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Kapitel 2

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Lisa war froh, als sie ihren Wagen von der Straße auf den Parkplatz an der Burg Blankenberg einlenken konnte. Der Parkplatz lag in einer Kurve der Serpentinen, die hoch zur Stadt führten. Hier im Wald hing der Nebel noch dicht zwischen den Bäumen und Sträuchern und sie wäre fast am Parkplatz vorbei gefahren.

Vor einigen Wochen hatte sie die Zusage zur Versetzung nach Bonn erhalten. Sie hatte einen Versetzungsantrag von Köln zum Kommissariat in Bonn-Beuel gestellt, da dort im KK 11 eine Stelle freigeworden war und sie in Bonn bessere berufliche Möglichkeiten und Chancen sah. Außerdem wäre sie um einiges näher an ihrem Wohnort Troisdorf und die zermürbenden Fahrten im Berufsverkehr über den Rhein und durch Köln würden entfallen.

Die wenigen Tage Resturlaub, die sie genommen hatte, wollte sie unter anderem dazu nutzen, sich in Bonn vorzustellen und sich ihren neuen Arbeitsplatz anzusehen. Kurz nach der Zusage stattete sie ihrer neuen Arbeitsstelle aus diesem Grunde einen Besuch ab.

Obschon sie bereits seit einigen Jahren Kommissarin war, klopfte ihr Herz. Sie war aufgeregt. Heute ging es nicht um Entführung, Brandermittlung oder Bandenkriminalität,sondern heute war ihre Vorstellung beim Leiter des KK 1, dem auch das KK 11 für Tötungsdelikte unterstand.

„Gehen Sie bitte nach dort drüben zum Aufzug und fahren Sie in den 3. Stock. Der Leiter des KK 1 erwartet Sie“, sagte ihr die freundliche Dame beim Empfang, nachdem sie die Besucherin telefonisch im KK 1 angemeldet hatte.

Auf dem Weg zum Aufzug versuchte sie, ihre Nervosität in den Griff zu bekommen, indem sie ihre Gedanken ablenkte und an ihre Tochter dachte. Hoffentlich war ihre Mutter heute mit ihrer Tochter klar gekommen. Sie hatte ihre Mutter gebeten, dafür zu sorgen, dass Nicole, die nicht gerade einfach im Umgang war, rechtzeitig zur Schule kam. Insbesondere bei ihrer Mutter versuchte sie ständig, ihren Willen durchzusetzen, da sie ihrer Meinung nach oft zu nachgiebig mit ihrer Tochter war. Etwas mehr Konsequenz war manchmal angebracht.

Zu weiteren Gedanken kam Lisa nicht, da ein leises Klingeln des Aufzuges andeutete, dass die dritte Etage erreicht war.

Auf dem Flur kam ihr ein Mann entgegen. Er war groß und bullig mit einer ausgeprägten Halbglatze. Mit lauter, sonorer Stimme stellte er sich ihr als Leiter des Kriminalkommissariats 1 vor. Er war ihr keineswegs unsympathisch und begleitete sie zu den Zimmern des KK 11. Dort stellte er sie ihren neuen Kollegen mit netten Worten vor und zeigte ihr sowohl ihren Arbeitsplatz als auch anschließend das gesamte Haus. Ihr erster Eindruck war, dass in dem Kommissariat ein gutes Betriebsklima herrschte. Obschon sie überzeugt war, dass Schmitz, so hieß ihr Chef, bei allen Freiheiten, die er seinen Mitarbeitern erlaubte, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen ließ. Als er sich ihr vorstellte, konnte sie sich ein Grinsen wegen des „seltenen“ Namens kaum verkneifen, was er wiederum sofort bemerkte.

„Ja, ja, grinsen Sie nur. Wir Schmitzen‘s sind immerhin jahrhundertealter, rheinischer Adel. Können Sie das auch von sich behaupten?“, lachte er sie lauthals an.

Sie hatte den Eindruck, er hätte ihr am liebsten wie einem Kumpel heftig auf die Schulter geschlagen.

Gleichzeitig konnte sie sich aber auch vorstellen, dass er im Ernstfall gerecht aber unerbittlich war und seine Vorstellungen und Entscheidungen durchsetzen konnte.

So wie heute hatte Lisa sich ihren ersten Arbeitstag beim Kriminalkommissariat 11 des Bonner Polizeipräsidiums nicht vorgestellt. Kurz vor sieben Uhr rief ihr neuer Chef sie zu Hause an.

„Frau Brenner! Wir haben einen Notfall, den wir schlechthin immer haben: Uns fehlt Personal! So wie ich Sie kennengelernt habe, sind Sie bestimmt eine Frau, die flexibel und belastbar ist und gut improvisieren kann. Ich werfe Sie jetzt ins kalte Wasser. Anstatt hier ins Präsidium, fahren Sie sofort zum Tatort Ihres ersten Falls.“

Nach diesen Worten lachte er aus vollem Hals.

„Dann heißt das, dass ich nicht nur flexibel und belastbar sein muss, sondern auch noch eine gute Schwimmerin?“

„Ja, genau, diese Antwort habe ich erwartet. Nicht lange zetern, sondern das Problem sofort auf den Punkt bringen und anpacken.“

„Okay, wo soll ich hin?“, fragte Lisa, die nun wirklich nicht begeistert war.

Sie ließ sich das aber nicht anmerken.

„Fahren Sie zur Burg Blankenberg. Wahrscheinlich ein Mord.

Alles weitere erfahren Sie von dem Kollegen vor Ort. Mehr weiß ich auch noch nicht“, waren die einzigen Informationen, die er ihr mit auf den Weg gab.

Lisa wohnte in Troisdorf in einer kleinen aber gemütlichen Mietwohnung. Die Fahrt von Troisdorf zur Burg Blankenberg war alles andere als angenehm gewesen. Bereits bei ihrer Abfahrt in Troisdorf war es neblig. Später, als sie im Tal der Sieg entlangfuhr, nahm der Nebel noch zu. Es wirkte, als wäre die gesamte Natur in Watte eingepackt. Ihre Nebelscheinwerfer fraßen sich Kilometer um Kilometer durch die weiße Suppe. Die schlimmsten Augenblicke waren für Lisa immer, wenn ihr ein schwerer LKW auf der kurvenreichen Siegtalstaße entgegenkam. Wie aus dem Nichts tauchten sie manchmal in einer Kurve auf und rasten für die Sichtverhältnisse viel zu schnell an ihr vorbei.

Jetzt stand sie hier auf dem Parkplatz in der Nähe der Burg Blankenberg und schaute sich um. Am Waldrand konnte sie schemenhaft zwei Personen erkennen und ging darauf zu. Es handelte sich um zwei Streifenpolizisten.

„Halt! Wo wollen Sie hin? Hier können Sie nicht durch!“, blaffte einer der beiden sie an.

Lisa zeigte den beiden Polizisten ihren Dienstausweis.

„Mein Name ist Lisa Brenner von der Mordkommission“, sagte sie trotzdem zusätzlich, als wenn sie die Befürchtung hätte, dass die beiden ihren Ausweis nicht lesen könnten.

„Was ist geschehen?“

„Ein Mord“, sagte der größere und jüngere der beiden Männer. Dabei drehte er sich von Lisa weg, als Zeichen, dass er weiterhin keine Auskunft mehr geben wollte.

„Ach, ja? Wie kommen Sie auf Mord?“, fragte Lisa weiter, die gerne etwas mehr gehört hätte.

„Selbstmord ist sicherlich kaum möglich“, beteiligte sich jetzt der andere Polizist am Gespräch.

„Wie soll die Frau sich denn selbst an den Baum gekettet und sich dann selbst den Schädel eingeschlagen haben?“, ergänzte er aufgeregt.

Er war das glatte Gegenteil seines Kollegen: Wesentlich älter, klein, korpulent und anscheinend auch gesprächiger.

„Was Sie nicht sagen“, bemerkte Lisa lediglich.

„Liebe Frau Kommissarin. Trotz meiner vielen Dienstjahre habe ich so etwas noch nicht gesehen. Sie sind noch jung, ist vielleicht Ihr erster, richtiger Mord und ich sage Ihnen, bereiten Sie sich auf einen schlimmen Anblick vor. So etwas werden auch Sie nicht alle Tage sehen. Das geht an die Nieren.“

Dabei schüttelte er unablässig seinen Kopf, als wenn er nicht glauben wollte, was er gesehen hatte.

„Hier, mein Kollege war als Erster am Tatort. Er hat sich übergeben, bis sein Magen total leer war“, fügte er als abschreckendes Beispiel hinzu und wies mit dem ausgestreckten Arm auf seinen jungen Kollegen, der sich inzwischen einige Schritte entfernt hatte.

Dann hob er das Absperrband hoch, um die Kommissarin durchzulassen.

„Vielen Dank“, sagte Lisa abwesend, die aufgrund der Schilderung des Kollegen bereits ein grausiges Bild vor Augen hatte.

Gott sei Dank war die Tote kein Kind. Das wäre der absolute Horror für sie gewesen. Sie dachte dabei an ihre kleine Tochter.

„Wie weit ist es denn bis zum Tatort?“ rief sie, als sie bereits ein Stück gegangen war.

„Immer den Weg nach und dann hoch zur Burg. Ist nicht zu verfehlen“, rief der ältere Polizist ihr hinterher.

Der Weg führte durch einen Wald und es war nicht immer einfach, dem Weg im Nebel zu folgen, obschon sie der Meinung war, hier oben im Wald eine bessere Sicht zu haben, als unten im Tal.

Als sie um eine Biegung kam, sah sie das Licht von mehreren Scheinwerfern, das wie weiße Finger in den Himmel ragte. Nach zwei steilen Kehren betrat sie etwas außer Puste den Burghof. Sie stellte fest, dass sie nicht mehr so in Form war, wie früher. Der Dienst im KK 36 für regionale Kriminalität bestand aus viel Schreibtischarbeit und die Versorgung und Beaufsichtigung ihrer Tochter hatte sie doch mehr, als sie sich eingestehen wollte, vom sportlichen Training abgehalten.

Sie blieb stehen und ließ den Blick über den Burghof schweifen. Die Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung waren bereits eingetroffen. Personen in weißen Overalls arbeiteten in gebückter Stellung oder knieten auf dem Boden mit dem Gesicht direkt über der Erdoberfläche. Drei Polizisten in Uniform standen etwas abseits an einem Streifenwagen und unterhielten sich. Dann liefen noch einige Männer in Jeans, Winterjacken oder Parkas geschäftig umher. Alle hatten eines gemein: alle trugen blaue Überziehschuhe über ihren Straßenschuhen und alle, bis auf die drei Polizisten, hielten sich unterhalb der Krone einer riesigen Buche auf.

Lisa war gespannt, wer der Kommissar war, den sie unterstützen sollte.

Sie schaute unwillkürlich an sich herab. Mit ihren einfachen Lackschuhen, der dünnen Stoffhose und der modischen Regenjacke war sie nicht gerade passend und in erster Linie nicht warm genug gekleidet. Sie merkte bereits, wie die Kälte an ihren Beinen hochkroch.

„Bringen Sie uns eine Thermoskanne mit Kaffee?“, fragte plötzlich eine Männerstimme hinter ihr.

Lisa hatte nicht bemerkt, dass jemand hinter sie getreten war. „Leider nein. Ich soll Sie hier unterstützen. Personalengpass und so, wurde mir gesagt.“

Dabei drehte sie sich zu dem Mann hinter ihr um.

Sie erkannte ihn sofort. Schon immer war sie stolz darauf, dass sie Gesichter, die sie einmal gesehen hatte, mit den dazu gehörenden Namen in Einklang bringen konnte. Daher fügte sie hinzu: „Guten Morgen, Herr Kern.“

„Na, ein guter Morgen ist das hier bestimmt nicht. Und wer sind Sie?“

Ronni Kern war überrascht, dass diese junge Frau seinen Namen kannte. Daher fiel seine Frage barscher aus, als er ursprünglich wollte.

„Mein Name ist Lisa Brenner, Ihre neue Kollegin. Genauer gesagt, seit heute Ihre Kollegin. Bei meiner Vorstellung vor einigen Wochen haben wir uns gesehen.“

„Respekt. Ich hätte Ihren Namen nicht mehr gewusst. Und das mit dem „Herrn Kern“ lassen wir künftig. In unserem Büro duzen wir uns alle. Ich bin Ronni“, dabei streckte er ihr seine Hand entgegen und lächelte sie gewinnend an.

„Prima, ich bin Lisa“, entgegnete sie und drückte seine Hand.

Ronni, mit seiner unkomplizierten Art, war ihr sofort sympathisch. Auch das gewinnende Lächeln, das er jetzt aufgesetzt hatte, gefiel ihr. Hinzu kamen seine gute Figur, seine pechschwarzen, glänzenden Haare und wenn sie dann in sein freundliches Gesicht sah, musste sie sich eingestehen, dass dieser Mann in hohem Maße ihrem Beuteschema entsprach. Ob er wohl verheiratet oder in einer Beziehung ist?, überlegte sie. Bereits damals bei der Vorstellung war er ihr angenehm aufgefallen. Und jetzt, nach diesen wenigen Augenblicken, hatte sie wieder dasselbe Gefühl: der Mann gefällt mir!

Mensch Lisa, was machst du dir bloß für Gedanken, schalt sie sich. Es wird Zeit, dass auch du wieder einen Mann findest, dachte sie und blendete dann den Gedanken sofort wieder aus. Hier gab es zurzeit Wichtigeres zu überlegen und zu tun, als sich über den eigenen Hormonstau Gedanken zu machen.

„Dann wollen wir mal“, sagte Ronni und holte sie endgültig in die Wirklichkeit zurück.

„Zieh die über.“

Er hielt ihr ein Paar blaue Einwegüberziehschuhe hin.

„Nicht nur wegen der Spurensicherung, sondern auch zum Schutz für deine Schuhe. Dort drüben ist es ein wenig matschig“, lächelte er sie an.

Ohne ein Wort zu sagen nahm sie die Schuhe und zog sie über ihre Lackschuhe. Es war ihr peinlich, wie unpassend gekleidet sie zu einem Tatort erschien.

Mit der Hand an ihrem Arm schob Ronni sie in Richtung des mächtigen Baumes.

Unterhalb der Buche, fast am Ende des Burghofs, war die Spurensicherung mit der Arbeit beschäftigt. Riesige Scheinwerfer beleuchteten das Geschehen. Die von den Scheinwerfern ausgehende Wärme schien den Nebel aufzulösen.

Als sie nur noch wenige Meter vom Stamm der Buche entfernt waren, hielt Ronni sie am Arm fest und beide blieben stehen.

„Jetzt müssen Sie, jetzt musst du“, berichtigte er sich, „stark sein. Die Leiche ist noch so, wie wir sie vorgefunden haben.“

Erst dann gingen sie die letzten Meter bis zum Stamm des Baumes, an dem eine Frau angebunden stand, nein – besser gesagt hing.

„Oh!“

Mehr war Lisa nicht in der Lage zu sagen. Sie wandte sich ab. Als der erste Schock überwunden war, drehte sie ihr Gesicht wieder dem Baumstamm zu. Es bot sich ihr ein Bild des Grauens, das ihre Vorstellungen, die sie sich auf dem Weg von den beiden Polizisten bis hierhin gemacht hatte, total übertraf. Ihr Blick wanderte von der Frau, die an den Baum gekettet war, über den Bereich vor dem Baum. Dann wieder zurück zu der Frau, ehe sie sich vollständig abwandte.

Sie hatte das gesehen, was sie sehen musste, länger wollte sie nicht hinsehen.

„Wer macht so etwas?“, fragte sie mehr sich selbst, als ihren Kollegen.

Mit den Händen nahm Ronni sie stützend an der Schulter und führte sie einige Schritte zur Seite. Hätte er sie genauer angesehen, hätte er erkannt, dass sie um die Nasenspitze blass geworden war.

„Was ist hier geschehen? Das sieht wie eine Hinrichtung aus“, sagte sie zu ihm, der ihr jetzt gegenüber stand.

„Das glaube ich auch. Und wir beide werden herausfinden, was hier geschehen ist – und wer das getan hat“, antwortete Ronni.

Lisa bemerkte, dass er seinen Zorn und seine Wut nur schwer unterdrücken konnte. Auch in Lisa kam augenblicklich der unwiderstehliche Wunsch hoch, den Mörder, nein, die Bestie, zu fassen.

„Komm, wie setzen uns drüben auf die Mauer und ich berichte dir, was wir im Augenblick wissen.“

„Die Tote wohnt hier in Blankenberg und ist sechsunddreißig Jahre alt. Ihr Name ist Franziska Schlierbaum. In ihrer Geldbörse fanden wir ein Foto eines kleinen Mädchens, wahrscheinlich ihre Tochter. Ebenfalls fanden wir eine 4er-Bahnkarte. Ein Kollege der SpuSi meinte, das sei eine Karte für die Fahrt von Hennef nach Blankenberg. Wir müssen das noch prüfen. Sonst war nur der übliche Krimskrams in ihrer Handtasche, den eine Frau so mit sich führt. Du kennst das ja.“

„Ja, ja, Krimskrams. Ich kenne das“, wiederholte Lisa leicht säuerlich.

„Entschuldigung, war nicht so gemeint“, antwortete Ronni, der einsah, dass er etwas Falsches gesagt hatte.

„Ist schon okay“, sagte Lisa leichthin und lächelte ihn an.

„Ach, noch etwas Seltsames: Ihre Handtasche stand fein säuberlich neben dem Baum, an den sie gefesselt war.“

„Das sieht ja so aus, als wenn der Täter wollte, dass wir möglichst schnell die Identität der Toten feststellen können. Der will uns etwas sagen“, war sich Lisa sofort sicher.

Für ihren ersten Mordfall ist die Kleine ganz schön clever, dachte Ronni.

„Wer hat die Tote gefunden?“, wollte Lisa jetzt wissen, denn sie hatte niemanden außer den Kollegen von der Spurensicherung gesehen.

„Ein Rentner, ein Hobbyfotograf. Er wollte von hier oben Bilder machen, wenn die Sonne sich zeigen und der Nebel sich langsam lichten würde. Von seinem Smartphone hat er über die 110 die Bereitschaftspolizei informiert. Er war fix und fertig. Wahrscheinlich hat er einen Schock. Ein Streifenpolizist hat ihn nach Hause gefahren. Zum Tathergang konnte er ohnehin keine Aussage machen.“

Lisa und Ronni saßen weiterhin nebeneinander auf der Mauer. Keiner sagte mehr etwas. Beide starrten vor sich hin, und jeder hing seinen Gedanken nach, bis Lisa ihren Kopf hob und Ronni ansah.

„Bist du allein hier?“, fragte Lisa skeptisch.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass bei so einem Fall lediglich ein Kommissar, na gut, mit ihr waren es jetzt zwei, vor Ort waren.

„Ich hatte Bereitschaft und war zu Hause. Schmitz sagte lediglich, dass ich Hilfe bekommen würde. Du bist dann ja auch gekommen. Wir beide werden den Fall allein lösen müssen – Personalmangel, Arbeitsunfähigkeit von Kollegen, Weiterbildung, Mutterschutz – du kennst das ja. Natürlich werden uns die anderen Kommissariate unterstützen, wenn wir Hilfe benötigen.“

Nein, so kannte sie das nicht. Da wo sie herkam, hatten sie genug Mitarbeiter. Aber wer wollte auch schon zum KK 11 und sich solche Bilder wie hier ansehen?

Sie wollte es!

Als ihre Tochter in die Schule kam und ihre Eltern sich bereit erklärten, sie zu unterstützen, war ihre Entscheidung gefallen. Sie wollte weg vom Schreibtisch und von der Kleinkriminalität. Sie wollte etwas verändern – sie wollte gegen das Böse kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Mitmenschen sicherer leben konnten.

Von Ihrem Mann hatte sie sich scheiden lassen. Er war in ihren Augen ein kleinkarierter Schreibtischtäter. Bereits nach wenigen Jahren hatten sie sich auseinander gelebt. Sie hatten keine Gemeinsamkeiten und sich nichts mehr zu sagen, außer wenn sie sich stritten. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter in einer Ehe aufwuchs, in der es nur Schweigen und Streit gab. Dann besser ohne Vater. Danach hatte sie einige Liebschaften, der Richtige war aber nicht dabei und so war sie zurzeit in keiner Beziehung. Sie fand das zwar nicht in Ordnung, aber mit Hilfe ihrer Eltern konnte sie sich wenigstens voll auf ihre Arbeit und ihren neuen Job konzentrieren.

Das war auch notwendig, wie sie heute Morgen feststellte. Diese Arbeit war mehr, als nur ein Job und würde sie wahrscheinlich körperlich und mental vollkommen beanspruchen.

„Was habt ihr sonst noch heraus bekommen? Was ist genau geschehen?“, wollte Lisa wissen.

„Die Frau wurde mit dem Rücken an den Baum gefesselt, wobei die Handgelenke mit einer Kette zusammengehalten wurden“, begann Ronni.

„Und wieso wurden die Beine mit einem Paketklebeband um den Baum herum festgebunden?“

Ronni war ein wenig erstaunt, dass Lisa das Paketband um die Beine der Toten in den wenigen Augenblicken, die sie die Tote betrachtete hatte, gesehen hatte.

„Wir vermuten, dass das Klebeband angebracht wurde, als die Frau tot war. So als Stütze, damit sie aufrecht am Baum stehen blieb und nicht zusammensackte.“

„Dann sollte die Tote geradezu zur Schau gestellt werden?“, schlussfolgerte Lisa.

„Wahrscheinlich. Ihr Kopf weist viele kleine Wunden auf, die womöglich durch Werfen von Steinen entstanden sind.“

„Das kann aber nicht die Todesursache sein und der Grund für das viele Blut und den total zersplitterten Kopf“, warf Lisa ein.

„Richtig. Vielleicht hast du den Felsbrocken gesehen, der neben der Toten lag. Dieser Gesteinsbrocken wurde von oben auf ihren Kopf fallen gelassen. Vermutlich wurde ein Seil über einen Ast geworfen, womit der Täter dann den Stein hochzog. Wie er das im Einzelnen genau angestellt hat, wissen wir noch nicht. Ein Seil wurde nicht gefunden. Letztendlich ist die Frau verblutet.“

Ronni konnte seine neue Kollegin nicht ansehen, während er das alles berichtete. Er starrte vor sich auf den Boden und knetete unablässig vor Nervosität seine Hände.

„Vor der Toten lagen mehrere vergammelte Salatköpfe und Tomaten. Kann es sein, dass ich auch eine tote Ratte gesehen habe?“, fragte Lisa und man konnte ihr den Ekel, den sie empfand, ansehen.

„Ja, nicht nur das. Im Gesicht der Toten, oder in dem was davon übrig geblieben ist, und auf dem Boden fanden wir Reste von Exkrementen. Wahrscheinlich von einem Tier, vielleicht von einem Hund. Wir gehen davon aus, dass der Mörder die Frau zu Beginn seiner Tat mit all diesen Sachen beworfen hat.“

Lisa schaute Ronni an und schüttelte angewidert den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung, was das soll, und womit wir es hier zu tun haben.“

„Das hört sich an, als wenn der Täter ein Ritual durchgeführt hat – aber was für ein Ritual und wieso?“, überlegte Lisa laut.

In diesem Moment kam eine Frau in weißem Overall, weißen Schuhüberziehern und weißer Kapuze auf die beiden Kommissare zu. Der Ansatz ihrer schwarzen Haare lugte vorne aus der Kapuze heraus. In der Hand hielt sie einen Gegenstand, der aus Lederriemen bestand. Ronni erkannte sie trotz ihres weißen Overalls und der Kapuze sofort.

„Darf ich dir unsere Rechtsmedizinerin Susanne Ohlrogge vorstellen? Wir arbeiten bereits seit einiger Zeit zusammen und haben den ein oder anderen kniffligen Fall gelöst.“

„Ich freue mich. Mein Name ist Lisa Brenner, seit heute Kommissarin im KK 11.“

Die beiden Frauen gaben sich die Hand und lächelten trotz der widrigen Umstände ihres Kennenlernens.

„Ich habe hier etwas.“

Dabei hob sie den Gegenstand, den sie mitgebracht hatte, in die Höhe.

„Das ist der Knebel, den die Frau im Mund hatte.“

Ronni und Lisa schauten sich an. Sie hatten keine Vorstellung, was das sein könnte.

„Der Knebel erinnert an ein Zaumzeug bei Pferden. Man nennt diesen Knebel auch ‚Trensenknebel‘, der auch in erotischen Rollenspielen eingesetzt wird. Dieses Stück Hartgummi wird zwischen die Zähne geschoben.“

Susanne Ohlrogge fuhr zur Demonstration mit einem Finger über das Hartgummiteil.

„An den Enden sind in den großen Ringen Riemen befestigt, die hinter dem Kopf zusammengebunden werden.“

Sie wies jetzt auf die beiden Ringe und zeigte die Riemen. Ronni hielt es nicht mehr auf der Mauer. Er sprang auf.

„Womit haben wir es denn hier zu tun? Geht es hier vielleicht um Sadomaso, bei dessen Ausführung die Frau ‚zufällig‘ zu Tode gekommen ist?“

Ronni war außer sich. Er ging zwischen den beiden Frauen auf und ab.

„Nein, das glaube ich nicht. Geschlechtsverkehr oder Vergewaltigung kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestätigen“, sagte Susanne Ohlrogge ruhig.

Sie war eine erfahrene Rechtsmedizinerin, die ihre Emotionen ausklammern konnte und sich nur an Fakten orientierte.

„Ich habe da noch etwas.“

Ronni blieb wie angewurzelt stehen.

„Was kann es denn noch Furchtbares geben? Reicht es denn noch nicht?“

Lisa hatte bisher kein Wort gesagt und die Rechtsmedizinerin wegen ihrer Ruhe bewundernd angeschaut. Jetzt stand sie auf und legte Ronni zur Besänftigung eine Hand auf die Schulter. Ronni verstand diese Geste und beide setzten sich wieder auf die Mauer.

„Wir haben etwas im Mund der Toten gefunden“, fuhr Susanne Ohlrogge fort.

Aus der Tasche ihres Overalls zog sie einen kleinen Plastikbeutel hervor. In dem Beutel befand sich ein Stück Papier, das wahrscheinlich ursprünglich weiß gewesen, und jetzt offensichtlich von Blut rot getränkt war. Trotzdem konnte man eine Schrift erkennen.

„Dieser Zettel steckte im Mund der Toten.“

„Konnten Sie feststellen, was darauf geschrieben steht?“, fragte Lisa.

„Ja. Er ist zwar von Speichel und Blut durchtränkt, aber der Text ist noch lesbar. Er wurde mindestens mit Schriftgröße zwanzig und in „fett“ auf einem PC geschrieben. Auf dem Zettel steht ein Spruch.“

Susanne machte eine kurze Pause. Irgendwie genoss sie die Anspannung und Neugierde, die sich in den Gesichtern der beiden Kommissare spiegelte.

„Ein Spruch?“, kam die Frage gleichzeitig aus Lisas und Ronnis Mund.

„Ja. Ich lasse den Zettel in der Tüte. Die Gefahr ist zu groß, dass er beim Herausnehmen beschädigt wird. Aber ich kenne den Spruch auswendig:

„Treue kann man nie genug vergelten, Untreue nie genug bestrafen“, sagte Susanne langsam, steckte den Beutel wieder in ihre Tasche und ging zurück zum Tatort.

Die beiden Kommissare schauten ihr ratlos und verwirrt hinterher.

Inzwischen hatte sich der Nebel hier oben auf der Burg und gegenüber im Ort Blankenberg weitgehend aufgelöst. Lediglich der Talnebel im Bereich der Sieg lag noch wie festgeklebt auf dem Fluss.

Niemand auf dem Burghof bemerkte, dass am Ortsrand der Stadt Blankenberg ein Mann an einem Baum lehnte und das Treiben am Tatort mit einem Fernglas beobachtete. Das Fernglas schien aus hochwertiger Qualität zu bestehen und mit einer hohen Vergrößerungszahl ausgestattet zu sein. Kein Detail entging dem heimlichen Beobachter.

Die normalen Gesten zwischen Lisa und Ronni, als Ronni Lisa mit der Hand an ihrem Arm zum Tatort leitete oder wie Lisa beruhigend ihre Hand auf Ronnis Schulter legte, deutete der Mann als Vertrautheiten, die seiner Auffassung nach zwischen Polizeibeamten nicht sein dürften.

„Auch so eine Schlampe“, murmelte er vor sich hin, nahm das Fernglas von den Augen und verließ seinen Beobachtungsstand.

Herbstnebel

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