Sie gewaschen und angezogen. Die meisten der kleinen Leichen lagen auf dem Rücken. Andere jedoch saßen auf dem Bett und waren so fixiert, dass sie auf einen Stuhl ausgerichtet waren, der an der linken Wand stand. Die Haare lagen sorgfältig frisiert um die kleinen ledrigen Gesichter.

Vor ihrem inneren Auge sah Claudia eine gesichtslose Gestalt, eindeutig weiblich. Da hatte jemand gesessen und das Arrangement genossen. Eine Puppenstube dachte sie mit einem Frösteln. Die Kleinen hielten teilweise Bauklötze oder Stoffpuppen in den Händen.

Die Verzweiflung überfiel Claudia wie ein Schlag. Sie bekam einen Weinkrampf und schluchzte hemmungslos.

Vielleicht gerade, weil die Situation vollkommen steril war, wie in einem Museum, lösten die toten Kinder oder Jugendlichen den Schockzustand aus, der von ihrem ganzen Sein Besitz nahm. Es gab nichts Schlimmeres als tote Kinder. Das Trauma ihres ermordeten Bruders stieg wieder in ihr hoch und schuf die Identifikation zu den jungen Menschen, die ihr Leben vor sich gehabt hatten und abrupt gestoppt wurden. Gestoppt von … sie wusste es noch nicht. Sie mochte nicht glauben, was der Mediziner zur Todesursache sagte … sie wollte nicht glauben. Einfach entsetzlich. Die düstere Ahnung durchzog sie wie ein Schlag. Das Gefühl drohender Gefahr aus den letzten Tagen wurde zur Gewissheit. Hier war ein schreckliches Verbrechen geschehen und es war noch nicht vorbei.

„Nicht aus unserer Zeit würde ich normalerweise sagen“, antwortete der Arzt. „Die Kleidung deutet auf die zwanziger, dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich kann mir keinen Reim daraus machen. Etwas stimmt daran nicht. Die Kinder sind nach dem Tod angekleidet worden. Hier ist der Ärmel des Hemdes verdreht, dort das Hosenbein.“

„Dann können möglicherweise fast hundert Jahre dazwischen liegen“, stellte sie für sich fest. „Wie gehen Sie weiter vor?“ Claudia sah ihn an.

„Gehen Sie nicht davon aus. Der Tod kann durchaus viel später eingetreten sein. Ich möchte sie hier untersuchen und den Raum dann versiegeln, falls keine Verwandten gefunden werden, die Anspruch darauf erheben. Im Institut müssten wir die gleichen Umweltbedingungen schaffen, was kaum möglich sein wird. Deshalb denke ich, dass es einfacher ist, hier eine Autopsiestelle herzurichten. Dazu muss ich die Vorgaben meiner Vorgesetzten abwarten.“

Sie nickte. „Tun Sie alles, was Sie für nötig erachten. Meinen Segen haben Sie.“

„Danke Frau Plum. Dann muss ich keine Verhandlungen über das Budget führen. Das erleichtert uns die Arbeit ungemein.“

Claudia verbarg ihr Erstaunen über diese Antwort. „Wann kann ich mit den ersten Ergebnissen rechnen?“, fragte sie stattdessen.

„Die Autopsiegeräte können binnen kürzester Zeit installiert werden. Mit den Analysen wird es jedoch dauern.“

„Hier ist doch Militär, wie ich gesehen habe. Machen Sie denen Dampf. Die sollen so einen Container herschaffen, mit denen die Bundeswehr chemische und medizinische Analysen macht. Vielleicht bekommen Sie auch noch das Personal, das an den Geräten ausgebildet ist.“ Sie war erstaunt über ihr Vorpreschen. „Wie ist ihr Name, Herr Doktor.“

„Professor Holtzer. Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts an der Uni Köln und Inhaber des Lehrstuhls. Aber bleiben Sie ruhig bei Doktor. Falls Sie weiter so schnell entscheiden, ist Herrmann vielleicht die bessere Lösung.“

„Claudia“, sie hielt ihm die Hand hin.

„Wenn wir alles so hinbekommen, wie Sie entschieden haben, können Sie binnen sechsunddreißig Stunden die medizinischen Gutachten, so ungefähr alle zwei Stunden aktualisiert an Ihrem PC aufrufen.“ Er grinste von einem Ohr zum anderen. „Claudia, ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.“

Claudia machte einige Fotos mit dem Handy, weil sie nicht wusste, ob die Situation dieselbe war, wenn sie später zurückkam.

„Ich bleibe vor Ort und schaue ab und zu herein.“ Sie verließ bedrückt den Raum. LKA Kollege Koch folgte.

Fabian Schröder erwartete sie. „Was denkst du?“

„Nichts. Mein Verstand ist gelähmt. Was ist hier geschehen? Einundzwanzig tote Kinder in diesem Monstrum von Bunker. Wie kommen die hierher? Haben wir Unterlagen über das Gebäude? Was sind das für Uniformen? Alle tragen blaue Hemden. Die Hosen und Röcke aus hellbraunem Cord oder Manchester, wie man früher sagte. Fragen über Fragen.“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie groß ist dieser Bunker? Alles, was ich bisher gesehen und gehört habe, ist wahnsinnig überdimensioniert. Was sucht der Verfassungsschutz hier? Wieso mischt das BKA mit?“ Sie hielt inne und klopfte mit der Faust in die Handfläche. „Fabian, ich habe Angst. Gott erbärmliche Angst. Die Situation schnürt mir die Luft ab und ich könnte kotzen. Weißt du was, Fabian … ich, habe zurzeit Urlaub und hoffe, dass der Spuk vorüber ist, wenn ich wieder zum Dienst erscheine.“ Sie machte kehrt und strebte dem Ausgang zu. Sie ließ sich doch nicht verarschen. Die glaubten tatsächlich, sie wäre so blauäugig und renne in ihr eigenes Unglück. Tatsächlich bekam sie kaum Luft und die Übelkeit rumorte bittere Galle in die Speiseröhre. Sie kannte die Symptome und wollte nichts wie weg.

„Claudia warte. Verdammt noch mal, jetzt bleib‘ stehen.“ Fabian rannte auf seinen kurzen Beinen hinter ihr her. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist und auch nicht, weshalb der Staatsschutz hier mauschelt. Ich habe dich gegen den Widerstand meiner Behörde und den anderen ins Gespräch gebracht. Weil ich dir vertraue.“

Claudia hielt inne und überlegte. Fabian war in den vergangenen Jahren immer eine verlässliche Stütze. Seine Freundschaft zu Griet und Paul schloss auch Kurt und sie ein. „Sag‘ mir wenigstens, weshalb du hier bist.“

„Warte einen Moment. Ich sage, denen eben Bescheid“, er wies zu den Technikern. Wenige Minuten später gingen sie tiefer in den Keller. Fabian folgte dem Stromkabel auf dem Boden. Sie durchquerten einen großen Saal und wandten sich nach rechts in einen Gang. Zwei Meter breit und etwas höher. Hier zählte sie fünfzig Schritte, bis sie vor einer weiteren Tür standen. Die Beleuchtung wurde durch Kabelverbindungen in Mehrfachsteckdosen sichergestellt. Fabian öffnete die Tür und sie standen in einem Raum, der sich deutlich von den anderen differenzierte. Er machte eine allumfassende Bewegung. „Hier. Wir sind in keinem toten Gemäuer. Das ist moderne Einrichtung und Technik.“

„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte Claudia konfus. Sie tat einen unsicheren Schritt in den, mindestens einhundert Quadratmeter großen Raum, dessen Mittelpunkt ein riesiger Schreibtisch war, auf dem stapelweise Papiere lagen. An zwei getäfelten Wänden, im Winkel, zogen sich Regale, die mit Ordnern und CD-Hüllen bestückt waren. Die beiden anderen Wände, ebenfalls getäfelt, zierten Diagramme und Zeichnungen. Die kontrollierte Unordnung des Büros deutete auf Arbeit. Bis auf die fehlenden Fenster deutet nichts darauf, dass sie sich einige Meter unter Erdniveau befanden. Die Deckenbeleuchtung flammte in dem Moment auf, als sie den Fuß über die Türschwelle setzten. LED Technik und Bewegungsschalter. Elektrizität, die nicht von oben aus dem Verteilerkasten von Westenergie über Kabel kam. Auf dem Fußboden lag Parkett allererster Qualität. Deutsche Eiche ging ihr durch den Kopf. Weshalb legten ihre Gedanken die Betonung auf ‚deutsche‘? Der Kloß in ihrem Bauch wurde dicker und drückte nach oben. Er drohte ihr den Atem zu nehmen. Auch die beiden Sitzgruppen etwas abseits, denen gegenüber je ein riesiger Flachbildschirm stand, hoben die Düsterkeit der Szene nicht auf.

Fabian hob den Finger vor den Mund, zeigte in den Raum und auf die Ohren. Sie nickte. Er wollte sichergehen, vielleicht befanden sich Abhörvorrichtungen hier. Zögernd setzte sie einen Schritt in das Zimmer und ging schließlich zum Schreibtisch, in dessen Arbeitsfläche eine Tastatur eingelassen war. Dahinter lag ein Monitor, der, wie sie sah, durch eine Vorrichtung hochgestellt werden konnte. „Nichts anfassen“, mahnte Fabians Stimme, als sie ein Blatt Papier greifen wollte.

Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Fotogalerie eingefangen. Ungefähr dreißig Porträts von jungen Leuten beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters. Die Bilder waren im unteren Teil beschriftet. Alle trugen das blaue Flanellhemd mit dem aufgenähten Vornamen. Eingedenk der Warnung Fabians verschluckte sie alle Fragen zu ihrem Entsetzen. Die Jungen und Mädchen hatten fast identische blutleere weiße Gesichtszüge. Eine Blutlinie dachte sie. Die Haare grau, fast weiß. Die Mädchen gelockt, zwei Finger unter dem Schulteransatz endend und die Jungen mit Kurzhaarschnitt und einem Scheitel auf der linken Seite. Gesichter, die möglicherweise aus der Vergangenheit kamen. Dreißiger, vierziger Jahre. Eine weitere Übereinstimmung waren die blassen Augen, die ernst aus den Fotos auf die Betrachter schauten und keiner bestimmten Farbe zugeordnet werden konnten. Sie hob ihre Hand und wollte über die Gesichter streichen. Fabians packte, nicht fest, aber bestimmt zu. Sie verstand. Ihr zweiter Fehler in diesem Raum. Hier musste die Spurensicherung noch ihre Arbeit tun. Sie filmte das Zimmer und die Einrichtung mit dem Smartphone, als wolle sie Stimmung festhalten, um später noch einmal darauf zurückzukommen.

„Dort ist eine Zeitung aus diesem Monat“, sie wies auf eine Ecke des Schreibtisches. „Hier, der französische Präsident François Hollande ernennt Jean-Marc Ayrault zum Premierminister. Das ist erst einige Tage her.“

Fabian nickte stumm.

Wortlos wandte sie sich ab und verließ fluchtartig das Zimmer. Draußen im kahlen Flur sog sie die trockene temperierte Luft in ihre Lungen. Luft? Temperiert? Die Gedanken holten sie zurück.

„Ist hier eine Klimaanlage?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

„Wahrscheinlich. Wir haben jedoch noch nichts gefunden. Die Stromversorgung dieses Raumes ist auch nicht von uns. Irgendwo in diesen Katakomben liegt einiges verborgen.“

„Hast du eine Ahnung, was hier los ist?“ Ihre Stimme trug leise Hoffnung.

Fabian hob die Schultern. „Absolut nicht. Lass‘ uns nach draußen gehen.“

*

Fabian Schröder war ein Pedant. Eine Beamtenseele, aber eine von der liebenswerten Sorte. Nicht steif, förmlich oder knöchrig, sondern strukturiert. Ein Überbleibsel des BKA in Bonn Meckenheim. Als die große Behörde nach Berlin umzog, mussten gemäß Vertrag des Umzugsgesetzes einige Abteilungen am Rhein bleiben. Jeglicher Ballast wurde zurückgelassen. Also auch Fabian mit seinem Bereich phänomenaler Fälle. Die Mulder/Scully Abteilung oder der Spinnerbereich waren noch die liebenswerten Bezeichnungen. In den letzten Jahren stolperte Fabian Schröder ungewollt in spektakuläre Fälle und zog die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich. Vom Befehlsempfänger mutierte er zum Leiter seines Bereiches und fühlte sich absolut nicht wohl. Die Bewegungsfreiheit, die er bisher hatte, wurde durch seine neue Aufgabenstellung sehr eingeschränkt. Er musste sich auf einmal mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Verfassungsschutz und auch den Innenministerien der Länder, und dem des Bundes herumschlagen. Doch zum großen Teil nahm er sich die Freiheiten, die er zur Ausübung seines Berufes in seiner Abteilung benötigte. Ihn faszinierten die Fälle, bei denen die Kollegen das Handtuch warfen. Angebliche Phänomene, vorgebliche Geister, Hexen, geheimnisvolle Landschaften und Gebäude. Manchmal waren auch Spinner dabei, die eine Begegnung mit der dritten Art hatten.

In den tiefen Kellern des BKA Gebäudes in Meckenheim saßen auch heute noch Horchposten vor ihren modernen Geräten. Sie filterten aus dem Äther, was nach vorgegebenen Richtlinien, auf dem Schreibtisch Fabians landete, der dann entschied, ob seine Abteilung etwas übernahm. Die anderen Abteilungen gab es teilweise noch als Rumpfbestände. Die Köpfe saßen in Berlin.

In modernen Demokratien werden, im Gegensatz zu Diktaturen, Überwachungsstrukturen mehrfach, in verschiedenen Behörden, vorgehalten. Das hatte den Sinn, dass jeder Dienst sich mit den Aufgaben des anderen Dienstes beschäftigte, damit der keinen Informationsvorsprung erreichte. Das diente der Vertrauensförderung und verhinderte, dass sogenannte schwarze Schafe zu frühzeitig entdeckt wurden. Wer nämlich clever die Informationsstrukturen beherrschte, war ziemlich sicher, bei eventuellen ungesetzlichen Aktivitäten unentdeckt zu bleiben. Das Bunkern von Informationen gehörte zum normalen Dienstablauf, wie das Atmen. Wissen ist Macht.

Bestimmte Schlüsselworte in Nachrichten setzten Getriebe in Gang, wo jedes Zahnrädchen packte und beim Antrieb landete. Das war dann, in diesem Bereich, Fabians Abteilung und sofortige Kontakt mit ihm. Allein seinem Wissensdrang und die Kenntnis der Informationsstrukturen war seine jetzige Anwesenheit in der Bunkeranlage geschuldet.

Der Verfassungsschutz startete eine allgemeine Anfrage zur Hauptkommissarin Claudia Plum aus Aachen, was genügte, dass Fabian einen Anruf bekam. Die Kombination ‚Claudia Plum Aachen Hauptkommissarin‘ waren Schlüsselworte, die den sofortigen persönlichen Kontakt zu ihm auslösten. Das Ergebnis der Erkundigungen in diesem Zusammenhang war so belanglos, dass seine Alarmglocken schrillten. Eine alte Fliegerbombe und angeblich ungebührliches Auftreten gegenüber einem Verfassungsschutzbeamten, während einer veranlassten Evakuierungsmaßnahme zur Bombenentschärfung. Eine Möglichkeit schoss ihm durch den Kopf: Vielleicht gefiel dem anfragenden Beamten die Frau, Claudia Plum, und deshalb der Informationsdrang. Den Gedanken verwarf Fabian schnell. Sein Instinkt sagte ihm etwas anderes und er stolperte faktisch in die Bunkeranlage.

Bevor die konkurrierenden Bundesbehörden reagierten, hatte er den Fall an sich gerissen und nach einigen Telefonaten, Claudia Plum verantwortlich im Team. Der kontaktierte Bundesinnenminister erinnerte sich an die Live Übertragung der Geiselnahme auf dem Aachener Katschhof und der wichtigen Rolle der Hauptkommissarin, die den Fall in aller Öffentlichkeit unblutig zu Ende brachte. Sie wurde in aller Welt dafür geliebt. In der brisanten Angelegenheit, die scheinbar vor ihnen lag, konnte eine Sympathieträgerin wichtig werden. Außerdem besaß sie durchaus die Kompetenz für diese Aufgabe. Der Politiker zog an den richtigen Strippen und schon war Claudias Urlaub beendet.

Doch auf anderen Ebenen begannen betriebsame Aktivitäten, die keine neugierige, in den großen Ränkespielen, unbedarfte Kriminalistin, akzeptierten.

Fabian Schröder bewunderte Hauptkommissarin Claudia Plum. Weniger wegen ihres analytischen Verstandes, als vielmehr aufgrund ihrer emphatischen Fähigkeiten und der unkonventionellen Art, wie sie mit ihrem Team die Fälle anging. Außenstehende sahen keine Struktur. Jeder der drei Teammitglieder schien einer eigenen Spur zu folgen, ohne dass sich jemand daran störte. Die Kommunikation war einzigartig, weil jeder das wusste, was der andere gerade ermittelte. Sie waren zu jeder Zeit auf dem gleichen Stand.

Er lernte sie und ihren Lebensgefährten Kurt, durch die Nachbarn Paul und Griet kennen, mit denen er anlässlich eines mysteriösen Falles zu tun hatte. Sie befreundeten sich.

Hinzu kam dieses einzigartige Heidedorf, abgeschieden gelegen, im fast westlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Die Menschen waren freundlich gegenüber Fremden, doch sehr zurückhaltend. Zugehörig zum Dorf wurde erst die dritte Generation der Zugezogenen betrachtet. Das Zusammenleben wurde durch die Familienclans geregelt. Fünf an der Zahl, die untereinander in den verschiedenen Generationen durch Heirat alle verwandtschaftlich verbunden waren. Wurden Zugezogene durch einen Clan akzeptiert, waren sie auch für die anderen akzeptabel.

Laut Claudias und Kurts Angaben gab es dazu noch die Rentnerband, die in unterschiedlicher Zusammensetzung auf einer Bank am Heiderand, täglich ab zehn Uhr bis zum Mittagessen, residierte. Keiner dieser Herren zählte weniger als achtundsechzig Jahre und der älteste war zurzeit sechsundachtzig. Sie waren das gute und schlechte Gewissen des Dorfes und wussten alles, was jemals geschehen war. Nur, sie waren wortkarg und sprachen nicht mit jedem. Claudia gehörte zu den wenigen Personen, zu der sie Kontakt suchten. Ihre Wurzeln lagen im Dorf, auch, wenn sie das erst kurze Zeit wusste. Er machte einen gedanklichen Vermerk, Claudia auf die alten Männer anzusetzen. Sein Versuch einer Unterhaltung mit den Weisen des Dorfes war vor längerer Zeit gescheitert. Für Fabian saßen dort senile alte Herren, die dazu noch schwerhörig waren. Für Claudia waren sie der Inbegriff des Wissens um das Dorf und seine Menschen.

*

„Mein Gott. Wie lange waren wir dort unten?“, fragte Claudia, als sie aus dem Loch auf den Vorplatz der Schule stiegen. Sie war zwar eine Woche nicht mehr hier, doch der drei Meter hohe Bretterzaun, der das Gelände umfriedete, war vorhin noch nicht vorhanden. Zur Straße Hinter den Höfen war ein breites Tor eingearbeitet, groß genug, um auch schweres Gerät passieren zu lassen. Zum Bolzplatz, dem früheren Sportplatz, hin und den Nachbargrundstücken war die Bevölkerung ausgeschlossen.

„Fünf Stunden“, antwortete eine junge Frau, die ihr die Hand zur Hilfe reichte. Sie trug die aktuelle Uhrzeit in eine, auf einem Klemmbrett befestigte, Kladde ein. „Wir erfassen alle Personen, die in den Katakomben tätig sind. Morgen steht hier ein Durchzugsleser, der die Daten dann an den Computer weiterleitet.“

Starke Scheinwerfer vertrieben die hereinbrechende Dunkelheit und gaben der Szenerie eine kalte, fröstelnde Stimmung. Geschäftig montierten Kollegen der Einsatztruppe entlang des Zauns, auf einer vorbereiteten Fläche, Einsatzcontainer. Zweistöckig, wie sie feststellte. Vom Verteilerkasten des Elektrizitätswerkes wurden armdicke Kabel verlegt. Während der Kranwagen die Container vom LKW herunterhob, stellten Techniker, über vorinstallierte Steckverbindungen, die Stromversorgung her. Damit war der betreffende Einsatzbereich sofort nutzbar und konnte bezogen werden. Jeder Handgriff saß.

„Sie werden im alten Schulgebäude erwartet“, bedeutet ihr die Datenerfasserin „Einen Moment bitte.“ Sie kramte in einem Kasten und reichte ihr einen hellroten Plastikausweis, der mit einer Klemmvorrichtung für die Kleidung versehen war. „Damit kommen sie auch durch die Sicherheitsvorrichtungen. Einfach durch die Leser ziehen und bitte immer offen an der Kleidung tragen.“

Sie trug noch den Einmalanzug. Wo war der Unimog? „Soll ich künftig in den Klamotten herumlaufen?“, fragte sie Fabian.

„Komm“, sagte er und grinste dabei, wie ein Honigkuchenpferd. Irgendein Gedanke belustigte ihn offensichtlich. Er ging auf die Containerreihe zu und steuerte den Vierten Doppelstöckigen an. „Du musst deine neue Identkarte benutzen“, meinte er kurz davor. „Ich komme dort nicht hinein. Meiner steht dort“, er wies nach links.

„Das glaub‘ ich nicht“, Claudia stand perplex vor der Tür und starrte auf das hellrote Schild, die gleiche Farbe, wie der Plastikausweis, den sie in der Hand hielt.

Hauptkommissarin Claudia Plum

Leiterin Team 4

sprang ihr in großen Lettern entgegen.

„Ich erwarte dich in zehn Minuten vor dem Eingang des Schulgebäudes.“ Fabian ließ sie, mit verwirrenden Gedanken, stehen und ging auf eine Gruppe zu, die abseits diskutierte.

Claudia zog die Karte durch den Leser und betrat befangen und neugierig den Raum. Zwei Schreibtische mit je einem Monitor und einer Tastatur. Daneben jeweils ein Schrank. An der Decke hing ein Beamer, der auf die freie rechte Kopfwand ausgerichtet war. Gegenüber der Tür führte eine steile Treppe nach oben. Neugierig stieg sie hinauf. Die gleiche Raumgröße. Klar war auch nur ein Container. Im linken Bereich die gleiche Arbeitsplatzausstattung wie unten, jedoch in einer Ausführung. Rechts ein runder Tisch und acht Stühle. Ihre Klamotten lagen säuberlich gefaltet auf dem Bürostuhl.

Sie zog den Overall aus und hätte gern geduscht. Das musste warten, bis sie nach Hause kam. Sie zog Kurts Hemd über. Die Hose hatte sie unter dem Anzug anbehalten. Auf dem Schreibtisch lag ein DIN-A4 Blatt Papier. Eine Entschuldigung für den fehlenden Telefonanschluss, weil die Telekom nicht aus den Füßen kam und der Hinweis darauf, dass Telefonieren über das Internet möglich sei.

Claudias Gedankenkarussell drehte. Was geschah hier? Sie war Hauptkommissarin der Aachener Mordkommission … nicht mehr oder weniger. Heute Morgen war die Welt noch in Ordnung. Dann der blöde Anruf von Klein und jetzt hatte sie die Bredouille. Einundzwanzig mumifizierte Leichen und ein Bunker, von dem noch niemand wusste, wie groß er war. Dazu die modernen technischen Einrichtungen, die noch nicht vorhanden waren, als das unterirdische System in Vergessenheit geriet. Der Staats- oder auch Verfassungsschutz, das BKA, das LKA und wer weiß welche weiteren Behörden. Die Infrastruktur, wie Container, Absperrung, überhaupt die ganze Organisation lief ab, als wenn jeder damit gerechnet hatte, dass die Situation eintrat, wie sie jetzt war. Sie wurde misstrauisch. Brauchten die einen Doof und hatten dabei an sie gedacht, weil sie schön bequem in diesem Dorf wohnte? Der Druck in ihrer Magengegend verstärkte sich und drohte wieder, den Atem zu nehmen. Langsam sagten ihre Gedanken. Nachdenken. Da war auch noch Fabian, dem sie eine solche Schweinerei nicht zutraute. Aber weshalb hatte er sie angeblich in diese Funktion gehievt? Dabei gab er vor, nicht zu wissen, was dort geschah. Sie würde vorsichtig sein müssen, damit die unsichtbaren Mühlsteine sie nicht zermahlten. Mal sehen, was der Abend brachte.

„Was geschieht jetzt“, fragte Claudia Fabian wenige Minuten später.

„Jour fixe oder Briefing. Egal, wie du es nennen willst. Du wirst dich daran gewöhnen. Die Termine kommen immer zur unrechten Zeit. Am besten zunächst die Klappe halten und zuhören. Du wirst schon wissen, wann du was sagen musst.“ Fabian ging vor und öffnete die zweiflügelige Tür.

Sie betraten einen großen Raum, sechzig oder siebzig Quadratmeter groß. Der Schützenverein und Mitglieder des Kirchenchors hatten ihn geschmackvoll hergerichtet und dem Stil des alten Gebäudes angepasst. In der Mitte standen mehrere Tische zu einer langen Tafel angeordnet. Namensschilder bestimmten die Sitzordnung.

Ein glatzköpfiger Mann nickte ihnen zu. „Frau Plum, denke ich“, empfing er sie. „Sie sitzen am Ende des Tisches, weil ihr Team im Moment noch nicht gebraucht wird. Kein Affront gegen ihre Person. Der Raum hier ist eine Behelfslösung, und solange wir ihn nutzen, verteile ich die Platzkarten entsprechend der Dringlichkeit der Aufgabenstellung. Nehmen Sie Platz. Haben Sie mir diesen Professor auf den Hals gehetzt“, fragte er mehr rhetorisch und fuhr fort. „Ich habe die Heereslogistiktruppe in Unna angewiesen, ihrem Wunsch zu entsprechen. Noch heute Nacht wird ein Einsatzfahrzeug vor Ort sein, mit ausgebildetem Personal.“

Claudia sank in ihren Stuhl. Aller Augen waren auf sie gerichtet, ob der persönlichen Ansprache. „Wer ist das?“ Sie fragte flüsternd. Fabian zuckte gleichgültig die Schultern.

„Ich bin Generalleutnant Löhr vom MAD“, sagte der Glatzkopf zu ihr.

Mensch dachte sie. Der hat Ohren wie ein Luchs.

„Wir haben gleich zweiundzwanzig Uhr. Ich habe alle Leitungsfunktionen der Sonderkommission zu dieser Operation eingeladen. Vorstellen können Sie sich in den nächsten Tagen selbst. Sie werden genügend Gelegenheit bekommen, gemeinsam an der Aufklärung mitzuwirken. Die Operationsgruppe wurde auf Weisung des Bundesverteidigungsministers zusammengestellt. Wissenschaft, Militär und Polizei. Ich koordiniere die Anfangsphase, bis das Verteidigungsministerium mich abzieht; d. h., wir sichern den Luftschutzkeller und verschwinden dann. Je nach Größe wird dies einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich habe das SEK abgezogen und unsere Leute an die Front geschickt. Ich werde die Bereiche Zug um Zug freigeben, kann jedoch nicht versprechen, dass diese Zonen auf Dauer ungefährlich bleiben werden. Sie müssen also mit Behinderungen oder Einschränkungen rechnen.“ Er sprach knapp mit rauer Stimme. Sein Gesicht zeigte einen unbeteiligten Ausdruck. Während er redete, wanderten seine Augen ständig umher und musterten die Personen, die um den Tisch saßen.

„Ich fasse zusammen.“ Sie konzentrierte sich wieder auf die Stimme des Generals. „Der Bunkerkomplex, über dem wir uns befinden, ist nicht einmalig in der Bundesrepublik, jedoch wahrscheinlich der größte, den wir bisher gefunden haben. Schon im Ersten Weltkrieg wurden solche Anlagen zum Schutz vor Gasangriffen der Alliierten gebaut. Auch die Bestückung der Anlage mit Nahrung und Gebrauchsmaterial liegt im Rahmen dessen, was wir an anderen Standorten gefunden haben. Neu in diesem Keller sind die Einrichtungen für Befehlsstrukturen, die wir eher in Berlin, als hier erwartet haben. Der Schutzbunker fasst ungefähr tausend bis zwölfhundert Personen. Zwei Dinge bereiten uns Kopfschmerzen. Da sind einundzwanzig Tote, deren Todesursache zurzeit ungeklärt ist. Eine vollkommen neue Dimension. Vor allem die Art, wie die Toten dargestellt werden. Auf der anderen Seite wurden die Räumlichkeiten bewohnt. Wir fanden Spuren, die Jahrzehnte alt sind, aber auch andere, aus der jüngeren Vergangenheit.“

Claudias Gedanken glitten weg. Die umgebenden Geräusche klangen dumpf, wie durch Watte gefiltert. Das Gesicht des Mannes, der sich Schneider nannte, tauchte in ihrem Innern auf. Nicht im Zusammenhang mit dem Bunker, sondern vielmehr mit dem Gebäudekomplex, den er bewachte. Bestand ein Zusammenhang? Startende und landende Hubschrauber in unmittelbarer Nähe der NATO Air Base Geilenkirchen und dieser unterirdischen Anlage? Hier stimmte etwas nicht. Die Außenwände der ‚Trutzburg‘ trugen keine Fenster. Die Öffentlichkeit sollte dort ausgeschlossen werden. Tatsächlich ein Hochsicherheitstrakt. Die Nähe zum unterirdischen System war beängstigend. Die Indizien deuteten auf zumindest einen offenen Zugang in das unterirdische Reich. Weshalb sollte es von dort keinen Durchgang zu der Villa geben? Aber, was machte sie sich Gedanken, ein weiterer Zugang konnte in jedem Haus des Dorfes liegen. Sie musste ihr Team zur Unterstützung an die Seite bekommen. Was immer man von ihr erwartete, konnte nur mit Maria und Heinz gelingen.

*

Die vergessenen Kinder

Подняться наверх