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Prolog

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Es war ein schöner Sommermorgen. Noch lag das kleine Städtchen hoch oben auf dem Berg verträumt im Sonnenschein. Das normalerweise lebhafte Treiben in den Straßen und vor den Häusern hatte noch nicht begonnen. Lediglich in der Schmiede hörte man handwerkliches Arbeiten und mehrere laute Schläge des Schmiedehammers dröhnten über das Siegtal. Für den Sonntagmorgen war das äußerst ungewöhnlich.

„Hätte das denn nicht Zeit bis morgen gehabt?“, regte sich der Schmied auf.

Er hasste es, bereits kurz nach Sonnenaufgang sein Feuer mit dem Blasebalg zu entfachen, um für die Gerichtsbarkeit den Schmiedehammer zu schwingen. Und das an einem Sonntag, dem einzigen arbeitsfreien Tag der Woche. Demzufolge schlecht war seine Laune, zumal er für seine Arbeit kaum das angemessene Salär erwarten durfte.

Durch das lodernde Feuer war es in der Schmiede heiß und stickig. Den Oberkörper des Schmieds umspannte nur eine ärmellose, schwarze Weste aus Leder. Der hervorquellende, riesige Bauch ließ vermuten, dass seine Geschäfte gut gingen. Ein breiter Gürtel, ebenfalls aus schwarzem Leder, umspannte seinen Leib – nein, er verlief unterhalb des Bauches, und hielt seine Hose, die ihm bis unterhalb der Knie reichte, zusammen. An seinen Füßen trug er klobige Holzschuhe. Von seiner Stirn, die von schwarzen Locken umgeben war, tropfte der Schweiß auf den staubigen Boden.

Der Schmied riss ein schmuddeliges Tuch hoch, das er zwischen Gürtel und Bauch geklemmt hatte. Damit wischte er sich über die Stirn und über seinen stoppeligen Bart.

„Dann bringt mir das Weibsstück, damit ich ihr die Arm- und Fußfesseln anlegen kann“, rief er lautstark seinem Gehilfen und dem Gerichtsdiener zu. Sie standen in der Nähe der Tür und hielten mit beiden Händen eine junge Frau fest.

Die Haare der Frau waren ursprünglich blond gewesen. Jetzt, nach der Gerichtsverhandlung und zwei schlaflosen Nächten waren sie fettig und klebten an ihrem Kopf. Dreck und Staub vom nächtlichen Schlaflager im Kuhstall, wo sie an einem Pfosten festgekettet war, hatten die Haarfarbe ins Bräunliche verändert.

Ihr hübsches Gesicht war vom Schmutz und den vergossenen Tränen verschmiert. Jetzt weinte sie nicht mehr – sie hatte alle ihre Tränen vergossen und erwartete, man könnte fast meinen störrisch, den Vollzug des Urteils.

Widerstandslos ließ sie sich von den beiden Männern zum Amboss führen, wo der Schmied die eisernen Fesseln fachkundig um ihre zierlichen Handgelenke legte. Die daran befestigten schweren Eisenketten drückte er ihr in die Hände. Sie sollte selbst ihre Fesseln tragen – sie hatte es schließlich nicht besser verdient.

„Sag deinem Herrn, dem Richter, dass ich mir morgen mein Salär abhole. Und er soll erst gar nicht versuchen, mit mir zu handeln“, sagte er zum Gerichtsdiener und schlug ihm mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter.

Der Gerichtsdiener ging dabei in die Knie und konnte nur ein zaghaftes „Jawohl“ über die Lippen bringen. Auch von seiner Stirn rannen Bäche von Schweiß. Trotzdem würde er nie seinen, bis oberhalb der Knie reichenden, Gehrock während der Vollstreckung eines Gerichtsurteils ausziehen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Er war froh, als sie die Schmiede verlassen konnten. In der frischen Morgenluft atmete er einmal hörbar tief durch. Verstohlen zog er ein Tuch aus der Innentasche seines Gehrocks und tupfte seine Stirn ab.

Der Gerichtsdiener und der Helfer des Schmieds führten und stießen die Frau unsanft die Straße hoch, die zum nahegelegenen Marktplatz führte. Rechts und links der Straße reihten sich kleine Fachwerkhäuser aneinander. Der Platz lag am Ende der Steigung, die sich vom Beginn des Ortes bis zur Kirche oberhalb des Marktplatzes erstreckte. Auch er war eingerahmt von Fachwerkhäusern, wobei das Haus des Wirtes das Größte und Ansehnlichste war.

Nach den Entbehrungen während ihrer Haft musste die junge Frau jetzt alle ihre Kräfte zusammennehmen, um den steilen Berg mit den schweren, eisernen Ketten in den Händen, zu bewältigen. Obschon ihre Gelenke schmerzten, kam kein Laut über ihre Lippen.

Riesige Buchen spendeten auf dem Marktplatz angenehmen Schatten. Dies sollte für die Frau in den Eisenfesseln aber auch das einzig Angenehme an diesem Morgen sein.

Vor einem mächtigen Holzpfahl, der zwischen dem Rathaus und der Kirche stand, geboten die Männer der Frau, stehen zu bleiben. Der Pfahl war exakt sieben Fuß hoch. Mit dem Rücken gegen den Pfahl, verankerten die Männer die Ketten an dafür vorgesehene Stellen des rauen Holzes. An manchen Stellen waren Bilder und Texte eingeritzt, die jetzt durch die Frau zum Teil verdeckt wurden.

Hier und da öffneten sich Fenster und neugierige Gesichter schauten zum Marktplatz. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die ersten Gläubigen den Weg zur Kirche antreten würden, um dem sonntäglichen Gottesdienst beizuwohnen. Alle Blicke der Kirchenbesucher würde die Frau dann auf sich ziehen und jeder Einwohner würde überzeugt sein, dass seine Heimatstadt eine florierende Rechtspflege besaß.

Als die Glocken der Kirche die Gläubigen zur Messe riefen, hatte sich bereits eine stattliche Anzahl Menschen vor dem Pfahl, der allgemein „Schandpfahl“ genannt wurde, versammelt.

Zur Feier des Tages hatten die Kirchenbesucher ihre beste Garderobe angelegt.

Jeder der damaligen Herrscher hatte für seine Stadt und sein Land eine gewisse Kleiderordnung erlassen, damit sich bereits rein äußerlich der gehobene Stand von den Arbeitern unterschied. Jedoch wurde vielerorts an normalen Sonntagen wie heute dagegen verstoßen. So sah man bei dem einen oder anderen gutgestellten Handwerker am Kragen des Gehrocks das Fell eines Marders, das nach der bestehenden Kleiderordnung nur den Bürgern vom Rat oder den Kaufleuten vorbehalten war. Andererseits war es manch einem Bürger vornehmer Herkunft zu lästig, sich nur für den Kirchgang die beste Robe anzulegen. Man tolerierte diese kleinen Abweichungen. Und da es keinen Kläger gab, gab es auch keinen Richter. So blieb der Erlass zur Kleiderordnung weitgehend wirkungslos.

Trotzdem hatten die Gattin des Handwerkermeisters und die Frauen der Händler ihre bodenlangen Roben, Kombinationen aus Rock und Jacke, angezogen. Die Frauen der einfachen Arbeiter hatten sich jeweils in ihre sonntägliche, vorne überlappende Jacke mit Schürze und dazu einen knöchellangen Rock und ein Schultertuch gekleidet. Die Köpfe der Frauen bedeckten Hauben, manche in einfacher, andere in aufwendiger Verarbeitung und Verzierung.

Die wohlbetuchten Herren trugen ihre besten Anzüge, wobei die Männer der Unterschicht in Ärmelwesten gekleidet waren, die nicht so weit und aufwendig verarbeitet waren. An Werktagen waren bei ihnen weite Kniehosen wegen der besseren Bewegungsfreiheit üblich, am Sonntag wurden jedoch enge Hosen bevorzugt. So hatten sie zumindest das Gefühl, der Oberschicht ein wenig näher zu sein.

Alle gafften die junge Frau am Schandpfahl an. Die Frauen schauten voller Verachtung, die Männer eher gierig, obschon das ungepflegte Aussehen der Frau nicht gerade ansprechend war. Hatte sich doch das Gerücht verbreitet, dass sie in mehreren Fällen einen verheirateten Mann verführt hatte. Manch einer der Männer dachte sicherlich mit Blick auf seine Gattin: Hätte sie doch nur mich verführt, ich hätte nichts dagegen gehabt.

Möglichst unauffällig reckten die Frauen ihre Hälse. Nein, der von diesem Weibsstück verführte Ehemann und dessen Frau waren nirgendwo zu sehen. Dieser Umstand war natürlich Anlass zu unüberhörbarem Getuschel und Nährboden für Vermutungen und Gerüchte, insbesondere unter den Damen des Ortes. War es vielleicht doch nicht nur eine einfache, unsittliche Verführung, sondern steckte vielleicht mehr dahinter – vielleicht sogar Liebe?

Als die Glocken verstummten, baute sich der Richter vor der Frau auf. Wie auf ein unsichtbares Zeichen erstarb jedes Gespräch und Getuschel. Der Richter schaute sich Beifall heischend um und ergriff das Wort: „Dieses Kind unserer Stadt hat schweres Unrecht begangen. Eindeutig, durch mehrere Zeugen belegt und letztendlich auf frischer Tat überführt, hat sie sich mehrmals der Prostitution schuldig gemacht. Ihr Lieben, lasst uns in die Kirche gehen und für die verführte Seele unseres lieben Mitbürgers und Freundes beten. Nach dem Gottesdienst wird die gerichtlich beschlossene Anprangerung beginnen.“

Damit drehte er sich um und schritt gemessenen Schrittes zum Kirchenportal. Die Gemeinde folgte gehorsam und leise murmelnd in gebührendem Abstand.

Die Frau hatte den Kopf gesenkt, denn sie wusste was in Kürze auf sie zukam. In ihrem Kopf gingen immer wieder die gleichen Gedanken herum: Wieso wurden nur immer die Frauen bestraft, wenn sie einem Mann und dem Ruf der Liebe folgten? Die Männer hatten alle Freiheiten und Entschuldigungen auf ihrer Seite und gingen dabei grundsätzlich straffrei aus. War das Gerechtigkeit?

Sie galt jetzt als „öffentliche Frau“ – als Prostituierte. Man würde sie verspotten, beleidigen und anspucken. Sogar Freunde würden sie mit Unrat bewerfen. Bei dessen Wahl waren die Bürger durchaus kreativ und nicht zimperlich. Faule Eier, verfaultes Obst und Salatköpfe waren als Wurfmaterial üblich. Aber auch Exkremente und tote Ratten wurden nicht selten als Wurfgeschosse eingesetzt. Lediglich das Anfassen und Schlagen sowie das Werfen harter Gegenstände war verboten und galt als unehrenhaft. Trotzdem kam es gelegentlich zu „Unfällen“, wenn die Verärgerung der Bürger zu groß war. Manchmal dann sogar mit Todesfolge für den Verurteilten.

Das Gericht hatte für die Anprangerung trotz der Schwere des Vergehens mit Rücksicht darauf, dass es sich um eine zierliche Frau handelte, zwei Stunden festgelegt. Lediglich bei Männern konnte die Strafe in seltenen Fällen vier Stunden und mehr betragen. Die Gerichtsbarkeit war der Meinung, binnen dieser Zeit sei die Schmerzgrenze für die Delinquenten erreicht.

Der Pfarrer hatte schließlich mit seiner aufgeregten und ungeduldigen Gemeinde ein Einsehen. Der Gottesdienst dauerte bei Weitem nicht so lange wie üblich. Vielleicht konnte der Pfarrer auch selbst das bevorstehende Ereignis kaum erwarten, war die Verführung zum Ehebruch doch eine Todsünde und die Anprangerung durchaus die gerechte Strafe dafür.

Der Bürgermeister schritt als Erster durch das, vom Kirchendiener geöffnete, Portal der Kirche in die gleißende Sonne. Dann drängten die Männer, danach die Frauen und Kinder durch die Kirchenpforte …

*

Jemand rüttelte vorsichtig an seiner Schulter.

„Sie müssen jetzt gehen. Wir schließen“, sagte die Bibliothekarin, die leise neben ihn getreten war.

Verärgert hob er den Kopf und schaute die junge Frau vorwurfsvoll, ja fast vernichtend, an. Dabei rutschte ihm das Buch von den Oberschenkeln und polterte zu Boden.

„Ich räume das Buch schon ins Regal. Sie müssen jetzt leider gehen“, flüsterte die Frau, damit niemand der noch vorhandenen Besucher der Bücherei etwas hören konnte.

Sie bückte sich und hob das Buch mit dem Titel „Gerichtsbarkeit vom Mittelalter bis zur Neuzeit“ auf.

Aus dem In-Ear-Kopfhörer seines Smartphones drangen die Stimmen der Folk-Gruppe „Faun“ mit der Ballade „Diese kalte Nacht“ in sein Ohr: „Diese Nacht ist kalt und der Wind, der bläst durch unser Land. Und wer jetzt noch geht, ist ein armer Tor oder auf dem Weg zu der Liebsten, die jede Reise lohnt …“

„Verdammt“, sagte der Mann enttäuscht und verärgert zu sich selbst.

Dabei riss er sich die Kopfhörer aus den Ohren.

Wie gerne hätte er seinen Tagtraum, von dem was er vorher gelesen hatte, zu Ende geträumt und dabei der schönen Musik, die thematisch zwischen Spätmittelalter und Romantik angesiedelt war, gelauscht.

Gerade jetzt, wo die Frau in seinem Traum ihre gerechte Strafe bekommen sollte, wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt.

„Sie können ja gerne morgen wiederkommen“, sagte die junge Bibliothekarin besänftigend.

Sie hatte die Verärgerung des Mannes bemerkt.

Ohne eine Antwort zu geben und ohne die Frau eines Blickes zu würdigen, schritt der Mann zum Ausgang und verließ die Städtische Bücherei.

Herbstnebel

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