Читать книгу Freitod - Heribert Weishaupt - Страница 8

1 April 2019

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Es war so ein trister Samstagabend, so wie die letzten beiden vorher. Seit heute stand fest, dass noch einige weitere folgen würden.

Ronnis Freundin Susie befand sich seit mehr als zwei Wochen in einer Rehabilitationsmaßnahme. Die Scheidung von ihrem Mann, er war Gynäkologe und hatte es schamlos mit einigen Patientinnen getrieben, hatte ihr sehr zugesetzt. Ihr Arzt fand, dass für sie eine Kur angezeigt war. Nach reiflicher Überlegung hatte sie zugestimmt. Damals kannte sie Ronni noch nicht. Heute hatte sich entschieden, dass die ursprünglich für drei Wochen vorgesehene Reha-Maßnahme um weitere zwei Wochen verlängert wurde. Am Morgen hatte Susie Ronni angerufen und ihn informiert. Er war darüber nicht sehr begeistert.

Ronni lebte noch nicht offiziell mit Susie zusammen, aber was hieß das schon. Wenn er nach Dienstende sagte, ich fahre nach Hause, meinte er Susies Eigentumswohnung in Siegburg-Seligenthal. Natürlich war das Wohnen in ihrer luxuriösen, hundertvierzig Quadratmeter großen Wohnung wesentlich angenehmer als in seiner sechzig Quadratmeter großen Zweizimmer-Wohnung in Bonn.

Das war aber nicht der eigentliche Grund, weswegen er sich in Susies Wohnung so wohl fühlte. Er liebte Susie und er war glücklich, wenn er jeden Tag und jede Nacht mit ihr zusammen sein konnte.

Trotzdem wollte er seine kleine Wohnung in Bonn nicht aufgeben. Man weiß ja nie …, war so ein Gedanke in der hintersten Ecke seines Gehirns. Dafür hatte er in seinem Leben auch schon zu viel Negatives erfahren, als dass er alle Eventualitäten einfach zur Seite wischen konnte. In der Zeit, in der Susie sich in der Reha-Maßnahme befand, lebte er wieder in seiner kleinen Wohnung. Die Wohnung in Seligenthal war ihm einfach zu groß und dort würde er sich ohne seine Freundin noch einsamer fühlen.

Ohne besonderen Plan war Ronni mit dem Zug nach Troisdorf gefahren. Durch seine Ermittlungsarbeit in verschiedenen Fällen kannte er Troisdorf. Er mochte die Überschaubarkeit der Kleinstadt an manchen Tagen mehr als die Hektik in Bonn oder Köln. An diesem Abend war er lustlos durch die menschenverlassene Fußgängerzone geschlendert.

Jetzt saß er seit fast zwei Stunden an der Theke in einer der vielen Troisdorfer Bars und Kneipen. Schaute lustlos dem jungen Mann hinter der Theke bei dessen Tätigkeiten zu. Um ihn herum nur lachende, gut gelaunte Menschen. Manchmal drang ein frivoles Lachen einer Frau an sein Ohr, manchmal vernahm er irgendwelche Sprachfetzen und hin und wieder auch den Teil einer belanglosen Unterhaltung.

Der allgemeine, hohe Geräuschpegel im Lokal überlagerte grundsätzlich alles. Er machte sich jedoch auch nicht die Mühe, genauer hinzuhören, um etwas zu verstehen oder sogar zu analysieren. Er hatte einfach kein Interesse. Ein halbvolles Glas Bier stand vor ihm, inzwischen sein viertes. Er wusste, er trank zu schnell und er passte hier eigentlich nicht hin – zumindest nicht in seiner jetzigen Stimmung. Aber welche Alternative hatte er, wenn er nicht allein zu Hause vor dem Fernseher sitzen wollte und darauf warten, dass er irgendwann aus Langeweile oder Frustration einschlafen würde?

Als er noch beim ersten Bier war, setzte sich eine junge Frau auf den noch freien Barhocker neben ihm. Wallendes, blondes Haar, top Figur, die sie gekonnt zur Geltung brachte. Bereits nach wenigen Minuten sprach sie ihn an und sie kamen ins Gespräch. Belangloses, ob er öfter hier wäre? Er verneinte. Es wäre ihre Stammkneipe, ob er auch eine Stammkneipe hätte. Er verneinte erneut und konterte damit, dass es für April auch abends noch sehr warm sei. Wahnsinn!

Trotz des inhaltslosen Gesprächs fühlte er sich geschmeichelt, schließlich schien sie wesentlich jünger als er zu sein. Gehöre ich doch noch nicht zum alten Eisen? Habe ich bei jüngeren Frauen vielleicht doch noch eine Chance? Jetzt, beim vierten Bier, hätte er sich womöglich anders verhalten und wäre einem kleinen Flirt an der Theke nicht abgeneigt gewesen. Doch zu Beginn des Abends hatte er noch einen klaren Kopf und war vernünftig. Hatte er doch Susie, mit der er richtig glücklich war. Außerdem strengte ihn das nichtssagende Gespräch mit der jungen Frau zu sehr an. Mit jedem Satz, jeder Frage, schwand sein Interesse an der blonden Schönheit immer mehr. Beim zweiten Bier raffte er sich dazu auf, ihr freundlich, aber bestimmt klarzumachen, dass er allein sein wollte und sie ihren Charme nicht unnütz an ihn verschwenden sollte. Leicht pikiert suchte sich die junge Frau daraufhin ein zugänglicheres Opfer im inzwischen voll besetzten Lokal.

Danach genehmigte er sich zum Bier zusätzlich einen klaren Schnaps, sozusagen als Trost oder zur Bestätigung seines Alleinseins. Er wusste nicht genau, welcher Grund ausschlaggebend war, wahrscheinlich waren es beide Gründe.

Seitdem grübelte er darüber, weswegen er überhaupt die Bar aufgesucht hatte, wenn er doch grundsätzlich allein und für seine Mitmenschen unzugänglich sein wollte. Allein sein konnte er genauso gut zu Hause. Bier hatte er mit Sicherheit noch in ausreichender Menge im Kühlschrank.

Im Spiegel an der Wand ihm gegenüber sah er, dass die junge Frau inzwischen jemand anderes gefunden hatte, der ihren Charme bereitwillig konsumierte. Der Mann, schätzungsweise noch älter als Ronni selbst, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und beide kicherten um die Wette. So ist es nun einmal im Leben: Jeder Topf findet seinen Deckel, dachte er.

Als sie mit ihrem Auserwählten Arm in Arm das Lokal verließ, gestand er sich ein, dass es vergeudete Zeit für ihn war, weiterhin an der Theke zu sitzen und sich volllaufen zu lassen. Er trank sein Bier aus, bezahlte und verließ ebenfalls das Lokal.

Draußen standen die besagte, junge Frau und ihre Eroberung eng umschlungen in einer Hausecke und küssten sich.

Das hätte ich sein können, dachte Ronni nicht ganz ohne einen Funken Neid. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Eroberung sicherlich am nächsten Morgen wieder allein sein würde. Er schätzte die junge Frau so ein, dass sie jemand gesucht hatte, der ihre Zeche zahlte und ihr für diese Nacht das Bett wärmte. Nein, das war schon gut so, wie es war. In zwei Wochen würde Susie wieder zurück aus der Reha sein und er brauchte keine Abenteuer. Lediglich das Alleinsein setzte ihm stark zu, was wiederum ein gutes Zeichen war, da ihm dadurch klar wurde, wie sehr er Susie vermisste.

Langsam schlenderte er auf dem Bürgersteig entlang der Siebengebirgsallee Richtung Sieg.

Inzwischen hatte er die letzten Häuser passiert und die Straße, die in einem Bogen um die Mannstaedt-Werke herumführte, war nur spärlich ausgeleuchtet. Dieses verdammte LED-Licht. Wer mag der Urheber dieser Idee gewesen sein und was mag die Umstellung aller Straßenlaternen auf dieses Schummerlicht die Stadt gekostet haben, regte er sich innerlich auf. Anschließend schlug der Ärger gegen sich selbst um, da er sich über solche Nichtigkeiten aufregte, die er eh nicht ändern konnte. Vielleicht war es doch im Nachhinein dumm von ihm gewesen, die Chance einer wunderbaren Nacht mit dieser Schönheit aus der Kneipe vertan zu haben und sein Ärger hatte darin seinen Ursprung.

Nur selten begegnete ihm ein Auto, das einen Moment lang für etwas mehr Licht sorgte. Auch wenn die Temperaturen tagsüber manchmal die Nähe von zwanzig Grad erreichten, sanken sie, sobald die Sonne untergegangen war, erheblich ab und am frühen Morgen zeigte das Thermometer öfter unter zehn Grad an. Er hatte den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Auch wenn er es nicht direkt vor sich selbst zugeben wollte, hätte er jetzt lieber auf den Spaziergang verzichtet. Aber ich bin doch kein Weichei, dachte er, um sich ein wenig aufzumuntern.

In einiger Entfernung konnte er die Umrisse der Mendener Brücke sehen, die sich über die Sieg spannte und den Troisdorfer Stadtteil Friedrich-Wilhelms-Hütte mit dem Sankt Augustiner Stadtteil Menden verband.

Sein Plan sah vor, der Straße in Richtung Friedrich-Wilhelms-Hütte zu folgen und dort am kleinen Bahnhof auf den nächsten Zug nach Bonn zu warten. Vielleicht würde er auch ein Taxi rufen, falls die Wartezeit zu lange dauern sollte.

Als er sich auf Höhe der Brücke befand, stutzte er und strengte seine Augen an. Stand dort nicht in der Mitte der Brücke eine Gestalt auf dem Brückengeländer? Nein, Unsinn, das ist nicht möglich, dachte er.

Er zählte im Geiste noch einmal nach. Er hatte vier Bier und einen klaren Schnaps getrunken. So vernebelt konnte seine Wahrnehmung doch nicht sein. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, aber die erste Erkenntnis änderte sich nicht. Dort stand zweifelsohne eine Person auf dem Brückengeländer, die anscheinend im Begriff war, zu springen. Wenn er sich nicht völlig täuschte, war es eine weibliche Person.

Mit einem Mal war Ronni klar, was hier vor sich ging. Mit Sicherheit wollte sich eine Frau vom Brückengeländer in den Fluss stürzen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und erneut bahnte sich der Ärger in ihm seinen Weg in sein Gehirn. Wäre ich bloß nicht diesen Weg gegangen. Hätte ich mich doch auf die Frau im Lokal eingelassen, läge ich jetzt im warmen Bett und könnte die Nacht genießen, dachte er. Stattdessen stand er in der Dunkelheit an dieser Brücke und war gezwungen, einer Selbstmörderin bei der Ausführung ihres Plans zuzusehen. Wenn er noch einige Biere mehr getrunken hätte, würde er jetzt dem Ärger die Oberhand überlassen und einfach umkehren. Hätte, hätte, hätte – so war es aber nicht. Er stand hier und sah die Frau auf der Brücke. Er musste sich entscheiden, ob er weitergehen oder der Frau helfen sollte.

Junge Frau sprang von der Brücke in den Tod. Kein Zeuge, der den Vorgang beobachtet hat“, könnte die Schlagzeile am nächsten oder übernächsten Tag in der Zeitung lauten.

Oder: „Frau stürzte von der Brücke in den Tod. War es Selbstmord oder Mord?“

Er würde die Antwort kennen. Er würde wissen, wie es tatsächlich gewesen war. Er wäre der Zeuge, den niemand kannte. Der nicht eingeschritten war, aber der wusste, dass die Frau Selbstmord verübt hatte. Vielleicht aus Verzweiflung, aus Angst oder einfach nur aus Müdigkeit am Leben. Niemand würde jemals den wahren Grund erfahren. Sie würde nur eine nichtssagende Ziffer in der Statistik der unaufgeklärten Todesfälle sein. Könnte er mit diesem Wissen, diesem Versäumnis und dieser Feigheit leben?

All diese Gedanken gingen ihm in Windeseile binnen weniger Sekunden durch den Kopf.

Das Leben geht manchmal eigene Wege und man ist halt so, wie man ist. Der Ärger hatte den Kampf um die Oberhand verloren. Die Vernunft und das Verantwortungsgefühl hatten gewonnen. Er konnte unter keinen Umständen umkehren und die Frau ihrem selbstgewählten Schicksal überlassen.

Allerdings wusste er nicht sofort, wie er die Situation in den Griff bekommen könnte. Hilfe war nicht zu erwarten. Ein vorbeifahrendes Auto anhalten? Wozu? Wann würde das nächste Auto über die Brücke fahren? Um diese Uhrzeit war auf diesen Straßen hier so gut wie kein Autoverkehr mehr. Wenn das nächste Auto die Brücke passieren würde, wäre es vielleicht bereits zu spät. Die nächste Frage war, würde überhaupt jemand anhalten? Falls er Glück hätte, dass ein Auto käme und der Fahrer anhalten würde, war immer noch die Frage, wobei ihm der Autofahrer helfen sollte. Gerade, als er das dachte, passierte ein Auto die Brücke und fuhr, ohne die Geschwindigkeit zu verringern achtlos an der Frau und ihm vorüber. Zu viele „hätte“ und „wäre“, fand er. Eine solche Aktion würde die Frau nur unnötig unter Stress setzen und dazu bringen, ihr Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen.

Mit einem Mal war Ronni hellwach, als wenn man ihm einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf gegossen hätte und er wusste, was er zu tun hatte.

Schnell überquerte er die Straße und ging langsam auf die Frau zu. Sie stand unbeweglich auf dem Brückengeländer und stierte in die Tiefe. Mit der linken Hand hielt sie sich am Stahl des Brückenbogens fest, der sich bis zur anderen Flussseite spannte. Ihm war klar, wenn sie diesen sicheren Halt losließe, würde sie unweigerlich in die Tiefe stürzen.

Noch ungefähr fünfzehn Meter bis zu der Frau. Er blieb kurz stehen.

„Warten Sie. Das nimmt kein gutes Ende, was Sie da vorhaben. Ich komme etwas näher, wenn Sie nichts dagegen haben“, rief er in ruhigem und nicht zu lautem Ton, denn er durfte die Frau auf keinen Fall erschrecken.

Die Frau schreckte sichtlich aus ihren Gedanken hoch, ohne in die Richtung zu schauen, aus der die Worte an ihr Ohr drangen. Sie drehte ihren Oberkörper ein wenig und legte auch die zweite Hand an den Stahl der Brücke. Dabei schwankte ihr Körper leicht nach vorne.

Er machte ein paar Schritte und redete ruhig weiter.

Noch zehn Meter bis zu der Frau.

„Ertrinken ist sowieso kein so schöner Tod, als wie er immer dargestellt wird. Es gibt da wesentlich bessere, schnellere und nicht so schmerzhafte Möglichkeiten.“

Die Frau war vielleicht Mitte zwanzig, schätzte er. Sie trug eine dunkle, dünne Jacke, Jeans und blaue Sneakers. Jetzt drehte sie das Gesicht zum ersten Mal langsam in seine Richtung und wurde von einer Straßenlaterne erhellt. Schwarze, zerzauste Haare umrahmten ein hübsches Gesicht, das aber grau und fahl im Licht der Laterne erschien. Lediglich die Lippen waren mit einem knallroten Lippenstift geschminkt. Auf ihn wirkte das Gesicht wie eine Maske. Die Frau betrachtete den Störer mit einer Miene aus Erstaunen und Feindseligkeit.

„Lassen Sie mich in Ruhe … sonst … springe ich“, sagte sie leise und stotternd.

Noch acht Meter.

„Das wollten Sie doch sowieso. Wenn Sie nicht gestört werden wollten, hätten Sie Ihr Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt, eventuell nach Mitternacht, planen sollen. Und wie gesagt, das was Sie vorhaben, nimmt kein gutes Ende.“

Er wusste, dass er weitersprechen musste, solange die Frau ihn anschaute. Aus einschlägiger Literatur wusste er auch, dass ein Selbstmörder im Regelfall keine Zuschauer bei seiner Tat haben möchte.

Noch sechs Meter, dann hatte er sie erreicht.

Vielleicht konnte er sie greifen und vom Geländer ziehen. Zum ersten Mal schaute er hinunter zur Sieg, die mit starker Strömung in Richtung Rhein floss. Er hörte, wie das Wasser gegen den Pfeiler der Brücke klatschte und die Geräusche der nahen Autobahn.

„Auch wenn durch den enormen Regen der letzten Woche der Wasserspiegel der Sieg stark gestiegen ist, werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ertrinken. Wenn Sie das vorhatten, hätten Sie den Rhein auswählen sollen. Sie werden lediglich unliebsam aufschlagen, sich alle möglichen Knochen brechen. Wenn Sie Glück haben, sogar das Genick, falls Sie den Mut aufbringen, kopfüber hinunterzuspringen. Dann wäre Ihr Plan aufgegangen. Wahrscheinlich aber werden Sie nicht sterben. Das Wasser ist zu dieser Jahreszeit sehr kalt. Mit Sicherheit werden Sie sich eine Erkältung holen und wahrscheinlich werden Sie schwerverletzt sein. Im schlimmsten Fall sogar querschnittgelähmt. Ist das Ihr Plan? Sicher nicht.“

Das mochte eine unpassende und zu lange Ansprache sein, aber es handelte sich noch nicht einmal um eine zweckdienliche Lüge. Er brachte sie zumindest dazu, sich auf ihn zu konzentrieren und ihr Vorhaben für einige Augenblicke hintenan zu stellen.

„Verschwinden Sie“, zischte die Frau und schaute wieder in die Tiefe.

Er machte erneut wenige, kurze Schritte.

Noch fünf Meter.

„Es gibt Schöneres, als ein Leben im Rollstuhl zu verbringen und auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich helfe Ihnen von diesem Geländer herunter und ich lade Sie zu einem Glas Wein ein. Was halten Sie davon?“

„Dummes Gerede von jemandem, der keine Ahnung hat. Gehen Sie nach Hause zu Frau und Kinder und lassen Sie mich in Ruhe“, entgegnete sie und wandte dabei wieder den Blick ihm zu.

Ihre Kiefer mahlten. War das ein Zeichen von Nervosität oder Unsicherheit? Unsicherheit, weil sie eventuell an ihrem Vorsatz, in die Tiefe zu springen, zweifelte?

Noch drei Meter.

Immer näher arbeitete er sich an sie heran.

„Falsch. Ich habe keine Frau und auch keine Kinder, aber ich habe Erfahrung in solchen Sachen, wie die, die Sie vorhaben. Ich habe leider schon zu oft den Tod, schwere Verletzungen und daraus resultierende Pflegefälle gesehen. Auch war ich selbst schon einmal an einem Punkt, wo ich dachte, es geht nicht mehr weiter.“

Er machte eine kurze Pause. Er wollte seine letzten Worte erst einmal wirken lassen. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass man seinem Gegenüber Mitgefühl suggerieren soll, wenn man etwas von ihm erfahren möchte oder wenn man dessen Handeln ändern will. Von einem ähnlichen, eigenen Erlebnis zu berichten, kann dabei hilfreich sein.

„Meine damalige Frau hatte mich auf Mallorca in eine Schlucht gestürzt und ich bin nur mit knapper Not dem Tod entronnen, weil ich leben wollte. Ich weiß seitdem, wie schön das Leben sein kann“, fuhr er fort.

„Auch für Sie wird es einen neuen Anfang geben und irgendwann werden Sie rückblickend feststellen, dass Ihr jetziger Plan keine Lösung war und werden froh sein, ihn nicht umgesetzt zu haben“, schloss er mit einer positiven Aussicht.

Noch zwei Meter und er hatte sie erreicht.

Die Frau stand vollkommen still. Dachte sie über seine Worte nach?

„Nein, ich will nicht mehr zurück“, stammelte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fluss zu.

Sie ließ die Hand, mit der sie zuletzt zusätzlich den kalten Stahl der Brücke ergriffen hatte, los. Nur mit einer Hand sicherte sie noch ihr Gleichgewicht und machte Anstalten, auch diesen unsicheren Halt loszulassen.

Anscheinend war seine Strategie nicht so erfolgreich, wie er erhofft hatte. Aber aufgeben war für ihn keine Option.

„Natürlich können Sie zurück. Was Sie davon abhält, mein Angebot anzunehmen, ist lediglich die Scham vor sich selbst, sich einzugestehen, dass Sie nachgegeben haben. Womöglich betrachten Sie es als Niederlage, einen gefassten Vorsatz zu ändern. Aber machen Sie sich keine Gedanken. Nur Sie und ich wissen von diesem Abend. Jetzt den Plan zu ändern und meine Hand zu ergreifen, ist keine Schwäche, sondern Stärke.“

Ronni, von der Frau unbemerkt, die letzten Schritte näher zu ihr vorgedrungen. Er konnte sie fast mit dem ausgestreckten Arm erreichen. Er streckte ihr seine Hand entgegen.

War es ein Geistesblitz, war es Eingebung oder war es seine Erfahrung? Er wusste, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man erahnen will, wie er reagieren wird. Auf die Körperspannung! Bisher waren es immer nur Gegner, denen er gegenüberstand. Zum ersten Mal war es eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte.

Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte und ihn ansah, wusste er, spürte er, dass sie sich entschieden hatte. Dass all sein Gerede und seine Bemühungen vergeblich gewesen waren. Dass sie sich fallen lassen würde.

Mit einem Ruck drehte die Frau ihren Kopf und schaute in das trübe Wasser der Sieg und ließ ihre Hand los. Ronni sah, wie sie ihre Arme nach oben riss und fast, wie in Zeitlupe nach vorne kippte.

Nur noch ein Meter. Ein lächerlicher Meter. Ronni schien diesen letzten Meter bis zu ihr zu fliegen. Dann packte er zu. Entschlossen, erbarmungslos und mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, fasste er ihren Arm und zog sie zurück. Bevor sie auf den rettenden Asphalt des Bürgersteigs aufschlug, fing er sie auf.

Er konnte nicht umhin, sie erleichtert in die Arme zu nehmen. Sie drückte ihren Kopf an seine Schulter und blieb lange in seinen Armen hängen. Sie weinte leise und zitterte, das konnte er deutlich durch die dünne Jacke spüren.

Ronni sog die Luft tief in seine Lungen ein und stieß sie wieder kräftig aus. Auch er benötigte einige Augenblicke, um seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Da haben wir noch einmal Glück gehabt“, sagte er erleichtert.

Die Frau hob den Kopf und sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. War es Erleichterung, was er in ihren Augen sah?

Er wusste es nicht. Auf jeden Fall sah er keinen Zorn oder Wut darüber, dass er sie gerettet hatte.

„Nun wollen wir mal sehen, ob wir irgendwo ein warmes Plätzchen finden, wo wir uns von dem aufregenden Abend erholen können. Vielleicht können wir dort auch noch das versprochene Glas Wein trinken“, spielte er gute Laune vor, obschon er alles andere als gut gelaunt war.

Die Frau sagte nichts. Noch immer sah sie ihn an und hielt sich bei ihm mit beiden Händen fest, als würde sie befürchten, umzufallen, wenn er sie losließe. Auch Ronni hielt sie mit den Händen an den Schultern und schaute sie an.

Natürlich freute er sich, dass er die Frau davon abgehalten hatte, ihr Leben wegzuwerfen. Aber deshalb gute Laune? Nein, auch er war geschockt und musste zuerst einmal verarbeiten, was er erlebt hatte.

„Danke“, hauchte sie leise, fast unhörbar.

Dann löste sie sich von Ronni und trat einen Schritt zurück.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe“, sagte sie.

Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, aber sie schien sich langsam zu erholen.

„Nein, ich lasse Sie jetzt auf keinen Fall allein nach Hause gehen. Wir werden uns einen Ort suchen, wo wir uns unterhalten können. Wir sollten das, was wir soeben erlebt haben, versuchen zu verarbeiten. Und das geht nur, wenn wir darüber sprechen. Irgendwo wird es hier eine ruhige Ecke in einem Lokal geben.“

„Ich habe leider kein Geld dabei. Ich denke, es ist besser, dass ich doch nach Hause gehe“, antwortete sie kleinlaut.

„Das kann ich verstehen. Wenn man von der Brücke springen will, nimmt man sicherlich keine Geldbörse mit. Ich habe heute meinen großzügigen Tag. Ich denke, der Wein geht auf meine Kosten“, antwortete Ronni locker.

Ohne Absprache mit der Frau schlug er den Weg über die Brücke nach Menden ein. Sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und trottete recht langsam neben ihm her. Wahrscheinlich hatte die Aktion – und wer weiß wie lange sie bereits gedauert hatte, bevor er die Frau erblickte – sie-nicht nur mental, sondern auch körperlich eine Menge Kraft gekostet.

„Wenn ich diesen Ort so sehe, kann ich nicht versprechen, ob wir ein Lokal finden, welches um diese Zeit noch geöffnet hat“, gab er zu bedenken, als sie die ersten Häuser vom Ortsteil Menden auf der anderen Flussseite erreichten.

Sie gab keine Antwort, sodass er davon ausging, dass auch sie nicht ortskundig war. Nach vielleicht einhundert Metern sah er die Leuchtreklame eines Restaurants. Sie gingen hinein.

„Wir schließen in einer guten halben Stunde“, sagte der Wirt, als sie das Lokal betraten.

Er stand hinter der Theke und musterte die junge Frau mit einem kritischen Blick. Wahrscheinlich hatte er so viel Menschenkenntnis, dass er spürte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Vielleicht waren es auch nur die zerzausten Haare und das noch immer blasse Gesicht.

„Ist in Ordnung. Wir wollen uns nur kurz aufwärmen und einen Wein trinken“, sagte Ronni und zog die Frau am Arm mit hinein.

Das Lokal war so gut wie leer und sofort umgab sie eine angenehme Wärme. Sie setzten sich in eine Ecke und Ronni bestellte zwei Rotwein.

„Ich hoffe, Sie trinken einen Rotwein?“, fragte er.

Sie nickte nur mit dem Kopf, schaute ihn nicht an, sondern starrte auf die Tischplatte vor sich.

Irgendwie muss ich es doch schaffen, ein Gespräch mit ihr zu führen, dachte er. Doch das schien nicht so einfach. Nachdem der Wirt die beiden Gläser vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte, hob er sein Glas, schaute sie an und sagte: „Ich heiße übrigens Ronni. Ich finde, nach dem, was wir in der letzten Stunde gemeinsam erlebt haben, könnten wir du zueinander sagen. Findest du das nicht auch?“

„Mein Name ist Sarah“, sagte sie leise und hob vorsichtig das Weinglas, trank einen kleinen Schluck, schaute ihn aber nicht an.

So vorsichtig, wie sie das Glas angehoben hatte, stellte sie es auch wieder auf den Tisch. Das wird ja eine lustige Unterhaltung, dachte er. Sie saßen eine Weile schweigend zusammen. Vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine volle Minute. Jeder schaute vor sich auf sein Glas Wein.

„Wann haben Sie … wann hast du dich dazu entschlossen?“, fragte er.

„Wozu?“

„Von der Brücke zu springen. War das ein spontaner Entschluss oder hast du das bereits länger geplant?“

„Das war ganz spontan. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich war fertig“, sagte sie und Ronni bemerkte, wie sie mit ihren Tränen kämpfte.

Sie klang erschöpft. Ronni hatte den Eindruck, dass sie etwas Schlimmes erlebt hatte. Er wollte sie dazu bringen zu reden. In vielen Fällen hilft es, wenn man sein Erlebtes jemandem erzählen kann. Er wollte dieser Jemand sein und zuhören.

„Was ist geschehen? Möchtest du darüber reden?“, fragte er und legte seine Hand zu ihrer Beruhigung auf ihre. Zum ersten Mal schaute sie ihn an und er blickte in wunderschöne, braune, aber verängstigte Augen. Ihre Augenlider zuckten. Ein Zeichen für Stress und Anspannung. Dann schaute sie wieder auf ihr Weinglas, atmete hörbar ein und begann:

„Ich bin von diesem Scheißkerl weggerannt. Immer diese Erniedrigungen, diese Gewalt. Ich habe ihn angebettelt, angeschrien er soll mich in Ruhe lassen – ich will nicht, habe ich geschrien – immer wieder. Dann hat er mich vergewaltigt und ist danach einfach ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernseher eingeschaltet, als wäre nichts gewesen.“

Sie stockte. Sie hatte sich beinahe in Rage geredet. Ronni konnte fast sehen, wie ihr Herz hämmerte. Er verstärkte den Druck auf ihre Hand, die er immer noch umfasste.

„Dann klingelte es und sein Freund kam“, fuhr sie fort.

Sie hielt erneut inne. Ronni ahnte, was dann geschah.

„Du musst nicht weitersprechen. Ich kann mir vorstellen, was dann geschah“, sagte er mitfühlend.

„Nein, das kannst du dir nicht vorstellen. Du hast keine Ahnung.“

Ihre Stimme war laut, ihr Körper straffte sich und sie schaute Ronni fast wütend an. Dann sank sie wieder in sich zusammen und schaute wie vorher ihr Glas an. Ronni wartete.

„Danach haben sie mich ausgelacht und Witze über mich gemacht. Ich habe mich schnell angezogen und bin aus der Wohnung gelaufen, zu meinem Wagen. Ich bin planlos umhergefahren, bis ich in Menden an der Brücke landete. Dort bin ich ausgestiegen.“

Sie brach ab. Sie wusste, dass Ronni den Rest kannte.

Nach diesem Gefühlsausbruch schaute sie Ronni wieder an. Ihre Augen waren voller Tränen, die unbeachtet ihre Wangen hinunterliefen.

Erst jetzt bemerkte Ronni die roten Striemen am Hals und auf den Händen. Sie hatte die Jacke nicht ausgezogen. Ronni wollte sich nicht vorstellen, welche Hinweise auf Gewaltexzesse sie noch unter der Jacke auf ihrem Körper verbarg.

„Wie kann er mir so etwas antun? Wir haben uns doch einmal geliebt“, stellte sie jetzt die Frage, die sie bereits vorher sich selbst gestellt und keine Antwort gefunden hatte.

„Ich verstehe,“ sagte Ronni, obschon er nicht verstand.

Er verstand nicht, wieso eine junge Frau ihr Leben auf diese Art wegwerfen wollte. Sei der Grund auch noch so schwerwiegend, schließlich hatte man nur ein Leben. Er war der Überzeugung, dass es immer einen Ausweg gab.

„Hat er dich vorher bereits öfter geschlagen?“

„Ja, wenn er getrunken hatte. Danach hatte er sich immer entschuldigt und ich habe ihm jedes Mal wieder verziehen.“

„Wirst du ihn anzeigen?“, fragte Ronni vorsichtig.

„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern und fügte resigniert hinzu: „Nein, ich denke nicht. Das bringt doch nichts.“

„Ich bin der Meinung, so solltest du nicht denken. Ich finde, eine Person, die dir so etwas antut, sollte ihre Bestrafung erhalten. Ich könnte dir dabei helfen. Ich kenne Polizeibeamtinnen, die mit Frauen, denen man so eine Straftat angetan hat – und eine Straftat ist es nun einmal – einfühlsam umgehen.“

„Nein. Ich möchte das nicht“, sagte sie bestimmt und Ronni sah ein, dass er diese Entscheidung akzeptieren musste. Zumindest für den Augenblick.

„Du hast so etwas Schlimmes erlebt und ich finde, du solltest mit einem Arzt, vielleicht auch Psychologen, darüber sprechen. Oft ist es besser, wenn man Hilfe bekommt und nicht allein damit fertigwerden muss. Ich könnte dir bei der Suche eines Arztes behilflich sein.“

„Nein, danke. Das ist nicht notwendig. Ich habe meinen Papa. Wir verstehen uns sehr gut und er wird mir gerne helfen“, sagte sie entschieden und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht überzeugend gelang.

Auch diese Entscheidung musste Ronni akzeptieren, selbst wenn er grundsätzlich anderer Meinung war.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte er besorgt.

Ihm war nicht ganz klar, ob der „Scheißkerl“, wie sie ihn nannte, ihr Mann oder ihr Freund war. Fall es ihr Mann war, konnte sie unmöglich nach Hause zurück.

„Nach Hause. Ich habe hier in Menden eine kleine Wohnung. Meinen Wagen habe ich unterhalb der Autobahnbrücke an der Sieg abgestellt. Von dort bin ich auf die Siegbrücke gegangen.“

„Und wo wohnt dein Freund? Ich vermute, dass er nicht dein Mann ist.“

„In Sankt Augustin. Zum Glück ist er nicht mein Mann. Und Freund? Das ist vorbei. Jetzt endgültig.“

Sie sagte das sehr entschlossen und bestimmt.

„Und wegen so einem Typ wolltest du von der Brücke springen? Sei froh, dass du es nicht getan hast.“

„Ja, jetzt bin ich das auch. Als ich auf dem Geländer stand, kamen mir schon Zweifel. Sonst wäre ich längst gesprungen, bevor du kamst. Ich war mir nicht mehr sicher und hatte keinen Mut.“

„Keinen Mut zu springen?“

„Das auch. Ich meine aber, keinen Mut nicht zu springen. Plötzlich fühlte ich so eine Sinnlosigkeit und ich habe einfach losgelassen. Zum Glück warst du da und ich danke dir dafür.“

Sie schaute ihn an und er war sicher, dass sie das ehrlich meinte.

„Keine Ursache. Versprichst du mir, künftig nicht noch einmal solch eine Idee zu haben?“

„Ich glaube, vorerst werde ich so etwas Idiotisches nicht mehr machen. Danke für den Wein. Ich will jetzt nach Hause. Ich bin todmüde“, sagte sie und lächelte.

Vielleicht lächelte sie wegen dem unbeabsichtigten Wortspiel todmüde.

Sie tranken jeder noch einen Schluck Wein. Dann stand sie auf. Auch er stand auf und umarmte sie noch einmal und sie ließ ihn allein zurück. Mit jetzt wesentlich schnellerem Schritt als auf dem Hinweg, verließ sie das Lokal.

Konnte er die Frau so einfach gehen lassen? Er überlegte, ob er ihr hinterherlaufen sollte. Aus dem Gespräch hatte er aber den Eindruck gewonnen, dass die junge Frau nicht nochmal diese selbstmörderische Aktion vorhaben würde. Sie hatte es ihm zumindest überzeugend versprochen und er glaubte ihr.

Er setzte sich wieder an den Tisch und war erleichtert, dass die Situation so gut verlaufen war. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch ein wenig einsam, nachdem sie ihn verlassen hatte.

Wahrscheinlich würde sie genauso einsam zu Hause im Bett liegen und um Schlaf ringen, der sich wahrscheinlich nicht einstellen würde. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen.

Er trank den letzten Rest seines Weins und bat den Wirt, ihm ein Taxi zu bestellen.

Nachdem der Abend so trist begonnen und so aufregend geendet hatte, war es doch noch zu einem guten Abschluss gekommen, redete er sich ein.

Er nahm sich vor, sie nach ein paar Tagen zu fragen, wie es ihr geht. Erst jetzt registrierte er, dass er weder Nachname noch Anschrift oder Telefonnummer von ihr hatte. Auch sie hatte keine Angaben von ihm. Wie konnte er nur so dämlich sein? Er wusste nur, dass sie Sarah hieß und das war recht wenig.

Resigniert zuckte er mit den Schultern. Er konnte es nicht mehr ändern.

Außerdem war er nur noch müde und wollte ins Bett.

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