Читать книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo - Страница 7

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Tora ging nach der Schule in den Supermarkt und kaufte zwei Pakete Binden. Sie steckte sie schnell in das Plastiknetz zu den Schulbüchern. Erst als sie auf dem Weg nach draußen war, fiel ihr ein, dass sie sich etwas zu essen hätte kaufen sollen. Aber sie konnte einfach nicht noch einmal hineingehen. Es roch da drinnen so stark nach Fleisch.

Den ganzen Tag hatte sie durch die Menschen hindurchgesehen. Sie lösten sich vor ihr auf.

Jeder hatte seinen Lichtschimmer. Meistens in bläulichen Nuancen. Aber auch in roten und gelben. Besonders um die Köpfe. Das machte sie unnahbar und unwirklich. Tora hielt sie von sich fern. Einmal strich Jon im Korridor an ihr vorbei. Er hatte ein weißes Licht um sich. Sie fühlte sich verschwitzt und schmutzig. Er hob eine Hand, als ob er sie anfassen wollte. Sie floh hinter die Toilettentür.

Sie fühlte wieder so etwas wie Einsamkeit. Saß dort, bis es zur Stunde schellte.

Alle standen in Gruppen oder zu zweit da. Ein paarmal streifte sie der Gedanke, dass sie nur in irgendeinen Kreis hineinzugehen und so zu tun brauchte, als ob sie dazugehörte. Aber es wurde nichts daraus.

In den beiden ersten Stunden war es ganz gut gegangen. Sie hatte die Entschuldigung abgeliefert. Die Pausen waren schlimmer. Meistens hielt sie sich auf der Toilette auf. Hoffte, der aufsichtführende Lehrer würde nicht merken, dass sie immer von dort kam, wenn es klingelte.

Frau Ring, die sie in Englisch hatten, kommentierte laut, dass sie noch nicht gesund aussehe. Ob sie nicht zu früh aufgestanden sei? Und das Licht um Frau Rings Kopf explodierte. Frau Ring fragte vorsichtig, ob sie Aufgaben gemacht habe, ob jemand mit den Aufgaben bei ihr gewesen sei.

Tora räusperte sich und sagte, dass sie ab den Aufgaben für Samstag drei Seiten weiter gelernt habe. Sie wurde starke Verben abgefragt. Konnte antworten. War froh, dass sie irgendwie mit dabei war.

»Danke!«, sagte Frau Ring und machte hinter Toras Namen ein Zeichen.

Die Wände beugten sich über Tora. Lange. Als sie aufsah, war sie nicht mehr im Kreis. Ihre Minute war vorüber. Alle Blicke hafteten an dem, der jetzt abgefragt wurde.

Da entdeckte sie es: dass die Telefondrähte, die von der Hauswand zu dem Pfosten bei der Eingangspforte führten, voller Spatzen waren. Spatzen! Winzig kleine Vögel, die zurückgekommen waren. Warum? Wozu kamen sie? Wussten sie nicht, was für ein Leben Vogeljunge heutzutage zu erwarten hatten? Und das Licht um Frau Rings Kopf wurde zu einem kleinen roten Nest aus Handtüchern, in dem ein bläulicher kleiner Vogel saß. Er pfiff ein bisschen heiser. Als ob er nicht genug Luft bekäme.

Tora dachte nicht an die englischen Verben.

Die Stimmen kamen und gingen, sie sah die Münder sich wie in einer Welle bewegen. Sie fing bei Frau Ring an und pflanzte sich durch die ganze Klasse fort. Aber sie konnte nicht hören, was gesagt wurde. Sie dachte an Frits. Er hörte auch nichts. Zum ersten Mal verstand sie, wie das war. Die Kugellampen schwankten leicht über ihrem Kopf. Im Takt, als ob jemand sie in Bewegung gesetzt hätte. Anne drehte sich zu ihr um, öffnete den Mund, und es wogte und wogte. Und es galt nicht ihr. Sie hatten alle ihr Licht, ihre Wellen.

Es war die letzte Stunde. Die Augen: Sandpapier auf einer Wunde. Sie trödelte lange, nachdem es geklingelt hatte. Wartete, bis alle gegangen waren. Als sie nach draußen an die Luft kam, hatte sie das Gefühl, tagelang die Treppen im Tausendheim geputzt zu haben, während die Haustür zu dem eiskalten Schnee hin offen stand, und hinter jeder Schmutzspur, die sie weggeputzt hatte, wurde neuer Schmutz gemacht.

Sie war in ihr Zimmer gegangen, hatte sich angezogen hingelegt und war eingeschlafen. Um vier Uhr kam Frau Karlsen in einem neuen schwarzen Kleid herauf und lud sie zum Kaffee ein. Tora hatte die Tür nicht abgeschlossen. Sie schaute schnell an sich hinunter, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war, bevor sie Frau Karlsen bat hereinzukommen. Ob sie noch nicht gesund sei? Frau Karlsens Stimme klang aufgesetzt teilnahmsvoll. Ob sie ein paar Schnittchen nach oben haben wolle? Tora zwang sich zu antworten. Sie setzte sich auf und klagte, dass sie sich noch ziemlich elend fühle. Frau Karlsen möge bitte entschuldigen, aber sie könne nicht nach unten kommen …

Eine fremde Frau mit einem harten, stechenden Blick kam mit einem Tablett. Sie war in Schwarz, wie Frau Karlsen, und trug um beide Handgelenke schwere Armbänder. Sie sagte »Bitte« und »Lass dir’s gut schmecken« und versuchte ein paar Worte mit Tora zu wechseln, während ihre Augen wie Motten umherschwirrten – Tora erkannte ihre Stimme wieder. Sie hatte sie durch die Wand gehört. Sie glich einer der bösen Gestalten aus Alice im Wunderland. Oder war sie eine der Figuren, die auf den Spielkarten abgebildet waren?

Tora aß.

Noch hatte sie Ingrids Brief nicht geöffnet. Sie fasste den Entschluss, nie mehr auf die Insel zurückzukehren. Kaute die sorgfältig zurechtgeschnittenen Brote und dachte immer wieder daran.

Dann setzte sie sich an den Tisch und holte die Bücher hervor. Brauchte viel Zeit. Es flimmerte und barst vor ihren Augen. Ingrids Brief wuchs aus der Tischschublade und klebte sich an alles, was sie in die Hand nahm. Schließlich zog sie ihn langsam heraus und schlitzte ihn mit einer Stricknadel auf.

Ingrid schrieb vom Wetter. Vom Ausbleiben der Fische, so dass sie ohne Verdienst sei und Tora ein wenig auf das Geld warten müsse, das sie zum Leben brauche. Eine Woche? Die Buchstaben kamen ihr entgegen wie einsame blaue Spuren im Schnee. Kreisten um ihre Arme. Sie baten Tora zu sparen, so dass sie jedenfalls Ostern nach Hause kommen könne. Die Buchstaben schwebten um ihre schmerzenden Schultern, die sie bis zu den Ohren hinaufgezogen hatte. Sie musste den Kopf schützen. Warum las sie diesen Brief? Er hatte nichts mit ihr zu tun. Sie konnte und wollte diese Ingrid nicht erreichen.

Tora wechselte die Binde und lernte Geschichte.

Gegen Abend stiegen sie in Grüppchen die Treppe herauf, klapperten mit den Kofferdeckeln und raschelten in ihren Zimmern mit irgendwelchen Sachen. Sie war sich nicht ganz sicher, wie Frau Karlsen alles überstanden hatte. Sie hörte sie nicht, zunächst. Ein ungutes Gefühl beschlich Tora. Trugen sie nicht schwere Gegenstände durch die Halle? Schleppten sie nicht etwas hinter sich her? Überall war Durcheinander, und endlich hörte Tora Frau Karlsens erregte Stimme, die »gute Fahrt« wünschte. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und die letzten Gäste verschwanden wie unwillige Krebse die Treppe hinunter und in ihren Autos. Kurz darauf hörte sie jemanden pfeifen, Love me tender, love me true. Es war Frau Karlsen.

Sie stand auf dem Gipfel des Veten und stürzte den Berg hinunter. Sie sah sich selbst in der Geröllhalde liegen. Nein, es war Almar! Ganz zerschlagen. Sie näherte sich ihm sehr schnell, und gerade als sie auf die großen grauen Steine stieß, sah sie das Vogeljunge. Jemand hatte es ausgegraben.

Sie kämpfte eine Weile mit der Decke, ehe sie ganz wach wurde. Dann ging sie zum Fenster, das nur einen Spaltbreit offen war, und öffnete es weit gegen die dunkle Nacht. Die Luft kam wie ein Schmerz auf sie zu. Eine Erinnerung an etwas, das sie früher empfunden hatte.

Allmählich wurde sie ruhig. Und die Wiese mit den Gänseblümchen wuchs vertrauensvoll bis hinauf an das Fensterbrett der ersten Etage. Sie nahm deutlich den Geruch wahr. Es tropfte gleichmäßig aus der Dachrinne.

Als sie sich wieder zum Raum umdrehte, sah sie direkt auf die Wand über dem Bett. Das abscheuliche Gemälde von dem Schiff im Sturm. Düstere Farben. Hässlich mit der polierten, verschönernden Gischt. Sie war augenblicklich beim Bett, nahm das Bild von der Wand, hielt es einen Moment vor dem Fenster hoch, bereit, es hinauszuwerfen. Sie stand ratlos vor dem offenen Fenster, das Gemälde über den Kopf haltend.

Es wurde ihr schwindlig vor Anstrengung. Die Arme sanken herunter.

Sie stellte das Bild mit der Vorderseite zur Wand draußen im Gang neben die Tür.

Sie hätte nach dem Vogeljungen in der Geröllhalde sehen sollen, aber es ging nicht. Denn da hätte sie alle Blumen zertreten müssen. Dass jemand das kleine Grab gefunden hatte, war wohl unmöglich. Der Löffel hatte gründliche Arbeit geleistet. Jedes Mal, wenn sie auf den Löffel schaute, der in der Schublade lag, war sie ihrer Sache sicher. Das Vogeljunge war gut verborgen. Niemand sollte es schänden können. Jedes Mal, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit durch den Himmel fiel und das offene kleine Grab sah, gelang es ihr, sich zu wecken, ehe es zu spät war.

Der Himmel war überall so offen. Das war ihr unangenehm. Die Luft war so klar. Alles war durchsichtig und lastete wie ein Druck auf ihr. Jede Nacht jagte sie über den Himmel und hinunter auf die Geröllhalde. Jede Nacht endete sie vor dem offenen Fenster. Der Abfluss war so groß. Während sie dahinraste, spürte sie den Wind auf der Haut. Im Gesicht. War leer wie ein flatterndes Kopfkissen auf der Leine im Wind.

Sie stand in Frau Karlsens Badewanne. Das Wasser strömte an ihr herunter. Warmes Wasser. Ihr schwindelte in endlosen Augenblicken.

Langsam seifte sie sich ein. Die Haare. Den Körper. Spülte sich ab und seifte sich erneut ein. Es war schon lange her, dass sie etwas als so wohltuend empfunden hatte. Man konnte sich darin ausruhen. Die Muskeln und die Haut bekamen wieder Leben. Unter dem Wasserstrahl. Sie wärmte sich. Erfrischte sich. Sie war sie selbst, so wie sie es vorher nie gewesen war.

Ein paarmal spürte sie den Boden unter sich weichen, wenn sie in das Loch sah, durch welches das Seifenwasser mächtig schäumend und ruckweise in den Abfluss gesaugt wurde. Rosa. Sie konnte sich nicht an das viele Blut gewöhnen. Einmal musste doch Schluss sein. Sie sollte sich doch wohl nicht zu Tode bluten.

Seifengeruch. Sie spülte die Haare, die sich spröde und sauber anfühlten, wenn sie mit den Fingern durchfuhr. Der Dampf stand wie eine Wolke vor dem kleinen halboffenen Fenster hoch oben an der Wand. Der Plastikvorhang mit seinen grellen violetten Blumen hing steif herunter. Alles war fremd, aber schön. Sie hatte das Gefühl, es vorher nie gesehen zu haben.

Sie trocknete sich sorgfältig ab. Zog frische Wäsche an. Ließ das weite Hemd über den Jeans hängen. Hatte eine richtige Binde im Schritt, als ob sie ganz normal ihre Tage hätte.

Sie riss das Fenster wegen des Dampfes weit auf, wagte aber nicht, die Tür zur Küche zu öffnen. Frau Karlsen war nur einkaufen gegangen, sie konnte jederzeit zurückkommen. Tora hatte die Erlaubnis zu baden. Trotzdem durfte Frau Karlsen sie nicht im Bad sehen. Es half auch nichts, dass sie angezogen war. Die Spuren könnten sie verraten. Unerwartet. Katastrophal. Nur ein winzig kleines Detail.

Das Mädchen von der Insel spürte die Blicke im Nacken – auf dem Schulhof, in den Fluren oder auf der Straße. Sie war nie gesprächig gewesen. Aber jetzt schien sie die Sprache vollkommen verloren zu haben. Nur wenn sie die Aufgaben abgefragt wurde, brachte sie eine Art an sich selbst gerichtetes Flüstern zustande. Eine Stimme, die so wenig benutzt wurde, dass sie immer von neuem versuchen musste, einen Klang zu finden. Die Sätze kamen direkt aus dem Buch, durch das Mädchen hindurch und in den Raum. Es war, als ob ein Tonbandgerät in ihrem Magen säße. Aber im Übrigen konnte man von ihr nichts hören.

Vor allem Anne versuchte, Kontakt zu ihr zu bekommen. Ob sie ins Kino gehen wollten? Ins Café? Tora hatte tausend Entschuldigungen. Man kam nicht an sie heran. Seit sie damals im Herbst ohnmächtig geworden war, war in den Augen der anderen etwas Geheimnisvolles an ihr hängen geblieben. Sie sprach nie über sich selbst. Die anderen wussten kaum, wo sie wohnte. Sie war glatt wie ein Aal. Saß an ihrem Tisch. Ging in den Pausen hinaus. Erhob sich auf Kommando wie ein Soldat und leierte ihre Aufgaben herunter. Schrieb, was ihr diktiert wurde. Alles gleichermaßen ausdruckslos, wie ein Roboter.

Der taube Himmel

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