Читать книгу Freitod - Heribert Weishaupt - Страница 9
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ОглавлениеRonni und Susie saßen heute zeitiger am Frühstückstisch als an anderen Tagen. Er musste ausnahmsweise an diesem Montag mit Bus und Bahn zum Polizeipräsidium fahren.
Susies Auto hatten sie gestern am späten Nachmittag in die Werkstatt gebracht. Die Inspektion stand an und die Reparatur eines inzwischen fast fünf Monate alten Blechschadens sollte endlich erledigt werden. Während des Aufenthalts in der Ostseeklinik Kühlungsborn im April war sie beim Rückwärtseinparken ungebremst gegen einen Laternenpfahl gefahren. Als sie es Ronni erzählte, hatte dieser glücklicherweise den kleinen Unfall nicht zum Thema „Frauen und Parken“ gemacht.
Für die zwei, drei Tage, an denen ihr Wagen in der Werkstatt stand, hatte er ihr seinen Wagen versprochen. Nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, hatte sie eine kleine Damenboutique in Nümbrecht eröffnet. Die Tätigkeit macht ihr großen Spaß und inzwischen konnte sie auch einen ansprechenden Erfolg verbuchen. Die Fahrt mit Bus und Bahn nach Nümbrecht würde aber nahezu zwei Stunden betragen und das wollte er ihr nicht zumuten.
„Ich bin dann mal weg. Bis später. Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, bin ich früh wieder hier“, rief Ronni und wollte sich auf den Weg machen.
Susie räumte das Geschirr vom Frühstück in die Spülmaschine. Da sie im Gegensatz zu Ronni mit dem Wagen fahren konnte, hatte sie noch viel Zeit.
Ihr Freund war auf dem Weg zur Wohnungstür. Er hatte sich mit einem Schirm bewaffnet, denn das Wetter schien nicht einladend zu sein. So hatte er es zumindest durch einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster empfunden.
Doch bevor er die Hand auf den Türgriff der Wohnungstür legen konnte, hatte Susie ihn im Laufschritt eingeholt. Auch wenn die Trennung nur für acht oder zehn Stunden sein würde, drückte sie ihm zum Abschied einen dicken Kuss auf den Mund.
Seitdem sie aus der Rehamaßnahme zurück war, hatte sich ihr Verhältnis nochmals verbessert, obschon das nach seiner Meinung realistisch kaum möglich war. Aber er empfand das so. Sie war lockerer und liebenswerter geworden. Die Zeit der Scheidung schien sie überwunden zu haben und war kein Thema mehr.
Beim Öffnen der Haustür schlug ihm starker Regen entgegen. Mit Sommer hatte dieses Wetter nichts gemeinsam. Für die einhundert Meter bis zur Bushaltestelle musste er mit geöffnetem Schirm laufen, um nicht völlig durchnässt zu werden.
In Siegburg stieg er in die Straßenbahn um, die ihn bis fast direkt zum Präsidium bringen würde. Die zwei oder drei Minuten Fußweg von der Haltestelle zu seiner Dienststelle würden ihm nichts ausmachen – aber heute bei dem Regen? Abwarten, dachte er und drängte sich mit mehreren Fahrgästen in die Straßenbahn. In einer Vierer-Sitzgruppe war noch ein Platz am Gang frei und er setzte sich zufrieden dorthin.
Bisher hatte die Fahrt besser geklappt, als er es sich vorgestellt hatte, auch wenn er den Regen bei der Vorstellung nicht einkalkuliert hatte.
Es roch muffig, durch die nassen Kleider der Fahrgäste. Er schaute aus dem Fenster, obschon er so gut wie nichts draußen wahrnahm. Die Scheibe war mit Tropfen übersät und zudem beschlagen. Er sah ein, dass sein Unterfangen sinnlos war und wandte sich stattdessen den Fahrgästen zu. Vielleicht gibt es hier jemanden, den ich kenne und der genauso wie ich unter dem öffentlichen Nahverkehr und dem schlechten Wetter leidet, dachte er.
Neben ihm am Fenster saß eine große, korpulente Frau, die eine Frauenzeitung las und mehr Platz beanspruchte, als der Sitzplatz hergab und ihn doch erheblich in seiner Bewegung einengte. Aber was hieß hier Bewegung? Er wollte sich auch nicht bewegen und so lange würde die Fahrt auch nicht dauern. Ihr gegenüber stierte ein älterer Mann, so wie er vorhin, trotz Regentropfen und beschlagener Scheibe aus dem Fenster. Neben ihm, und damit Ronni gegenüber, saß eine junge Frau, die scheinbar in ein Buch vertieft war. Ihre Tasche lag auf ihrem Schoß und das Buch obenauf, sodass er nicht sehen konnte, um was für ein Buch es sich handelte. Wahrscheinlich ein Krimi. Alle Welt liest diese Krimis mit den tollen Kommissaren, die am Ende immer den Täter fassen, dachte er im Hinblick auf seine Tätigkeit ein wenig ärgerlich.
In dem Moment, als er das dachte, hob die Frau ihre Augen und schaute ihn direkt an.
Die Selbstmörderin – nein falsch, dachte er überrascht. Die beinahe Selbstmörderin.
Auch sie schien ihn, ihren damaligen Lebensretter, sofort erkannt zu haben. Sie war jetzt kein Vergleich zu der Frau von damals, vor fünf Monaten. Gebräuntes Gesicht, keine Schminke, wie er schätzte, gelocktes, schwarzes Haar. Insgesamt machte sie den Eindruck einer hübschen und gepflegten, jungen Frau.
„Hallo Sarah, wenn das kein Zufall ist. Du und ich in derselben Bahn und sogar in derselben Sitzgruppe“, tönte es laut und erfreut aus Ronnis Mund.
Durch seinen freudigen Gefühlsausbruch sah sich die Dame neben ihm veranlasst, ihm einen tadelnden Blick zuzuwerfen. Der ältere Mann ihr gegenüber beendete oder unterbrach zumindest seine Betrachtung der Regentropfen an der Scheibe und schaute Ronni erstaunt an.
„Hallo Robbie, schön dich zu sehen. Das ist wirklich ein Zufall, dass wir uns nach vielen Monaten hier treffen. Du fährst bestimmt zur Arbeit?“
„Nicht Robbie. Ronni, einfach Ronni“, verbesserte er sie.
„Ah ja, natürlich. Ronni.“
„Ja, ich habe zwei oder drei Tage kein Auto und fahre daher zum tatsächlich ersten Mal mit der Bahn zur Arbeit. Wie geht es dir?“, fragte Ronni jetzt fast im Flüsterton und lehnte sich etwas nach vorne.
„Am liebsten gut.“
Na, diesen altbekannten Ausspruch hättest du dir schenken können, dachte er.
„Wie ist es mit deinem Freund? Hast du ihn doch noch angezeigt?“
„Nein, das habe ich nicht. Das ist endgültig erledigt und vorbei. Mein Vater hat noch vor seinem Tod mit ihm gesprochen und ihm anscheinend eindringlich gesagt, dass er mich künftig in Ruhe lassen soll. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Weiß du, mein Vater kann sehr bestimmend sein, wenn es sein muss.“
„Dein Vater ist verstorben? Das tut mir leid. Bei dir kommt aber zurzeit alles Schreckliche zusammen. Zuerst die Sache mit deinem Freund und dann der Tod deines Vaters. Ist er plötzlich und unerwartet verstorben oder war er bereits länger krank?“
„Durch einen Unfall. Er war total fit und gerade einmal sechzig Jahre alt.“
„Furchtbar. Ein Verkehrsunfall wahrscheinlich?“
„Nein. Er war mit dem Kanu auf dem Rhein und ist nicht mehr nach Hause gekommen. Das Boot wurde kurz hinter Bonn gefunden. Mit dem Kiel nach oben. Von meinem Vater keine Spur – bis heute. Er ist mit Sicherheit ertrunken.“
„Wie tragisch“, bekundete Ronni seine Anteilnahme.
„Ja, das stimmt. Insbesondere wenn man bedenkt, dass er sein Leben lang Kanu gefahren ist. In jungen Jahren sogar als Leistungssportler. Die letzten Jahre fuhr er nur zur Entspannung und zum Abbau vom beruflichen Stress manchmal auf dem Rhein.“
„Das ist alles sehr traurig und war auch für dich sicher eine schlimme Zeit, aber es freut mich, wenn es dir jetzt wieder gut geht. Hast du inzwischen eine neue Beziehung oder lebst du noch allein in Menden?“
„Ja, ich wohne noch immer in Menden. Von Männern habe ich aber noch immer die Nase voll, wie du bestimmt verstehen kannst. Du bist natürlich davon ausgenommen“, lachte sie.
„Naja, ich habe nur getan, was ich tun konnte“, wiegelte Ronni ab.
„Bei der nächsten Haltestelle am Bahnhof Beuel muss ich aussteigen. Tschüss, und mach`s gut“, sagte sie und stand auf.
„Ich fahre noch bis Ramersdorf. Was hältst du von einem unverbindlichen Feierabendbier, wenn wieder einmal die Sonne scheint? Ich kenne noch nicht einmal deinen Nachnamen. Hast du eine Telefonnummer?“
„Gib mir deine Hand.“
Ronni hielt ihr seine Hand hin und in Windeseile hatte sie einen Kugelschreiber gezückt und schrieb ihm auf den Handrücken, wahrscheinlich ihre Telefonnummer.
In dem Moment gingen die Türen der Bahn auf und sie entschwand im Regen.
Ronni betrachtete die Zahlen auf seinem Handrücken und überlegte, ob er sie sofort abschreiben sollte. Er befürchtete, dass der Regen die Zahlen verwischen könnte, wenn er ausstieg. Doch dann hatte er einen Einfall. Er nahm sein Smartphone und machte ein Foto von seiner Hand.
Die Frau neben ihm hatte, seitdem er sich mit Sarah unterhalten hatte, keinen Blick mehr in ihre Frauenzeitschrift geworfen. Auch der ältere Mann gegenüber schien das Interesse am Regen verloren zu haben. Ronni meinte, ein zustimmendes Nicken bei ihm beobachtet zu haben, als er mit seinem Smartphone seinen Handrücken fotografierte.
Bis zur Endstation in Ramersdorf leerte sich die Bahn merklich. Als er ausstieg, befand er sich nur noch mit wenigen Auserlesenen in der Bahn, die ebenfalls dort ausstiegen und eilends in alle Richtungen in den Regen verschwanden.
Er öffnete seinen Schirm und ging gemächlichen Schrittes in Richtung seiner Dienststelle. In Gedanken war er noch immer bei der zufälligen Begegnung in der Bahn.
Wie sich ein Mensch in wenigen Monaten doch verändern kann, dachte er. Bei ihrer ersten, einschneidenden Begegnung im April wirkte sie verzweifelt, schüchtern und sie schien sich selbst nicht zu mögen. Heute machte sie auf ihn den Eindruck einer selbstsicheren, strahlenden, das Leben bejahenden, jungen Frau. Wenn er sich ihr Bild nach diesen wenigen Minuten erneut ins Gedächtnis rief, musste er sich eingestehen, dass ihm dieses Bild gefiel.
Zum Glück hatte er ihr nicht gesagt, dass er Kommissar bei der Kriminalpolizei war. Er hatte festgestellt, dass es die meisten Menschen abschreckt, sich privat mit einem Polizisten zu unterhalten. Wie hatte sein ehemaliger Kollege Frank Eisenstein einmal gesagt: Wenn die Menschen in Not sind oder Hilfe benötigen, rufen sie nach der Polizei. Geht es ihnen wieder gut, sehen sie die Polizei lieber von hinten.
Trotzdem beschloss er, sie in Kürze anzurufen und wenn möglich ein Treffen mit ihr zu vereinbaren.