Читать книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo - Страница 12
8
ОглавлениеRakel wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren.
Jetzt lagen Tora und sie jedenfalls in dem großen Hotelbett. Die Dunkelheit hatte sich wie eine nasse Plane über sie ausgebreitet. Toras Geschichte hatte sie beide so eng miteinander verbunden, dass sie wohl nie mehr voneinander loskommen würden. Es war eine Geschichte, wie Rakel sie noch nie gehört hatte. Nicht in den Fischerhäusern, nicht auf der Straße, und auch in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie würde sie bestimmt niemandem erzählen. Die Geschichte war jetzt zu ihrer Last geworden. Weil Tora überleben musste. Das sah Rakel deutlich.
Als sie auf dem Fußboden saßen, war die Wirklichkeit mehr gewesen, als Rakels Verstand fassen konnte, auch wenn sie ihr als Gleichnis von einem Vogeljungen präsentiert wurde. Rakel brachte es bis zu einem gewissen Grad fertig, den nächsten Tag zu verdrängen. Die Gesichter, denen sie begegnen musste. Die Situationen, die sie auf die Probe stellen würden – jeden Tag.
Sie sah auf das schlafende Mädchen neben sich im Bett und gestand sich ein, dass sie den Gedanken nicht denken konnte: Henrik! Ein jammervolles Gefühl, Tora nicht erlösen zu können. Alles ungeschehen zu machen.
Tora hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie glich der Großmutter, als diese im Sterben lag. Die gleiche straffe Haut über den Backenknochen. Aber es zuckte und lebte in dem Gesicht und im ganzen Körper. Sie kämpfte. Wollte nicht aufgeben. Tief im Schlaf befangen.
Während Rakel das Gesicht auf dem Kissen betrachtete, überfiel sie ein so leidenschaftlicher Hass, dass er das Mitleid für Tora erstickte. Jeden vernünftigen Gedanken erstickte. Sie nahm den Hass auf sich. Spürte, wie stark sie davon wurde. Ingrid würde die Wahrheit nie überleben – und »Henrik konnte nicht sterben«. Tora hatte recht. Er war verflucht, er hatte sich in eine Situation gebracht, in der es ihm nicht vergönnt war zu sterben. Sonst wäre er ertrunken oder vor langer Zeit vom Blitz erschlagen worden! Rakel gelobte, dass sie die Rechnung für alles begleichen würde, was der Herrgott versäumt hatte. Dafür war sie geboren worden.
Dieses Kind zu beschützen, dem das Leben gerade die Haut abzuziehen versuchte. Gott mochte ihnen allen helfen. Sie hatte es noch nicht klar vor Augen, wie sie das schaffen würde. Aber schaffen würde sie es.
Und mit diesem Gedanken glitt sie in einen leichten Schlaf.
Im Halbschlaf tasteten sie nacheinander. Die eine hatte jemanden bekommen, mit dem sie ihre Angst teilen konnte. Tora bekam eine Hälfte ihres Ichs zurück. Eine leere Hälfte, um alle Dinge darauf aufzubauen. Sie fing an zu träumen.
Rakel und sie ruderten im Sturm. Sie waren seekrank. Erbrachen sich über das ganze Boot, das gleichzeitig das Bett war. Aber dann wurde das Meer außerhalb des Lichtkegels der Lampe ruhig, dort, wo das Meer sonst tobte, und die Bucht machte eine Biegung und verschwand hinter der Landzunge. Sie lagen im Wasser und planschten und wuschen sich rein. Schwammen nur im Sonnenschein. Das tat so gut. Sie spürte, wie der ganze Körper sich dort im Wasser ausruhte.
Aber Rakel hatte die Hälfte der Angst bekommen, die sie nicht zu tragen gewohnt war. Sie war anders als die Angst vor Krebs oder Brand. Sie hatte jetzt die Verantwortung für Tora, deren Kopf sich zu verwirren drohte. Rakel sah das Grab oben in der Geröllhalde vor sich. Sie mussten beide dorthin. Sie dachte an all die Monate, in denen Tora mit dieser Sache allein gewesen war. Monate? Sie maß die Dunkelheit mit den Augen. Ob es wohl mehr als nur Monate gewesen waren? Ob es sich über einen langen Zeitraum erstreckt hatte? Übelkeit breitete sich aus. Kochte hoch. Sie musste sich im Bett aufsetzen, um den Mageninhalt bei sich zu behalten. Wand sich behutsam aus den dünnen Mädchenarmen. Blieb lange sitzen, ließ die Beine über die Bettkante hängen. Den Kopf nach unten, das rote Haar glühte, ohne dass jemand es sah. Dann beschwor sie den Hass herauf, um sich zu schützen. Bitter und gut. Sie würde ihn schon erledigen. Ihn erledigen. Ihn erledigen! Und wenn sie Jahre dafür brauchen sollte!
Es rührte sich neben ihr. »Schläfste nich, Tora?«
»Nein.«
»Denkste an alles, was du mir gesagt hast?«
»Ja.«
»Das darfste nich. Ich hab’s auf mich genommen. Es ist meine Angelegenheit. Und es bleibt unter uns. Wenn du glaubst, dass ich zu irgendwem hinlauf, damit der Henrik hinter Schloss und Riegel kommt, dann kann ich dir nur sagen, dass ich das nich tu. Ingrid würde mit demselben Boot untergehn, fürcht ich … Das haste auch gedacht, was, Tora?«
»Ja.«
»Wir werden jetzt Pläne machen, du und ich. Du musst mir vertrauen, und du musst darauf vertraun, dass das, was ich sag, richtig für dich ist. Glaubste, dass du das schaffst, Tora?«
»Ja, Tante Rakel.«
Die Stimme war ein leises Schwirren, wie wenn man Zucker auf eine Scheibe Brot streut. Sie hatte die Erlaubnis, ganz klein zu sein in Tante Rakels Bett. Die Dunkelheit war außerhalb des Bettes und schloss sie gemeinsam ein. Tora legte den geschundenen Körper und den leeren Kopf ganz nah an Rakels Körper. Sie wurde aufgefangen als das Bündel, das sie war. Der Tante Stimme rieselte auf sie wie lauwarmes Wasser. Sie war noch nie in ihrem Leben so erleichtert gewesen. Und sie hatte den flüchtigen Gedanken, dass, wenn man nicht wusste, wie es war, durch die Glut zu waten, man vielleicht auch nicht wusste, was Linderung war.
Rakel knipste die Nachttischlampe an. Dann holte sie am Waschbecken ein Handtuch und trocknete ihre Gesichter ab. Behutsam und gründlich. Nahm sich Zeit. Legte die Steppdecke gut um sie beide und sagte: »Du brauchst ein andres Zimmer. Das ist mal das Erste.«
»Warum denn?«
»Weil das Zimmer das ungemütlichste ist, das ich je gesehn hab. Allein die Tapete ist so, dass man am liebsten gegen die Wand rennen möchte. Da kannste nich bleiben.«
Sie sagte nicht: Dort ist es passiert.
»Aber Frau Karlsen?«, murmelte Tora.
»Sie kann ja an andre vermieten. Komm mir doch nicht mit solchen Fragen. Wir brauchen uns um die Frau Karlsen keine Sorgen zu machen!«
»Nein …«
»Glaubste, dass du’s schaffst, nach Ostern wieder in die Schule zu gehn?«
»Ja, ich geh schon über eine Woche wieder in die Schule. Es ist lang her, dass ich … krank war …«
»Wie ging’s … wie haste dich gefühlt? Ich mein – hattest du irgendwo Schmerzen, nachdem … nach allem, was geschehn ist?« Rakel sah Tora hilflos an.
Tora schlug die Augen nieder. Es tropfte und lief unter den Wimpern hervor. Unablässig.
»Ja. Aber jetzt ist’s vorüber. Ich blute nur noch. Das war anfangs am schlimmsten. Hier auch. Es hat so gedrückt.«
Sie machte eine schnelle Bewegung über die Brüste. Rakel reichte ihr das Handtuch. Sie trocknete sich das Gesicht ab. Dann waren sie eine Weile still. Aber sie waren die ganze Zeit mit den Gedanken beieinander. Irgendwo im Haus schlug eine Uhr fünf schwere Schläge. Das Licht kroch unmerklich zu ihnen herein.
»Wir tragen jede unseren Teil zu dieser Arbeit hier bei, Tora. Ich werd alles, was nötig ist, auf der Insel in Ordnung bringen, bei deiner Mutter. Ich verschaff dir ein andres Zimmer. Und du versuchst, dein eignes Leben zu leben, als ob nichts geschehn wäre. Verstehste? Nichts ist geschehn. Für alles hab ich jetzt die Verantwortung. Genauso wie es vorher seine Verantwortung war. Gott helfe ihm!«, murmelte sie.
»Aber, Tante Rakel?«
»Ja?«
»Ich fühl mich so kaputt. Wie tot.«
»Das musste in dich hineinfressen. Bissen für Bissen. Nich du bist kaputt, mein Kind. Er ist kaputt. Es ist seine Schande. Nich deine! Hörst du? Nicht deine! Sag dir jeden Tag: Es ist nich meine Schande. Du wirst sehn, es kann zu einem Segen werden, auch wenn wir’s jetzt noch nich erkennen können.«
Tora hörte Rakels Worte wie von der Kanzel in der Kirche. Die energische Pastorenstimme der Tante über allen Bankreihen, zwischen allen Kronleuchtern: »Es ist seine Schande, nich deine. Nich deine! Es kann zu einem Segen werden … Segen. Segen.«
Sie saßen eine Weile schweigend da.
»Weißte, Tora, ich glaub, ich hab noch nie jemand so bewundert, wie ich dich bewundre. Du hast für die ganze Familie was geleistet. Für deine Mutter, für mich, für Simon. Ganz allein. Ich kenn keinen Menschen, der eine so große Leistung vollbracht hat. Du musst nun auch noch den Rest schaffen. Das musste einfach um deinetwillen. Für dein eigenes Leben. Dein Körper gehört dir. Deshalb musste da durch.«
Tora saß mit gesenktem Blick da.
Sie hatte aufgehört, von dem Vogeljungen zu reden. Rakel merkte, dass die wenigen Worte, die sie sagte, normal klangen. Eine Erleichterung, an die sie sich klammerte. Rakel sandte ein drohendes Gebet nach oben. Stumm. Mit trotzigen Augen: »Lieber Gott, lass ihren Verstand keinen Schaden genommen haben, sonst weiß ich nich, was ich tu. Ich wetze alle Schlachtmesser in Bekkejordet und geh los auf diesen Teufel von Mann. Hörst du, Gott?«
Sie beschwor den Herrn zu erscheinen. Dort im Bett bei ihnen. Der Mund stand halb offen, und die Gedanken lagen wie Stacheldraht in ihrem Kopf. Wenn sie in die Welt gesetzt worden war, um zu hassen, dann war es jetzt Zeit, den Hass hervorzuholen.