Читать книгу Freitod - Heribert Weishaupt - Страница 10

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An manchen Tagen betritt man nicht mit besonders viel Euphorie sein Büro. Insbesondere dann nicht, wenn es draußen regnet und man mit dem aufgespannten Schirm durch Wind und Regen laufen muss und die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hin nass sind.

Schlechtgelaunt stellte Ronni den vor Wasser triefenden Schirm am Garderobenständer ab und entledigte sich seiner Jacke, die ebenfalls vom Regen nicht verschont geblieben war. Das Wasser tropfte von ihr auf den Boden und bildete dort in kurzer Zeit eine Pfütze.

Lediglich ein knappes „Morgen“ zu Sybille Baum, seiner Sekretärin und Bürogehilfin, kam lustlos über seine Lippen.

„Morgen, Ronni“, begrüßte ihn Sybille auch nicht gerade enthusiastisch.

Normalerweise war sie morgens immer gut gelaunt und freundlich. Aber an diesem Morgen schien ihr eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Oder war es das Wetter? Dafür hätte er Verständnis.

„Du hast bereits netten Besuch“, überraschte sie ihn und zeigte zu seinem Schreibtisch.

Mein Gott, der Büroalltag fängt ja bereits gut an. Wer besucht mich denn so früh am Morgen?, dachte er. Erst jetzt sah er, dass jemand auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch saß und eine Zeitung aufgeschlagen in den Händen hielt.

Es ist erstaunlich, wie manchmal ein kleiner Impuls oder Anlass reicht, um die Stimmung komplett umzukrempeln. Sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. In diesem Fall schlug Ronnis Stimmung in Freude um.

„Hallo Frank – der frischgebackene Pensionär hat Sehnsucht nach seiner früheren Wirkungsstätte?“, begrüßte er seinen ehemaligen Kollegen Frank Eisenstein.

Frank warf die Zeitung auf den Schreibtisch, stand auf und umarmte seinen Freund und ehemaligen Kollegen herzlich.

„Nein, ich hatte zufällig in der Gegend zu tun und wollte nur kurz ‚Hallo‘ sagen“, wiegelte Frank mit einem Lächeln ab.

„Ja, natürlich. Kann ich durchaus verstehen. Ramersdorf ist ja auch der Nabel der Welt, wo man immer etwas zu erledigen hat“, lachte Ronni.

„Egal, komm setz dich. Ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist. Ich habe Zeit, wir können in Ruhe plaudern. Warst du schon in den anderen Büros und hast dort die Kolleginnen und Kollegen begrüßt?“, fragte Ronni.

„Nein, das möchte ich nicht, sonst heißt es noch, der Alte hat zu viel Zeit und hält uns nur von der Arbeit ab. Aber es stimmt – ich habe Zeit, leider zu viel.“

„Ich verstehe, aber ich bin sicher, das wird sich irgendwann einpendeln. Du bist gerade mal ein paar Wochen in Pension und du wirst dich an den Ruhestand noch gewöhnen. Bald wird die Zeit kommen, dass du, wie viele andere Pensionäre überhaupt keine freie Minute mehr hast, weil du mit allen möglichen Sachen beschäftigt bist, für die du während der Berufstätigkeit keine Zeit hattest.“

Ronni versuchte, seinen Freund aufzumuntern und ihm eine Perspektive zu geben, denn er hatte den Eindruck, dass der Ruhestand ihm stark zusetzte.

„Von wegen ein paar Wochen. Es sind inzwischen zwei Monate. Früher, ich meine, als ich noch im Dienst war und es kommt mir vor, als wären es Jahre her, verrann die Zeit wie im Fluge. Jetzt tickt sie langsam und gleichmäßig vor sich hin. Ein Tag vergeht wie der andere. Diese Zeit der Eintönigkeit ist wie ein Dieb. Sie stiehlt mir Stunden und Tage meines Lebens – und dann noch dieses Sch…wetter.“

Ronni war beinahe erschüttert über das, was sein Freund von sich gab.

„Es wird auch wieder irgendwann die Sonne scheinen und dann kannst du am Rhein spazieren gehen oder Fahrrad fahren. Ich beneide dich um diese Freiheit. Wenn man berufstätig ist, wünscht man sich mehr Zeit für solche Aktivitäten. Hat man wie du die Möglichkeit dazu, ist der Wunsch plötzlich nicht mehr vorhanden.“

Ronni lebte inzwischen sechs, sieben oder waren es bereits zehn Jahre in Bonn und er war in dieser Zeit maximal dreimal in seiner Freizeit am Rheinufer gewesen. Frank war wahrscheinlich während seiner viel längeren Dienstzeit in Bonn höchstwahrscheinlich nie am Rhein gewesen. Hobbys hatte er keine und Freizeitaktivitäten waren für ihn verpönt. Er hatte sich überwiegend seiner Arbeit verschrieben. So wie Frank wollte Ronni nicht enden – wobei enden sicherlich das falsche Wort war. Er glaubte, dass der Zeitpunkt auch für ihn jetzt schon reif war, etwas zu ändern. Sich vorzubereiten, einen Plan zu erstellen, für die Zeit nach seinem Beruf. Aber wie und was? Einfach würde es jedenfalls nicht werden.

„Was hältst du von einem Kaffee? Ich sehe gerade, Sybille hat welchen aufgebrüht.“

Ronni schaute zu dem halbhohen Aktenschrank in der Nähe von Sybille Baums Schreibtisch, auf dem eine alte Kaffeemaschine vor sich hin gurgelte. Sybilles Kaffee war berühmt und berüchtigt. Er weckt Tote auf, sagte Ronni einmal.

„Nein, danke. Wenn es gestattet ist, hole ich mir eine Tasse heißes Wasser in der Küche. Einen Beutel grünen Tee habe ich immer dabei.“

Frank griff in seine Hosentasche und holte eine zerknitterte Teebeuteltasche heraus und ging damit zur Küche. Sie befand sich in einem winzigen Zimmer am Ende des Flurs, das mehr einer Abstellkammer glich.

Als er nach einigen Minuten zurückkam, schaute Ronni ihn irritiert an.

„Du warst doch immer derjenige, der Sybilles Kaffee über alles liebte. Wie hast du immer gesagt? Dieser Kaffee ist nur für starke Männer. Und jetzt trinkst du grünen Tee?“

„Je älter man wird, desto einsichtiger wird man. Susanne hat mir gesagt, grüner Tee wäre gut gegen hohen Blutdruck“, antwortete Eisenstein mit der Miene eines weisen Gelehrten.

„Seit wann hast du Bluthochdruck? Das ist mir total neu.“

Ronni kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Ich habe keinen Bluthochdruck. Susanne meinte, der Tee wäre auch gut zur Vorbeugung. Inzwischen schmeckt er mir besser als diese Plürre dort drüben.“

Dabei zeigte er mit dem Arm zu dem tiefschwarzen Gebräu auf dem Aktenschrank.

„Kann ich verstehen, wenn Susanne das sagt“, lachte Ronni, stand auf und holte sich eine Tasse von Sybilles superschwarzem Kaffee.

„Komm, lass uns von etwas anderem reden. An welchem Fall arbeitest du zurzeit?“, wechselte Frank das Thema, nachdem sich Ronni wieder hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.

Dabei richtete er seinen Oberkörper auf, denn er war in den letzten Minuten etwas in sich zusammengesunken. Sein Blick war wieder fest und neugierig – beinahe so wie früher. Womöglich war das die Folge des neuen Lebensspenders grüner Tee.

„Okay, du möchtest also wissen, an welchen schwierigen Fällen wir uns festgebissen haben, seitdem du nicht mehr da bist? Und lass mich raten, du möchtest diese Rätsel lösen? Diese Fälle, die niemand bisher gelöst hat. Dich juckt es in den Fingern, mitzumachen. Stimmt‘s?“

Ronni hatte sich vorgebeugt und schaute Frank lachend in die Augen.

„Ja, du hast recht. Mich juckt es tatsächlich. Aber nicht in den Fingern, sondern im Kopf. Ich brauche etwas, womit sich meine Synapsen im Gehirn beschäftigen können“, dabei kratzte er sich demonstrativ seine kurzen, grauen Haare.

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, als hätte er eine unerwartete Erleuchtung.

„Apropos Rhein. Du hast recht. Ich sollte tatsächlich öfter am Rhein spazieren gehen. Dann würde ich vielleicht die Leiche dieses Industriellen finden. Ist dir der Fall von dem gekenterten Kanufahrer auf den Tisch gekommen?“, fragte Eisenstein.

Ronni erkannte in den Augen des pensionierten Kriminalhauptkommissars die gleiche Neugierde wie früher.

„Nein. Ich kenne keinen Fall von einem gekenterten Kanufahrer. Wann war das? Wenn dich das interessiert, kann ich gerne mal nebenan bei den Kollegen nachfragen.“

„Das war im Juni. Das stand doch groß in der Zeitung. Der Firmenchef Jochen Lippmann, diese Zulieferfirma für Windkraft, der Name ist mir entfallen, ist mit seinem Kanu auf dem Rhein gefahren und nicht mehr nach Hause gekommen. Die Ehefrau hat ihn bei der Polizei am nächsten Tag als vermisst gemeldet. Irgendwann hat man sein Kanu in der Nähe der Siegmündung kieloben gefunden. Von ihm keine Spur – bis heute.“

„Nein, den Fall kannte ich bisher nicht. Du scheinst ja gut informiert zu sein. Zumindest hast du den Fall ausführlich in der Zeitung verfolgt.“

Mit einem Mal wurde Ronni sehr nachdenklich. Er schaute zur Zimmerdecke hoch, als wenn er dort oben die Lösung seiner Fragen finden könnte.

„Fast die gleiche Geschichte habe ich heute Morgen gehört. Nur in der Geschichte handelte es sich um keinen Firmeninhaber, sondern um einen Vater und die Geschichte hat mir die Tochter erzählt. Dass es zweimal die gleichen Ereignisse in kürzester Zeit gibt, halte ich für unwahrscheinlich. Nein, das ist ein und dasselbe Ereignis, da bin ich mir sicher.“

Ronni erzählte seinem Freund in wenigen Worten, wie er Sarah vom Suizid abgehalten hatte und wie er sie heute Morgen unverhofft in der Straßenbahn wiedergetroffen hatte.

„Kennst du den Nachnamen dieser Sarah?“, wollte Eisenstein wissen.

„Nein. Trotzdem, ich vermute, das ist die Tochter dieses Jochen Lippmann.“

„Kann sein. Ich weiß, Jochen Lippmann hat eine Tochter, die ungefähr in dem Alter dieser Sarah sein muss. An den Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern.“

„Woher weiß du das und wieso interessiert dich dieser Fall so sehr?“, fragte Ronni verwundert.

„Ich kenne Jochen Lippmann noch aus meiner Zeit in Duisburg. Er hat seine Firma, einige Jahre bevor ich nach Bonn kam, in Bonn gegründet. Er ist ungefähr so alt wie ich. Vielleicht ein, zwei Jahre jünger. Ich kenne seine Tochter als junges Mädchen. Sie und meine Tochter waren gute Schulfreundinnen. Daher interessiert mich der Unfall – wenn es denn überhaupt ein Unfall war.“

„Was meinst du damit: Wenn es denn überhaupt ein Unfall war?“

Ronni wurde hellhörig. Hatte Frank ihn aufgesucht, um mit ihm den Unfall von Jochen Lippmann zu besprechen? War er eventuell mehr als nur neugierig? Ganz klar! Er wollte aus dem Unfall einen Fallseinen Fall – machen.

„Überlege doch mal: Jochen Lippmann ist ein äußerst sportlicher Mann, erfahrener Kanufahrer, der bestimmt nicht in der Mitte des Stroms, in der stärksten Strömung fuhr. Außerdem ist er ein hervorragender Schwimmer. Der Rhein hatte zu dieser Zeit kein Hochwasser, im Gegenteil, der Pegelstand war unter Normalwasser gesunken. Und dann kentert er aus unbekannten Gründen und seine Leiche ist bisher nicht auffindbar? Ich sage nur: seltsam – mehr als seltsam!“

„Da könntest du mit deiner Vermutung richtig liegen. Was sollen wir deiner Meinung nach unternehmen?“, fragte Ronni reichlich naiv, obschon er Franks Antwort bereits kannte.

„Ja, was wohl? Wir haben einen Fall – einen Vermisstenfall, vielleicht sogar einen unklaren Todesfall. Wir sollten die Ermittlungen aufnehmen“, war Franks eindeutige Forderung.

„Wir? Du meinst sicher ich. Du bist dabei raus“, antwortete Ronni spontan.

„Klar, ich meine auch dich. Aber vielleicht kann ich dir ein wenig zur Seite stehen, schließlich kenne ich die Familie. Ich könnte mich zum Beispiel einmal mit der Ehefrau oder mit der Tochter unterhalten. So von Freund zu Freundin. Ist vielleicht besser, als wenn du offiziell mit der Frau und mit der Tochter sprichst.“

„Hm“, machte Ronni und nickte bedächtig.

„Vielleicht hast du recht. Ich werde bei den Kollegen nachhören, wie damals die Ermittlungen verlaufen sind. Außerdem werde ich genaue Informationen über die Firma von Jochen Lippmann einholen. Vielleicht stoßen wir auf irgendwelche Ungereimtheiten. Aber du hältst dich zurück. Du kannst gerne privat mit der Ehefrau sprechen, aber das war es dann auch. Du bist nicht mehr im Dienst.“

„Natürlich, und danke. Ich fühle mich jetzt wieder besser. Es geht doch nichts über eine interessante Aufgabe.“

Ronni war erstaunt, wie sich die mentale Verfassung seines früheren Kollegen in wenigen Minuten vom Negativen ins Positive ändern konnte. Dass Frank von einer interessanten Aufgabe sprach, darauf wollte er besser nicht eingehen.

„Du hast deine Tochter erwähnt. Habt ihr inzwischen wieder Kontakt? Du hattest doch lange Zeit nichts mehr von ihr gehört, wenn ich mich recht erinnere“, wechselte Ronni das Thema.

„Stimmt. Seit zwei Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen und gesprochen. Vor zwei oder drei Wochen habe ich sie gesehen. Sie saß draußen im Café in Bonn. Sie nickte mir kurz zu und wandte sich dann wieder ihrem Begleiter zu.“

„Und was hast du gemacht?“

„Ich habe ebenfalls genickt und bin weitergegangen.“

Ronni schüttelte den Kopf.

„Wieso hast du sie nicht angesprochen?“

„Sie war schließlich in Begleitung. Glaubst du, sie hätte dann Zeit für ihren alten Vater?“

„Du spinnst doch. Was heißt hier alter Vater. Erst einmal bist du nicht alt und zweitens bist du schließlich ihr Vater.“

„Trotzdem, ich will mich nicht aufdrängen. Als ich nach Hause kam, habe ich mir meine Laufschuhe angezogen und bin eine Runde joggen gegangen. Ich hasse Joggen wie du weißt, aber es macht den Kopf frei.“

Ronni schüttelte erneut den Kopf und wollte fragen, wieso er denn joggen gehe, wenn er es doch so sehr hasste, ließ die Frage dann doch bleiben. Er kannte Frank und wusste, dass er sich gerne quälte – besonders dann, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich vorstellte.

„Wir hören voneinander. Ich werde demnächst Frau Lippmann aufsuchen“, sagte Frank, stand auf und verabschiedete sich von seinem Freund Ronni.

Würde Ronni ihn nicht kennen, wäre er mit Sicherheit über Franks plötzlichen Aufbruch pikiert gewesen – aber er kannte ihn nur zu gut.

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