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Wir dürfen Floridsdorf nicht mit London vergleichen – schon gar nicht das Uhrwerk der Kirche am Pius-Parsch-Platz mit dem Big Ben. Dennoch kroch am Abend des 6. November ein Nebel an den Häusern hoch, der wie in einem Edgar-Wallace-Film den gesamten Stadtteil nördlich der Donau umhüllte und nur mehr das Zifferblatt besagter Kirche über die dicke Suppe, die Floridsdorf bedeckte, schauen ließ.

Lockt so ein Nebel die Menschen eher ins oder aus dem Kaffeehaus? Das lässt sich schwer beurteilen. Fest steht nur, dass sich die Gäste, die schon drinnen sitzen, vorerst einmal durch nichts von der warmen, gepolsterten Sitzbank wegbewegen lassen.

So war es auch im Café Heller, nicht weit entfernt vom Pius-Parsch-Platz und damit dem sogenannten Zentrum Floridsdorfs gelegen, das wohl vor allem deshalb diese Bezeichnung für sich in Anspruch nahm, weil hier alle möglichen öffentlichen Verkehrsmittel aus den verschiedensten Richtungen wie durch ein Wunder zusammentrafen. Leopold, der Ober, der schon irgendwie zum Inventar gehörte, betrachtete die Szene gelassen, aber missmutig. Dass die Leute sitzen blieben, ohne etwas in entsprechender Quantität zu konsumieren, nur, weil es draußen unwirtlich war, passte ihm gar nicht.

Die heutige Besetzung des Café Heller ließ für den Rest des Abends tatsächlich das Schlimmste befürchten. Im hinteren Teil des u-förmig gebauten Lokals saß nur eine Kartenpartie – der Herr Kammersänger (ein verkrachter ehemaliger Heurigensänger mit Gesangsausbildung) spielte Tarock mit dem pensionierten Herrn Kanzleirat, dem Herrn Adi und dem Herrn Hofbauer. Als unverwüstlicher Kiebitz (Zuschauer beim Kartenspiel) saß noch der Herr Ferstl, eine Kaffeehauslegende unbestimmten, aber sehr hohen Alters, dabei, ein Gast, bei dem man immer Acht geben musste, dass er nicht unversehens einschlief, was oft ein sehr strapaziöses Aufweckritual zur Sperrstunde zur Folge hatte.

Keine sehr ergiebige Runde. Vielleicht würde jeder noch ein Achtel trinken, das war aber auch schon das höchste der Gefühle.

Am zweiten der drei Billardbretter im Mittelteil versuchten sich drei junge Burschen an einer Partie Karambole. Sie hatten sich erst unlängst Leopolds Unwillen zugezogen, da sie immer wieder, trotz seiner Ermahnungen, auch die rote Kugel als Spielball verwendeten. Das war nach Leopolds Wissensstand auf allen Billardbrettern der Welt untersagt. »Wir können aber trotzdem so spielen, wie wir wollen!«, hatte sich im Laufe des Disputs einer von ihnen erfrecht, ausgerechnet der Kleinste, der den Queue noch immer so hielt, als ob er damit ein lästiges Insekt an der Wand zerdrücken wollte. »Nicht da bei uns im Kaffeehaus. Da herrscht eine Ordnung!«, hatte Leopold mit gespielter Strenge erwidert. Denn streng musste man sein, um auch die jüngeren Gäste, zum Großteil Schüler des angrenzenden Gymnasiums, an die herrschenden Sitten und Gebräuche zu gewöhnen.

Nun schienen sich die Burschen absichtlich bei der Getränkekonsumation zurückzuhalten und schlürften nur langsam an ihren Cola- und Biergläsern.

Im vorderen Teil des Kaffeehauses, rechts vom Eingang, herrschte eine beinahe heilige Ruhe. Löffel rührten in Kaffeetassen, Zeitungen raschelten, zeitweise vernahm man aus einer Ecke ein schwaches Hüsteln. Die meisten hier saßen schon stundenlang da und hielten sich an die goldene Regel, dass man mit einer Schale Kaffee und dem dazu gereichten und vom Ober in regelmäßigen Abständen bereitwillig nachgefüllten Glas Wasser einen ganzen Nachmittag oder Abend sein Auskommen haben konnte.

Hier auf weitere Bestellungen zu hoffen, erforderte eine gehörige Portion Optimismus.

Leopold warf einen Blick in die Runde. Viele saßen alleine da, lesend, schweigend. Nur aus der Ecke, wo die Bauer-Geli – Schulabgängerin und treuer Stammgast – mit zwei Freundinnen tratschte, kam manchmal ein fröhliches Lachen, das hier beinahe störte.

›Die leben noch‹, dachte Leopold, aber bei den anderen war er sich da nicht so sicher. Sie kamen zwar jeden Tag zur Türe herein und gingen nach einiger Zeit auch wieder durch dieselbe hinaus, aber wenn sie so in sich erstarrt ihren Platz ausfüllten wie Marmorbilder, sahen sie aus wie gut konservierte Leichen.

Leopold antwortete auf die Frage nach seinem Beruf gerne mit ›Leichenbeschauer‹.

Die meisten von ihnen kamen dennoch immer wieder, tagtäglich, bis sie eines Tages nicht mehr kamen. Zunächst schien Leopold das gar nicht zu registrieren. Er verdrängte es. Wenn die Chefin fragte:

»Warum bleibt denn der Herr Amtsrat so lange aus? Drei Tag hab ich ihn jetzt schon nicht gesehen!«, antwortete er:

»Wird schon wieder kommen. Ist ja kalt jetzt. Und vorige Woche hab ich ihn ein paar Mal husten gehört.«

Niemand merkte, dass er sich Sorgen machte.

Eines Tages stand dann eine Dame in Schwarz vor der kleinen, halbkreisförmigen Theke und überreichte ohne viele Worte (»Hat ja er schon kaum was geredet!«, meinte Leopold) der Chefin einen schwarz umrandeten Partezettel1. Lungenentzündung, hörte Leopold, hohes Fieber, Gehirnschlag. Es war schnell gegangen, ja, ja. Aber alle Ärzte hatten der Witwe versichert, er habe kaum etwas gespürt.

Und dann war es amtlich, dass einer von den Scheintoten, die Leopold hier täglich bediente, auf immer gegangen war. Er würde eine Lücke hinterlassen. Mit der Zeit entstanden so immer mehr Lücken, und es gab zu wenige junge Leute wie die Bauer-Geli, die eine solche Lücke wieder füllten.

Leopold wollte zwar nicht an solche Dinge denken, aber er ertappte sich immer öfter dabei, wenn er eine ungewollte Pause hatte und zu sinnieren begann.

»Geh, Leopold, bring uns noch fünf Achterln Rotwein, gehen auf mich«, krächzte der Heurigensänger a.D., Ferdinand Brettschneider, vulgo der ›gschupfte Ferdl‹, von den Kartentischen nach vorne.

»Jawohl, Herr Kammersänger!«, rief Leopold erleichtert und demutsvoll nach hinten. Endlich wieder ein Geschäft!

*

Der Nebel über Floridsdorf verdichtete sich. Es schien einer der ungemütlichsten Abende des Jahres zu werden.

Leopold lehnte an der Theke und rauchte in hastigen Zügen eine Zigarette Marke Ernte 23. Der Abend zog sich.

»Herr Leopold!« Aus der Loge links hinten kam ein Ruf in zartem Befehlston.

»Bitte sehr, gnä’ Frau?« Leopold drückte die Zigarette aus und eilte nach hinten.

»Sagen Sie, haben Sie noch den köstlichen Apfelstrudel von gestern? Mit den vielen Rosinen drinnen?«

»Natürlich, Frau Susi! Wir heben doch immer eine Portion extra für Sie auf!«

»Dann kriege ich noch einen Apfelstrudel mit einer doppelten Portion Schlag. Und eine Melange!«

»Wie gnädige Frau befehlen.«

Während Leopold sich Richtung Küche entfernte, faltete Susanne Niedermayer, genannt die ›süße Susi‹, ihre Hände in freudiger Erwartung. Es waren diese Kleinigkeiten, die das Leben für sie lebenswert machten: Kaffee, Mehlspeisen, Süßigkeiten (in umgekehrter Reihenfolge). Sie war in bescheidenen Verhältnissen in einer Gärtnerei in Groß-Enzersdorf am östlichen Rand von Wien aufgewachsen, hatte nach abgeschlossener Lehre eine Zeit lang als Schneiderin gearbeitet und danach ihrer Schwester viele Jahre in einem Zuckerlgeschäft geholfen. Jetzt war sie Anfang 60 und lebte von einer kleinen Pension und einem bescheidenen Betrag, den sie nach dem Tod der Mutter sozusagen als Erbteil erhalten hatte. Viel hatte sie sich nie geleistet, aber sie kleidete sich anständig und wirkte trotz einiger überflüssiger Kilos durchaus noch adrett. Es konnte bisweilen sogar vorkommen, dass sie jemand jünger schätzte, als sie tatsächlich war.

Freilich, man sah sie immer ohne Begleitung. Der einzige Mann in ihrem Leben, von dem man wusste, hieß Emil Berger. Er war Witwer und erschien seit geraumer Zeit bei ihr als Kostgänger zum Mittagessen. Das Verhältnis war aber nicht einmal platonisch, höchstens ökonomisch.

Leopold sagte:

»Die hat in ihrem Leben keinen Mann gehabt.«

So blieben die kleinen Freuden des Lebens ihre größten. Sie führte ein geordnetes Leben in der kleinen, sauberen Wohnung, die sie früher mit ihrer Schwester geteilt hatte, verließ ihren Wohnbezirk nur selten und gönnte sich ein paarmal in der Woche einen Abstecher ins Kaffeehaus.

Seit geraumer Zeit sah man sie auch im Klub ›Fernweh‹. Sie träumte nämlich noch immer ihren großen Traum. Sie träumte von Amerika.

Sie hatte schon einmal hinfahren und dort bleiben wollen. Das war gleich nach ihrer Lehrzeit gewesen. Damals arbeitete sie in einem kleinen Schneidereibetrieb in Wien, nicht weit von ihrem Heimatort entfernt, und begann die Enge ihrer unmittelbaren Umgebung zu spüren. Zu Hause herrschte ein strenger Vater, bei dem sie auch mit 20 jeden Tag um 8 Uhr abends zu Hause sein musste. Eine kurze Affäre, ein ›Pantscherl‹ mit einem Burschen? Unvorstellbar. Einmal nach Wien in die Stadt hineinfahren und ausgehen? Unmöglich. Die Eintönigkeit der Arbeit im Betrieb ging täglich nahtlos in die Langeweile schweigsamer Abende im Kreise der Familie über. Die Eltern waren müde von der Gartenarbeit und gingen bald zu Bett. Susi hörte ein bisschen Radio, blätterte in Zeitschriften oder plauderte mit der älteren Schwester, dann hieß es auch für sie schlafen gehen, denn der Tag begann früh.

In den Zeitschriften las Susi etwas von den unbegrenzten Möglichkeiten in Amerika, vom ›American way of life‹, dazu sah sie Farbfotos von den Wolkenkratzern und Großstädten. Plötzlich wurde sie von einer beinahe unstillbaren Sehnsucht erfüllt. Warum sollte sie nicht hinüber über den großen Teich? Warum nicht dort einfach ein neues Leben anfangen?

Aber schon bald erkannte sie die ganze Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Woher das Geld nehmen? Und ganz alleine durchbrennen? Manchmal sah sie sich in ihren Träumen zwar nachts heimlich mit einem Koffer und ihrer wenigen Habe aus dem Haus schleichen; aber ebenso deutlich sah sie dann stets die überlebensgroße Figur ihres Vaters aus dem Winkel neben dem kleinen Schuppen hervortreten – gebieterisch, bedrohlich und Einhalt gebietend.

Sie blieb also zu Hause. Sie verbannte Amerika in den Bereich ihrer Schwärmereien. Sie fand sich damit ab, für immer und ewig in Groß Enzersdorf zu bleiben.

Dann kam der Anruf ihrer Schwester, der sie nach Wien holte. Ob sie ihr nicht in ihrem Zuckerlgeschäft helfen wolle? Ihre Freundin könne nicht mehr, sie sei gerade das zweite Mal schwanger. Die Wohnung sei groß genug für zwei, das Geschäft gehe gut.

Susi sagte ja. Sie zog in die Großstadt, lebte dort genauso ereignislos wie in Groß Enzersdorf, aber sie genoss es. Die Wohnung hatte sie jetzt für sich allein, denn die Schwester hatte das Geschäft verkauft und war mittlerweile ins Haus ihrer verstorbenen Eltern gezogen. Sie vermisste sie nicht sonderlich. Man hatte sich auseinandergelebt, öfters Streit gehabt. Gertrud – die Schwester – war neidisch gewesen, hatte ihr nie einen gerechten Anteil am Geld zukommen lassen, und als einmal ein Mann aufgetaucht war, für den sich Susi interessiert hatte, war Gertrud die Glücklichere gewesen – wenn auch nur für kurze Zeit …

Nein, nein, charakterlich war Susi von ihrer Schwester enttäuscht und mied den Kontakt mit ihr in den letzten Jahren tunlichst. Darum störte es sie auch, wenn sie einander begegneten, so wie heute. Doch das hatte sich nicht vermeiden lassen, diese Aussprache war wichtig gewesen.

Noch etwas anderes störte sie. Und zwar gewaltig.

Aber sie wollte sich nicht früher als nötig aufregen. Die Dinge würden kommen, wie sie kommen mussten, davon war sie überzeugt.

Da kam auch schon der Apfelstrudel mit den extra vielen Rosinen und der Schale Kaffee, von Leopold liebevoll gebracht. Susi stach sich mit der Gabel ein Stück herunter und schob es sich genießerisch in den Mund. Für den Augenblick wollte sie alle Probleme vergessen.

Gedankenverloren blickte sie zum Fenster hinaus in den grauen Nebel. Dabei meinte sie für einen Augenblick, die Freiheitsstatue aus der milchigen Suppe auftauchen zu sehen.

*

Noch einmal öffnete sich die Kaffeehaustür und ein später Gast trat ein. Er ging ein wenig unsicher Richtung Theke, rieb sich dabei die Hände, um sich aufzuwärmen, und schaute sich um. Seine Augen suchten Leopold, der gerade von hinten kam, wo die Tarockrunde überraschend noch fünf Achteln bestellt hatte. Es war genau 23 Uhr.

»Ja, der Stefan!«, rief Leopold überrascht. »So spät noch? Wie steht denn das werte Befinden?«

Stefan schaute grimmig, um erst gar keinen Zweifel an seiner schlechten Laune aufkommen zu lassen. »Beschissen«, sagte er. »Ziemlich beschissen.«

Leopold verzog leicht das Gesicht. Zum einen verbat er sich einen solchen Ton in diesen hehren Hallen, zum anderen hatte Stefan augenscheinlich ganz schön geladen. Wenn er um diese Zeit kam, hatte er eigentlich immer ganz schön geladen. Und da konnte der Abend noch einigermaßen anstrengend werden.

»Bring mir ein großes Bier, aber schnell, bitte!«, sagte Stefan und fuhr sich mit der Hand unwirsch durch sein dunkelbraunes, leicht gewelltes Haar. Stefan Wanko war mittelgroß, relativ schlank, gepflegt und immer elegant gekleidet. Sein ›Markenzeichen‹ war seine schwarze Lederjacke, unter der er heute ein weißes Hemd mit hellblauer Krawatte und einen grauen Anzug trug. Sein Gesicht wirkte auch in betrunkenem Zustand noch angenehm, obwohl er alles tat, um einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Kein Wunder, dass Stefan als Versicherungsvertreter Erfolg hatte, kein Wunder auch, dass, was ihm noch mehr bedeutete, die Frauen nur so auf ihn flogen. Nur der genaue Beobachter – und Leopold war ein solcher – erkannte bereits die Spuren eines kurzen, bewegten Lebens an ihm. Stefan war erst Anfang 30.

Leopold stellte ihm das Bier auf die Theke, dann trug er die fünf Achteln nach hinten und machte die Karambolespieler darauf aufmerksam, dass in zehn Minuten Billardschluss sein würde. Beim Zurückgehen hörte er schon Stefans klagende Stimme:

»Nein, da soll einer klug werden aus den Weibern!«

Also daher wehte der Wind. Stefan hatte wieder einmal Probleme mit einer Frau. Das war keine Seltenheit, das war eigentlich bei Stefan die Regel. Meistens lernte er eine kennen, schwärmte von ihr über die Maßen, hatte die vorzüglichsten Absichten – nur, um dann unweigerlich wieder in seine alten, ausschweifenden Lebensgewohnheiten zurückzufallen. Dann gab es Schwierigkeiten, die er im Kaffeehaus bereden musste. Leopold gefiel das – er redete gern über Frauen, wahrscheinlich, weil er selbst keine hatte. Deshalb nahm er Stefan manchmal auch gegenüber der Chefin in Schutz, wenn sie, so wie jetzt, einen finsteren Blick in seine Richtung warf. Er konnte mit Stefan mitfühlen, wenngleich er seine Exzesse nicht guthieß.

Leopold dachte krampfhaft nach, wie Stefans jetzige Freundin heißen mochte. Vor Kurzem war noch eine Barbara aktuell gewesen, aber wer weiß …

»Hinausgeschmissen hat sie mich, einfach so!«, brummte Stefan in sein Bier, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte.

»Die Babsi?«

»Ja!«

»Aber geh!«, bemerkte Leopold.

»Ja, heute! Ich komme von der Arbeit nach Hause zu ihr, sagt sie einfach, ich kann gleich wieder gehen. Und morgen soll ich meine Sachen holen. Sie will Schluss machen.«

»Hast am Wochenende leicht (denn) blau gemacht?«, fragte Leopold.

»Ja«, sagte Stefan einsilbig.

Es war immer dasselbe. War Stefan einmal unterwegs, bedeutete eine Nacht gar nichts. In diesen Fällen nahm er es auch mit der Treue nicht so genau. Für einen kleinen Seitensprung genügte dann ein hübsches, junges weibliches Wesen, das sich seine Probleme anhörte, ihn in seine Wohnung mitnahm und von seinen sexuellen Fähigkeiten im Vollrausch angetan war. Man musste froh sein, dass er nach solchen Ausrutschern noch den Ehrgeiz hatte, seinen beruflichen Verpflichtungen nachzukommen.

»Ist es wirklich aus?«, fragte Leopold.

»Scheint so!«

»Und da möchtest du heute wieder nicht schlafen gehen? Geh, komm! Du hast doch da vorne noch deine kleine Wohnung. Ruh dich ein bisschen aus. Morgen schaut die Welt wieder ganz anders aus.«

Diese Feststellung ließ einen Ruck durch Stefans Körper gehen. In seine Junggesellenbude zog er sich nur mehr in Notfällen zurück. Noch weigerte er sich, seine jetzige Situation als Notfall zu betrachten.

»Es ist alles beschissen«, sagte er. »Ich möchte jetzt nicht allein sein.«

In diesem Moment rief Frau Susi ein lautes »Zahlen!« aus der hinteren Loge nach vorne. Sie war schon spät dran. Aber auch sie hatte nicht allein sein wollen vor der Zusammenkunft, die ihr heute noch ins Haus stand.

»Komme sofort«, sagte Leopold und raunte zu Stefan:

»Siehst, die wär jetzt was für dich. Wohnt nur zwei Häuser weiter und ist alleinstehend. Aber Vorsicht: Die hat in ihrem Leben noch keinen Mann gehabt!«

»Ja, die würde gerade passen«, lachte Stefan. »Aber wirklich, ohne Spaß! Sag, ist das nicht die süße Susi, eure Zuckerpuppe?«

Leopold nickte. »Ich weiß nur nicht, was sie jetzt noch da macht. Normalerweise ist sie um diese Zeit schon im Bett.«

»Mit der könnte ich wenigstens noch ein bisschen plaudern«, sagte Stefan.

›Könntest du, wenn du nüchtern wärst‹, dachte Leopold nur und schritt bedächtig zum Inkasso. Anschließend half er Frau Susi in ihren nicht mehr modernen, aber auch nicht abgetragenen dunkelblauen Mantel:

»Vielen Dank, gnädige Frau, und beehren Sie uns bald wieder. Morgen?«

»Nein, erst übermorgen. Morgen ist ja Klub!«, sagte Frau Susi.

»Ach so, morgen geht’s wieder in die große weite Welt. Na, dann halt übermorgen. Passen Sie nur schön auf bei dem Nebel, dass Ihnen nichts passiert. Man sieht ja kaum mehr die Hand vor den Augen.«

»Mir passiert schon nichts. Ich wohn ja nicht weit.«

»Ich geh ein Stückchen mit Ihnen!«, hörte man Stefan von der Theke her lallen.

»Hören Sie nicht auf den«, beruhigte Leopold. »Ich hab ihn schon unter Kontrolle. Er meint es nicht so! Gute Nacht!«

»Und ob ich es so meine«, sagte Stefan, nachdem Susi verschwunden war.

»Jetzt reiß dich doch zusammen«, fauchte Leopold. »Du fängst an, mir die Gäste zu vertreiben!«

»Du bist selber schuld, Leopold. Schäkerst da mit der Zuckerltante und lässt mich alleine an der Theke stehen. Wo ich doch heute nicht allein sein will und kann. Ich brauche Betreuung, Leopold, Betreuung und Liebe! Ich brauche Menschen um mich.«

»Dein Problem ist die eine Sache, und alles andere hat damit nichts zu tun.«

»Oh, Leopold, wenn du wüsstest, wie unrecht du hast! Jetzt sei aber nicht mehr böse und stoß auf einen Versöhnungstrunk mit mir an. Außerdem hast du mir die Alte wie auf dem Servierbrettl angeboten. Und so zuwider ist sie ja nicht.«

»Perversling!« Jetzt lächelte Leopold wieder. »Ich will ja nur, dass du unsere Gäste in Ruhe lässt. Und wenn du dich noch ein paar Minuten geduldest, lasse ich mich von dir auf ein Getränk einladen. Aber vorher gehe ich schnell abkassieren.«

»Jetzt bleib doch da!«

Aber Leopold hatte sich bereits diensteifrigen Schrittes von Stefan wegbewegt. Dass der auch immer so kindisch und anhänglich sein musste, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Irgendwann, fürchtete Leopold, würde sich das rächen.

Mittlerweile eilte Susanne Niedermayer nach Hause zu ihrer Wohnung. Sie ging schneller als sonst durch den dichten Nebel, als würde sie ahnen, dass ihr nicht mehr viel Zeit zum Leben blieb.

1 In Österreich sehr gebräuchliches Wort für eine Todesnachricht; zu französisch ›donner (oder faire) part‹, ›Nachricht geben‹.

Fernwehträume

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