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Bericht der vergessenen Kinder II (1944) Klaus

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„Wie lange sind wir jetzt schon hier?“, fragt mich Tilde kurz vor einer Schlafperiode.

„Ungefähr drei Monate.“ Die Idee mit dem Reis und der Uhr funktioniert nicht. Wir entwickeln immer wieder neue Ideen, die wir regelmäßig verwerfen. Im Moment verwenden wir eine Idee Christels zur Zeitmessung. Das Mädel, mit seinen neun Jahren, ist unglaublich. Sie entdeckt in einem Vorratsraum Kerzen. Ein halber Zentimeter brennt ungefähr eine halbe Stunde. Eine Kerze somit fünf Stunden. Sie überlegt eine halbe Stunde und setzt dann um, was sie vor Kurzem in der Schule gelernt hat. Sie löst mehrere Kerzen in einem Topf auf und knüpft Dochte aneinander. Die Wachsmasse gießt sie in ein rechteckiges Gefäß, mehr ein Rohr, das sie irgendwo her besorgt hatte, und hält den Docht in der Mitte. „Die neue Kerze darf nicht zu dick werden, sonst geht sie aus“, erläuterte sie ihre Arbeit. Schließlich ist es so weit und das Zeitmessgerät wird entzündet. Stefan hat einen halben Zentimeter markiert. Die beiden zählen die Sekunden, indem sie sich abwechseln. Der halbe Zentimeter brennt zwei Stunden und zwanzig Minuten. Bei siebzehn Zentimeter Länge, etwa fünfundvierzig Stunden. Wir haben also unsere ungefähre Zeitmessung. Nachdem wir wissen, dass unser Aufenthalt länger sein wird, als uns lieb ist, ist Zeit jedoch nicht mehr so wichtig. Wir sichern unseren Alltag und das Überleben der Gruppe. Die anfängliche Platzangst ist durch den Gewöhnungsprozess gewichen. Strom und Wasser geben uns natürlich Sicherheit. Nach wenigen Wochen unterliegen wir einem gefügten Rhythmus, weil wir uns regelmäßig in der Gruppe beschäftigen, wobei wir die ganz kleinen bewusst einbeziehen.

„Meinst du, wir kommen hier noch einmal heraus?“

„Wir kommen hier raus. Verlass dich drauf, und je nachdem, wie und ob die uns da oben haben hängen lassen, ist der Teufel los. Das lass dir gesagt sein.“ An Tildes erschrockener Reaktion bemerke ich die Wut, die mein Gesicht verrät.

„Ob unseren Familien etwas passiert ist?“ Sie stellt die Frage bang, doch mit großer Ruhe.

„Ich weiß es nicht Tilde. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass meine Freunde und Nachbarn nicht nach uns suchen.“ Seit Tagen geistern die Gedanken in meinem Kopf und der furchtbare Verdacht nistet sich ein.

„Ob der Krieg wohl vorbei ist?“

„Ich denke nicht. In der Zeit, die wir hier unten sind, wird keine große Veränderung eingetreten sein. In spätestens ein paar Wochen sind wir hier heraus. Du wirst sehen und wenn ich uns selbst rausbuddeln muss.“ Ich stehe auf und recke mich. „Die Kinder schlafen. Ich gehe unter die Brause.“

Das Wasser wird elektrisch erhitzt. Wie?, verstehe ich nicht. Davon ließ ich auch die Finger. Strom war lebensgefährlich. Außer der Gemeinschaftsbrause gibt es einzelne Zellen, die alleine genutzt werden können.

Ich werde die Gegenwartsform aufgeben, weil ich sowieso nur in stillen Stunden schreibe und im Nachhinein. Die Niederschrift gelingt mir besser, wenn ich den Abstand zu mir schaffe. Übrigens, mein Name ist Klaus Heinen.

Ich erleichtere mich, bevor ich brause. (Da ist es wieder. Jetzt jedoch anders.) Das war auch eine Errungenschaft, von der ich bisher nur gehört hatte. Ein Wasserklo. In meinem Dorf gingen die Notdurft und alles andere in Sickergruben, die im Herbst ausgehoben und auf die Felder verstreut wurden. Anfangs betätigte ich immer wieder die Kette und ließ den Behälter oberhalb des Klos wieder volllaufen, um ihn erneut zu entleeren. Ich hatte Spaß, wie ein Kind. In diesem Keller gab es tatsächlich Klopapier. Zu Hause musste die Zeitung, der Waschlappen oder auch nichts her halten. Zunächst wussten wir nicht, was wir mit diesen komischen Papierrollen anfangen sollten. Bis Friedrich Heinen, ein Sechsjähriger uns zeigte, was wir damit machen konnten. Er war vor Kurzem mit seinen Eltern in Frankfurt bei Verwandten, die Klopapier benutzen. Ich war kaum jemals aus dem Dorf herausgekommen und das neue Spielzeug war neu und willkommen.

Ich stand unter der Brause und seifte mich ein. Ein Brausebad kannte ich ebenso wenig, wie das Wasserklo und genoss die warmen Strahlen von oben. In meiner Familie – auch später, als ich alleine war - wuschen wir uns jeden Tag gründlich mit kaltem Wasser und am Samstag wurde in der Zinkwanne warm gebadet. Der jetzige Luxus, zig Meter unter der Erde, war unvorstellbar. Der Genuss erzeugte ein unbeschreibliches Gefühl. Warmes Wasser ohne Ende. Zu diesem Zeitpunkt machte ich mir noch keine Gedanken über die Technik, die das möglich machte.

Das Geräusch tappender Füße ließ mich aufsehen. Tilde betrat die Brause. Nackt, wie ich, stand sie abwartend im Eingang und beobachtete mich.

Seltsam. In dieser Hinsicht, also als Frau, hatte ich sie während der Zeit, die wir bisher hier verbrachten, nicht wahrgenommen. Klar, sie war eine Frau. Aber eine verheiratete Frau. Nie hatte ich das Gefühl, dass sie mich begehrte. Ihre Nacktheit verstärkte den Eindruck der Erdverbundenheit. Stämmige Beine und Schenkel bildeten ein kräftiges, dicht behaartes Dreieck in der Leistengegend. Der Bauch war flach und die Muskeln angespannt. Ihre Arme hingen locker herunter. Dazwischen reckten sich auf einen mittelgroßen Busen, die Warzen in die Höhe. Das Gesicht trug den normalen freundlichen Ausdruck. Nur die Augen zeigten Anspannung und waren intensiv auf mich gerichtet. Die Einfachheit ihrer Haltung strahlte mehr Sexualität aus, als, wenn sie mich umgarnt hätte. Ich musste nicht an mir heruntersehen, um zu wissen, dass mein Glied erigiert war. Meine Gedanken beschäftigten sich auch nicht mit dem Altersunterschied, der fast dreißig Jahre betrug. Langsam kam sie auf mich zu, nicht aufreizend, sondern irgendwie selbstverständlich und legte die Arme um mich. Wir küssten und liebten uns, wie ein Ehepaar, das schon viele solche Situationen erlebt hatte. Ohne Hast nahmen wir die Vereinigung vor und explodierten in einem unvergleichlichen gemeinsamen Orgasmus. Ohne Worte seiften wir uns gegenseitig ein und suchten ein Nachtlager weit abseits der Kinder. Diese dürre trockene Beschreibung gibt nicht die Gefühle wieder, die wir empfanden. Übrigens: Sie hatte die Hochzeitsnacht vollzogen … wenn ihre Jungfernschaft nicht schon vorher verloren ging.

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Die vergessenen Kinder

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