Читать книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo - Страница 5
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ОглавлениеEs schneite in Breiland. Große flauschige Flocken blieben wie frisch geschorene nasse Wolle überall liegen. Einige unsichere Fußspuren von dem steinigen Hang bis zu den ersten Häusern mussten versteckt werden. Sie mussten vor Elisifs Gott versteckt werden. Der war zwar weit weg und hatte sich mit so vielem herumzuschlagen, und bisher hatte er kein besonderes Interesse an Fußspuren gezeigt, aber man konnte nie wissen. Deshalb – und nur deshalb schneite es stark und anhaltend. Weiche dichte Flocken, die auf dem warmen Gesicht zerflossen. Ein mildes dampfendes Tauwetter umgab sie und ließ die Eiszapfen in den roten Haaren schmelzen, drehte feuchte Locken um einen unsichtbaren Finger.
Irgendwo ließ sie sich zum Ausruhen auf die Knie sinken. Ihre roten, geschwollenen Hände steckten in dem Schneehaufen. Sie hatte sie noch nie gesehen. Wie ein Messerstich traf sie die Erinnerung, dass sie die Handschuhe oben am Hang vergessen hatte. Oder auf dem Weg verloren? Sie beruhigte sich, so wie es Tante Rakel machte, wenn etwas passiert war: »Das ist nicht schlimm, Tora. Niemand weiß, dass es deine Handschuhe sind!«
In dem leeren Rucksack schlug der hölzerne Schöpflöffel hin und her, als sie dann weiterging. Er jammerte und jammerte. Dass er nie Steine und Erde gegraben habe, und er leugnete, ihr jemals geholfen zu haben. Und Tora bat ihn stumm, sich ruhig zu verhalten. Denn irgendwer könnte seine Behauptungen doch hören.
»Es schneit. Alles ist jetzt vorbei.«
Trotzdem verstärkte sich das Geräusch des Holzes gegen das Segeltuch, bis von überallher ein Echo kam. Sie kniete abermals nieder, damit es Frieden gäbe. Schloss die Augen und war in sich selbst versunken.
Als sie wieder aufschaute, war das Moor voller Gänseblümchen. Mit gelben Köpfen in der Mitte. Staubgefäße im schwachen Wind. Das ganze Moor wogte. Das Licht aus den Häusern lag ruhig über dem Ganzen. Sie spürte, dass sich etwas im Mund und in den Nasenlöchern sammelte. Aber es wollte nicht heraus. Der Löffel war jetzt still. Eine gewisse Freude stach ein Loch nach dem anderen in sie hinein. Alles war vorüber. Und sie lebte noch!
Während sie durch ein Meer von Gänseblümchen wanderte, begriff sie, dass sie nicht in ihrem Körper war. Sie hörte keinen Laut, spürte nicht, dass die Füße auf der Straße gingen. Der Himmel wölbte sich mächtig und weiß über ihr. Der Rauch aus den Schornsteinen malte grobe Zeichen in das viele Weiß.
Bald standen die Torpfosten zu beiden Seiten der Straße. Ein paarmal sah sie menschliche Gestalten weiter vorn. Sie verschwanden, ehe sie sie erreichte. Sie wäre am liebsten losgerannt. Aber sie hatte blutverkrustete Einlagen zwischen den Beinen, auch wenn sie nichts davon merkte. Hatte gelernt, dass Dinge eben da sind, auch wenn man sie nicht spürt.
Sie bog automatisch ein, als sie zu Frau Karlsens Haus kam. Sie war auf das Schlimmste gefasst: Frau Karlsen stand auf der Treppe, schloss die Haustür ab und drehte ihr in dem braunen Mantel den Rücken zu. Sie ließ die Arme entsetzlich langsam am Körper herabsinken, die braune Handtasche in der rechten Hand. Die Tasche baumelte wie ein Pendel, während sie sich zu Tora umwandte.
Ein überraschtes Lächeln ließ das blutleere Gesicht aufleuchten, als sie Tora erblickte.
»Ach, du warst fort? Ja, ich hab wohl gemerkt, dass du nicht da warst, weil du auf mein Klopfen nicht geantwortet hast. Wollte dich zu Tee und Kuchen einladen. Ich hab den Eindruck, dass du’s mit dem Essen nicht so genau nimmst. Du gehst ohne Mütze? Bei dem Wetter! Meine Liebe, du musst ein bisschen besser auf dich aufpassen. Na ja, es geht mich ja eigentlich nichts an.«
Sie machte eine Handbewegung zu dem Schneewetter hin und seufzte tief, beinahe entzückt. Dann zog sie langsam ihre Handschuhe an.
»Alles ist fertig für die Beerdigung. Es wird eine schöne Beerdigung, davon bin ich überzeugt. Eine richtige Feierstunde für uns alle. Du musst auf jeden Fall runterkommen.«
Sie bürstete ein wenig Schnee von dem Mantelsaum, der an dem verschneiten Treppengeländer vorbeigestrichen war. Dann floss sie unendlich langsam durch Tora hindurch und verschwand in der Blumenwiese. Tora kam es vor, als ob eine Tür geöffnet würde und der Blumenduft zu ihr hereinströmte, als Frau Karlsen hindurchstrich.
Sie hatte Frau Karlsen bestimmt noch nie vorher gesehen. Sie bekam direkt Lust, ihr hinterherzulaufen und sich ein bisschen zu wärmen. Aber sie rettete sich in ihr eigenes Elend und lief nirgendwohin. Mühsam stieg sie die Treppen hoch. Sie wusste, dass der Spiegel da hing und ihr alles enthüllen würde, falls sie sich umdrehte.
Während sie in der Tasche nach dem Schlüssel suchte, verschwand alles, was gewesen war. Die Menschen, die Blumenwiese, das Bündel in der Geröllhalde, der Löffel. Es blieb bei der Tür stehen und kam nicht weiter.
Weil sie es nicht mitnehmen wollte.
Es war ineinander verstrickt. Alles. Wenn sie das eine ablehnte, würde sie auch das andere ablehnen. Sie konnte nicht einfach das Schlimmste abwählen.
Der Hahn über dem Ausguss im Flur tropfte stetig. Sie wankte dorthin. Die solide Brandmauer, an der man den Ausguss befestigt hatte, war warm. Sie legte beide Hände und die Stirn dagegen. Blieb vornübergebeugt stehen. Dann trank sie langsam von dem herben Wasser. Sah, wie es durch die Löcher verschwand. Das moorhaltige Wasser hatte ekelhafte braune Flecken in dem emaillierten Becken hinterlassen. Ein ewiger Schlund nach unten. Der alles, was sie nicht schlucken konnte, hinaus ins Meer schickte.
Als sie den Hahn zudrehte, floss sie fort. Hielt sich an der widerlichen Gummikante des Beckens fest. Aber das nützte nichts. Sie wurde in den Schlund gezogen. Dicke schwarze Tropfen trafen sie in den Nacken und drückten sie hinunter. Schließlich lag sie am Rand eines der Löcher und konnte sich nicht mehr festhalten. Die Rohre waren viel weiter, als sie gedacht hatte. Sie fiel und fiel. Schwerelos wie eine Schneeflocke. Es war feucht und warm in der Kloake. Beinahe sicher. Sie ließ sich los. War gewiss auf dem Weg zum Meer. Es spielte irgendwie keine Rolle mehr. Sie fiel und floss.
Der Raum zeichnete sich ab, als sie in der Türöffnung stand. Die Fensterkreuze teilten den Fußboden in acht graue Vierecke, obwohl die Vorhänge zugezogen waren. Es war fast dunkel hier drinnen. Nur die Lichter von der Straße drangen durch die verschneiten Fenster. Sie öffnete die Ofentür, bevor sie das Licht einschaltete. Es war noch Glut im Ofen. Keine Spur von der blutigen Wachstuchdecke.
Tora begriff, dass sie sich mit den Dingen anfreunden musste, um alles zuzudecken. Sie hatte sich bei dem Ausguss mit einem Geschmack nach Blei und Kloake im Mund wiedergefunden. Es war noch nicht Schluss.
Sie tastete nach dem Schalter neben der Tür. Kaltes Licht flammte auf. Wie ein Urteil. Blutflecken auf dem Boden? Sie hatte doch geputzt, ehe sie weggegangen war. Warum hatte sie sie nicht gesehen? Sie kamen ihr entgegen. Direkt vom Boden herauf. Saugten sich fest in den Augen, so dass sie wie geblendet war. Sie fand draußen im Gang einen Putzlappen und wischte die Flecken weg. Spülte den Putzlappen in dem eiskalten Wasser im Ausguss gut aus und hängte ihn wieder auf. Niemand sollte merken, dass sie ihn benutzt hatte.
Dann zog sie vorsichtig die Jalousien herunter. Der Raum wurde gelb, wie gewöhnlich. Es war jedes Mal so, wenn sie die Jalousien herunterzog. Jetzt fand sie einen gewissen Trost darin.
Sie schloss die Tür zu und zog sich langsam aus. Die Mütze und der Schal, die sie sich in den Schritt gelegt hatte, zeigten alle nur möglichen Schattierungen in Rot. Sie stand zögernd damit vor der offenen Ofentür. Dann legte sie sie schnell in die Flammen. Das Feuer kam gleichsam aus dem Ofen heraus und über sie. Brannte ihr im Gesicht, wurde in ihren Kopf hineingesaugt. Der Kopf weitete sich zu einem Ballon und schwamm im Zimmer herum, mit allem in sich.
Und alles war in dem gelben Licht. Das sich immer im Kreis bewegte.
Tora legte sich ins Bett und dachte an Frau Karlsens Mann, der tot war. Er lag steif und still in dem Altersheim, in dem er mehrere Jahre gewohnt hatte. Er hätte der alte Vater von Frau Karlsen sein können, dachte Tora. Oder – vielleicht war es das offene Grab, das sie so erschreckt hatte, dass sie nicht gewagt hatte, die Leiter hinunterzusteigen und das kleine Loch zu graben, um das Bündel zu verstecken?
Das Bündel? Das Vogeljunge? Das aus ihr herausgeglitten war, als sie auf der Wachstuchdecke vor dem Bett lag und sich in Stücke reißen ließ. Aber das Bett hatte sie gerettet. Es war genauso sauber und ordentlich, wie es immer gewesen war. Und die alte Wachstuchdecke existierte nicht mehr. Die Flammen hatten sie verzehrt. Sie hatte im Bauch des Ofens gejammert, lange.
Das Grab – oder Frau Karlsens Mann – hatte sie gezwungen, das kleine Bündel in die Geröllhalde zu legen und Steine darüber zu rollen. Und sie hatte vergessen, die Leiter wieder an ihren Platz zu hängen! Hatte solche Angst vor dem offenen Grab gehabt.
Der Totengräber von Breiland watete bis zu den Waden im nassen Schnee und sah so aus, als ob er wenig von den Sommerplänen des Herrn begriff. Vermutlich hatte er Regen erwartet, denn er hatte das frisch ausgehobene Direktoren-Grab nicht zugedeckt. Und jetzt konnte man sich gut vorstellen, dass der Schnee da unten in der Tiefe einen ruhigen Platz gefunden hatte. Ansonsten hatten sich die Leute angestrengt, an diesem verflixt kalten Ende eines langen Winters am Leben zu bleiben.
So eine Idee konnte auch nur ein Totengräber an einem solchen Außenposten haben, dass nämlich der Frühling zeitig kommen würde. Aber das Leben war nicht immer einfach. Er blieb stehen und betrachtete die alten Haken an der weißen Wand des Geräteschuppens. Leer. Die Leiter war weg! So weit entfernt von Haus und Hof brauchte doch wohl kein Mensch eine Leiter?
Der Totengräber starrte den Neuschnee an, als ob er glaubte, dass die Leiter über den Boden geflogen sei, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er war kein ängstlicher Mann – bei Tageslicht. Und so viel wussten alle: dass es einer Leiter unmöglich war, sich von allein zu bewegen! Er wischte sich übers Kinn und schüttelte seinen wuchtigen, windgepeitschten Körper. Eine Bewegung, die eine Art verwirrte Einsamkeit widerspiegelte.
Dann ließ er den Blick über den Friedhof schweifen. Als ob er den Wind für den Entführer hielte. Blinzelnde Augen in dem leicht nebligen Licht. Zögernd ging er zu dem offenen Grab, als sein Fuß auf einmal gegen etwas Hartes und Unfreundliches stieß, das ihn beinahe zu Fall gebracht hätte. Er heftete schließlich den Blick auf die quadratischen Erhöhungen unter ihm im Neuschnee. Die Leiter. Er trat dagegen, so dass die Eiskruste abfiel und das weiße Holz zum Vorschein kam. Er lud sich die Leiter auf die Schulter und schielte stirnrunzelnd in das Grab, als ob er zu sich selbst sagte: »Dieser Bursche geht da nicht hinunter, und wenn es bis zum Rand hinauf schneit. Es bleibt allemal Platz für einen abgemagerten Alten und seinen Sarg.«
Der Totengräber hängte die Leiter an ihren Platz und schob sich einen Priem unter die Oberlippe. Dann trottete er zum Gemeindehaus und in die Kaffeestube. Die Männer bekamen die Geschichte von der Leiter erzählt. Sie wechselten Blicke und sagten nichts. Sie hatten schon häufiger vom Totengräber Gespenstergeschichten gehört. Wussten, wie sehr sie ihn durch höhnische Worte verletzen konnten, deshalb schwiegen sie. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um einen windschiefen alten Totengräber zu demütigen. Zwei Zwangsauktionen standen bevor, außerdem waren Milch und Butter teurer geworden. Zehn Öre pro Liter und eine Krone und fünfundzwanzig Öre pro Kilo.
Von nun an würde er sein Brot ohne Butter und Milch herunterwürgen müssen, bei dem Lohn, den so ein armer Kerl bekam. Allein davon konnte man schon eine Gänsehaut kriegen.