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Der düstere Gang des alten Mietshauses belebte sich schlagartig, als die ersten Polizeiautos mit Blaulicht vorfuhren. Plötzlich kamen sie alle hervor: alte und nicht mehr ganz junge Damen, ein etwas verwirrt wirkender kleiner Herr im Pyjama, ein Fettwanst mit einer Bierflasche in der Hand, eine türkische Frau mit einem Kind im Arm und einem weiteren an ihrer Kittelfalte. Überall glotzten neugierige Augen die Brüstung des Stiegengeländers hinab. »Was, die Frau Niedermayer«, hieß es, »das habe ich schon lange kommen sehen!« und »Man ist sich ja nicht einmal mehr zu Hause seines Lebens sicher.« Die Stimmen gingen durcheinander, aber nicht laut, sondern nur leise und flüsternd. Das Ereignis schien für kurze Zeit die Grabesruhe in dem alten Gemäuer zu unterbrechen, aber nur, um sie durch das zögernde Gemurmel einer Gruppe Scheintoter zu ersetzen, die für kurze Zeit zum Leben erweckt worden waren.

Irgendwo dazwischen, einmal hier, einmal da, stand in erregter Diskussion Frau Ivanschitz. Man konnte ihre penetrante Stimme gut aus der gedämpften Unruhe heraushören. Sie leistete ganze Arbeit, indem sie die Neuigkeiten um den Tod der Frau Niedermayer in Windeseile weiterverbreitete. Dabei wirkte sie wie eine Animateurin, die ihr Publikum zu einem Stimmungshöhepunkt führen wollte.

Die eingetroffenen Beamten waren über den Auflauf alles andere als glücklich. »Bitte gehen Sie in Ihre Wohnungen. Wir holen Sie, wenn wir Sie brauchen«, sagte ein jüngerer Polizist in Zivil schroff. Sein rundliches Gesicht nahm rasch die Farbe seiner kurz geschnittenen roten Haare an, wenn er sich ärgerte. Und im Augenblick ärgerte er sich. Er stand gemeinsam mit Berger und Leopold im Vorraum von Frau Susis Wohnung.

»Sie haben also die Leiche gefunden«, fuhr er Berger an.

»Jawohl«, nickte Berger vertrauensselig.

»Und wann war das?«

»So circa um 12 Uhr. Ich komme jeden Tag um diese Zeit essen zur Frau Niedermayer. Sie kocht für mich, seit meine liebe, gute Frau das Zeitliche gesegnet hat. Das war vor fünf Jahren. Meine Frau ist an Krebs gestorben und …«

»Das interessiert mich nicht. Antworten Sie nur auf die Dinge, die Sie gefragt werden.« Der junge Inspektor wirkte reichlich ungehalten und nervös. »Wie kamen Sie in die Wohnung?«

»Ich habe einen Schlüssel. Als mir niemand öffnete, habe ich einfach die Türe aufgesperrt.«

»War die Türe verschlossen?«

»Nein!«

»Aber zu war sie, nicht etwa nur angelehnt?«

»Ja, ja.«

»Gut!« Der Inspektor machte eine kurze künstliche Pause. »Sagen Sie, wie kommt es, dass die Tür nur angelehnt war, als wir kamen?«, fragte er dann scharf. »Haben Sie etwa in Betracht gezogen, die Tote einer allgemeinen Beschau freizugeben?«

Berger verschlug es für einen Augenblick die Sprache. Dann nahm er all seine Kräfte zusammen, die allerdings angesichts der prallen Röte im Gesicht des Inspektors bereits wieder im Schwinden begriffen waren. »Schnauzen Sie mich bitte nicht so an«, sagte er. »Ich habe die Tür gewissenhaft zugemacht. Sie ist verzogen und klemmt ein bisschen. Es geht oft nicht leicht, aber ich weiß das und ziehe sie immer ganz zu. Aber der Letzte in der Wohnung war ja gar nicht ich, das war der Herr Leopold«, meinte er dann triumphierend.

»Wer ist das? Ist das etwa derjenige, der bei uns angerufen hat?« Der Inspektor rang um Beherrschung.

»Ja, ich bin das«, meldete sich Leopold. »Bitte, es kann schon sein, dass die Türe klemmt. Vielleicht hätte ich stärker anziehen sollen. Aber was weiß man schon.«

Der Inspektor schien nun seine ganze Wut auf Leopold zu entladen. »Was weiß man. Was weiß man!! Ich möchte jetzt wissen, wie es möglich ist, dass jemand um 12 Uhr eine Leiche findet und wir erst um halb zwei verständigt werden. Ich möchte wissen, wie lange Sie in der Wohnung herumgetrampelt sind und so viele Spuren hinterlassen oder verwischt haben, dass wir erst gar nicht zu suchen anfangen müssen, Herr …«

»Hofer. Leopold. Eigentlich Leopold Willibald Hofer. Leopold W. Hofer.«

»Wehofer?«

»Nein, Hofer. Das ›W‹ ist nur ein Zusatz, eine Initiale.«

Wusste der Inspektor, was eine Initiale ist? Jedenfalls begann er, etwas auf einem Block zu notieren und fauchte dabei:

»Also nur ›Hofer‹. Warum reden Sie denn von einem ›W‹, wenn es nicht wichtig ist?«

Leopold zuckte die Achseln. »Es hätte ja wichtig sein können«, sagte er. Er bemühte sich verzweifelt, den Grimm des Inspektors irgendwie abzulenken, war sich aber nicht sicher, ob ihm das gelingen würde.

»Weshalb sind Sie denn überhaupt in der Wohnung gewesen, Herr Hofer? Es wäre Ihre Pflicht gewesen, uns gleich zu verständigen.«

»Nun ja, um etwa Viertel nach zwölf ist Herr Berger völlig aufgelöst bei mir im Kaffeehaus aufgetaucht. Ich arbeite nämlich als Ober drüben im Café Heller, müssen Sie wissen. Er hat etwas von der Frau Niedermayer gefaselt und dass man sie erschlagen hat. Zum Teil hat er völlig unzusammenhängend geredet. Hätte ich ihm da ohne Weiteres glauben sollen? Wie, wenn er sich alles nur eingebildet hätte? Hätte ich die Polizei etwa auf Verdacht holen sollen? Also, ich wollte mich schon überzeugen, dass das Zeug stimmt, das er da dahergeredet hat. Und da ich nicht zimperlich bin, habe ich Herrn Berger überredet, nochmals mit mir in die Wohnung zu gehen.«

»Unglaublich, was Sie sich da herausnehmen, Leopold«, feixte Berger kopfschüttelnd. »Ich habe Ihnen die Sachlage klar dargestellt und deutliche Instruktionen gegeben. Sie haben mich ja förmlich gezwungen, noch einmal dorthin zu gehen. Freiwillig wäre ich nie mitgekommen.«

»Hören Sie nicht auf den, Herr Inspektor«, sagte Leopold. »Der war nicht einmal fähig anzurufen und will mir deutliche Instruktionen gegeben haben.«

»Ihre Begründung reicht mir nicht, Herr Hofer«, meldete sich der Inspektor wieder zu Wort. »Ich unterstelle Ihnen auf jeden Fall einmal eine Behinderung der Arbeit der Polizei.«

»Ich habe nichts angefasst, und Handschuhe habe ich außerdem angehabt.«

»Seien Sie ruhig, Herr Hofer, jetzt rede ich! Tun Sie doch nicht so scheinheilig! Ihre Pflicht wäre es gewesen, die Polizei so rasch als möglich zu verständigen. Das haben Sie erwiesenermaßen nicht getan. Wir werden schon sehen, ob Sie nur aus Dilettantismus so viel Zeit vertrödelt haben, oder ob da mehr dahinter steckt. Da komme ich noch dahinter, verlassen Sie sich drauf!« Der Inspektor war jetzt wieder dabei, die Fassung zu verlieren. Als er kurz tief Luft holte, hörte er plötzlich ein schnarrendes »Grüß dich, Leopold!« hinter sich.

Auf leisen Sohlen, unauffällig, wie es seine Art war, war Oberinspektor Richard Juricek am Tatort erschienen, ein frühzeitig ergrauter Mittfünfziger mit Schnurrbart und auffallend dunkler Gesichtsfarbe. Seinen Kopf zierte ein dunkelbrauner Hut mit breiter Krempe, den er bei fast allen Gelegenheiten aufhatte, dazu trug er einen Schal und einen hellbraunen Kamelhaarmantel. Er kam für gewöhnlich immer ein wenig später zu einem Einsatz. Die grobe Arbeit überließ er erst einmal den anderen. Dann versuchte er, sich Schritt für Schritt einen ersten Eindruck zu verschaffen.

»Darf ich dir unsern Herrn Inspektor Bollek vorstellen, Leopold«, schnarrte er weiter. »Meine rechte Hand sozusagen. Er ist noch jung und ein bisserl streng, aber das hast du ja offenbar ohnehin gemerkt. Und darüber, dass wir erst gute eineinhalb Stunden, nachdem eine Leiche von euch entdeckt wurde, davon erfahren, wundern sich ehrlich gesagt alle.«

Leopold wollte etwas einwenden, aber Juricek wandte sich jetzt an seinen noch um eine Spur röter gewordenen Kollegen. »Sie müssen wissen, Herr Inspektor, der Leopold ist einmal mit mir in eine Klasse gegangen. Er ist nicht so schlampig, wie Sie vielleicht den Eindruck haben, und äußerst hilfsbereit. Wahrscheinlich ist er durch die äußeren Umstände ein wenig aufgehalten worden, nicht wahr, Leopold?« Dabei zwinkerte er Leopold kaum merkbar zu.

»So ist es«, bestätigte Leopold, »aber mir glaubt ja keiner. Servus Richard!«

»Solltest du also noch einmal in eine solche Situation kommen, beeile dich ein bisschen mehr, sonst verscherzt du es dir mit meinen jüngeren Kollegen. Und mach die Tür ordentlich zu, ich hab gehört, da hat es auch etwas gehabt. Ansonsten danke für deinen Anruf.« Bei diesen Worten zog er Leopold ein wenig zur Seite. Zum Inspektor sagte er:

»Kollege Bollek, machen Sie doch einmal ein Protokoll der Aussage unseres Zeugen, der die Leiche gefunden hat, des Herrn …«

»Berger«, meldete sich Berger wieder ins Geschehen zurück.

Missmutig setzte sich Bollek daraufhin mit Berger in die kleine Küche mit dem schmutzigen Geschirr. Richard Juricek aber hörte sich erst einmal in kurzen Worten an, was Leopold so alles aufgefallen war und was er über Susi Niedermayer grob zu sagen wusste. Er war ein guter Zuhörer und unterbrach selten. Erst, als Leopold geendet hatte, begann er mit seinen eigenen Überlegungen.

»Das mit dem Bild hat etwas für sich«, meinte er. »Warum streiten sie, und die Schwester nimmt es dann mit? Und was bedeutet es, dass die Niedermayer selber auf dem Foto mit drauf ist? Egal, wir müssen die Schwester ohnehin heute noch verständigen, und bei der Gelegenheit wird sie uns gleich nähere Auskünfte erteilen können. Es sieht ja ganz so aus, als ob sie die einzige oder zumindest nächste lebende Verwandte der Toten ist, oder?«

Leopold zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Mann hat die Frau Susi jedenfalls in ihrem Leben noch keinen gehabt.«

»Ach so? Wie kommst du denn zu der kühnen Behauptung?«

»Menschenkenntnis, Richard, Gefühl. Na, und geraucht hat sie ja auch nicht. Der Mörder muss also Raucher gewesen sein.«

»Vielleicht. Aber wenn nun die Schwester Raucherin ist und schon am Nachmittag geraucht hat? Und selbst, wenn es der Täter war, der sich hier noch vorher eine angezündet hat: Erstens, Raucher gibt es viele. Und zweitens, wo ist der Beweis? Keine Kippe, keine Asche, kein Aschenbecher. Wenn unsere Leute nicht noch irgendetwas finden, bringt uns das überhaupt nicht weiter. Wie du selbst bemerkt hast, scheint der Täter sehr gründlich gewesen zu sein. Wir müssen froh sein, wenn wir überhaupt irgendwelche Spuren sicherstellen können, die uns weiterhelfen. Nein, nein«, und dabei schüttelte Juricek bedächtig den Kopf, »es wird wohl das Beste sein, einmal diesen mysteriösen Fremden zu suchen, der unser Opfer mitten in der Nacht aus der Wohnung geläutet hat. Entweder er war es, oder er weiß vielleicht etwas.«

»Der war doch stockbetrunken«, entgegnete Leopold.

»Eben, da hat man viel aufgestaute Aggressionen und schlägt oft grundlos zu.«

»Aber man verwischt seine Spuren nicht so eiskalt und haut still und heimlich ab.«

»Solche Menschen sind nach begangener Tat oft schnell wieder stocknüchtern. Außerdem wissen wir noch viel zu wenig. War es ein Totschlag, ein Raubmord, ein Sexualmord? Ein von langer Hand geplanter Mord? Was war die Tatwaffe? Fehlt in der Wohnung noch etwas außer dem Bild? Ich werde mir einmal diese Ivanschitz vorknöpfen, die scheint ja eine recht gute Quelle zu sein.«

»Aber in gewisser Weise verdächtig ist sie auch.«

»Das werden wir schon sehen. Jedenfalls möchte ich mit ihr reden. Dann warte ich darauf, was mir die Leute von der Spurensicherung sagen und was bei der Autopsie herauskommt. Um die Schwester kümmern wir uns auch. Und du, lieber Leopold, hörst dich ein bisschen um. Die Tote war doch Stammgast in eurem Kaffeehaus, vielleicht erzählt dir jemand was. Und vergiss nicht unseren Trunkenbold mit der Lederjacke. Könnte sein, dass er jemandem zur fraglichen Zeit aufgefallen ist, irgendwo muss er sich ja besoffen haben. Vielleicht war er sogar bei euch. Du kannst dich nicht etwa an ihn erinnern?«

Leopold schüttelte den Kopf.

»Na, die Beschreibung ist ja auch nicht übertrieben genau«, sagte Juricek. »Aber könnte sein, dass dir der Typ schon einmal untergekommen ist. Solche Leute frequentieren in der Regel nicht nur ein, zwei Lokale. Denk einmal nach.«

»Und was ist mit dem Klub ›Fernweh‹?«

»Du meinst, das ist wichtig?« Juricek spielte kurz den Naiven.

»Aber sicher! Dort hat sie ja einen großen Teil ihrer Abende verbracht. Wenn sie irgendwelche Bekannten hatte, die wir nicht kennen, dann nur von dort.«

»Ist mir schon klar, Leopold, aber schau! Es wäre nicht gescheit, wenn wir gleich dort auftauchen und viel Aufsehen erregen. Wer geht denn in so einen Klub? Viele harmlose, alte Menschen, die wir nur beunruhigen würden und die der Polizei gegenüber vielleicht gar nicht so gesprächig sind. Ich möchte da noch ein bisschen warten. Ich glaube, es wäre besser, wenn sich dort erst einmal jemand umschaut, der nicht gleich seine Dienstmarke aus der Tasche zieht. Und da habe ich an dich gedacht, Leopold. Du würdest überhaupt keinen Verdacht erregen.«

»Ich?« Leopold schüttelte widerwillig den Kopf. »Ich, natürlich. Weil es überhaupt nicht auffällt, wenn dort plötzlich ein Ober von der Konkurrenz auftaucht.«

Die Abende des Klubs ›Fernweh‹ fanden im Gasthaus Beinsteiner in unmittelbarer Nähe des Franz-Jonas-Platzes und des Café Heller statt. Seit jeher war das Verhältnis zwischen den beiden Lokalen gespannt. Das ›Beinsteiner‹ (›Zum gemütlichen Floridsdorfer‹) hatte einen großen Saal, der nicht nur vom Klub ›Fernweh‹ genutzt wurde, sondern der auch Hochzeitstafeln, Geburtstags- und Betriebsfeiern magisch anzog. Es hatte einen gut gehenden Sparverein. Es organisierte Veranstaltungsabende. Es war aufgrund seiner guten, bodenständigen Küche auch über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt. Auf das ›Heller‹ sah es, wenn man der Floridsdorfer Gerüchteküche glauben konnte, mitleidig herab. Am schlimmsten aber war, dass das Gasthaus Beinsteiner dem Café Heller in den letzten Jahren zwei Tarockrunden und auch sonst einige Stammgäste abgeworben hatte. Das konnte und wollte Leopold nicht vergessen. Er wollte mit dem ›Gemütlichen Floridsdorfer‹ nichts zu tun haben.

Juricek versuchte, auf seinen Freund beruhigend einzuwirken. »Aber, aber«, sagte er. »Du holst dir ja nur einen Gusto auf ein Reiseziel für deinen nächsten Urlaub. Dass sie eventuell glauben, du spionierst für die Konkurrenz, stört ja nicht. Sag, hast du nicht vorhin behauptet, dass heute wieder Klubabend ist? Und wenn du jetzt nicht im Dienst bist, hast du doch heute Abend frei, oder?«

Leopold gab sich geschlagen. »Also meinetwegen, geh ich halt hin.«

»So ist’s brav, Leopold. Und morgen Abend komme ich dich im Kaffeehaus besuchen, und wir plaudern ein bisschen. Da hab ich dann vielleicht auch Neuigkeiten für dich.«

Leopold nickte nur noch einmal als Zeichen der Unterwerfung.

»So, jetzt tu mir bitte noch den Gefallen und gib das Wichtigste beim Herrn Inspektor Bollek zu Protokoll«, sagte Juricek. »Ansonsten bis morgen – und keine weiteren Eigenmächtigkeiten, bitte. Du verheimlichst mir doch nichts, Leopold?«

»Aber Richard, du kennst mich doch!«

»Na, eben darum frage ich dich ja!«

Leopold versuchte, ein entwaffnendes Lächeln aufzusetzen. »Nein, nein! Also bis morgen«, sagte er dann.

Wie um sicher zu gehen, griff Leopold kurz in seine Sakkotasche, als er auf Inspektor Bollek zusteuerte. Es war noch alles da, der Brief und der Zettel mit der Telefonnummer.

*

Der kleine, an der Alten Donau gelegene Park war um diese Jahreszeit ein Hort der Ruhe und des Friedens. Nur wenige Menschen setzten sich auf eine Bank in die Sonne, spazierten am Wasser entlang oder fütterten die zahlreichen Enten und Schwäne. Viele dieser wenigen waren einsam und wollten nicht den ganzen Tag allein zu Hause sein. Wenn es auch schon langsam kalt wurde, in der Abgeschiedenheit des eigenen Herzens war es zumeist noch kälter.

Die Bahn der Sonne wurde langsam flacher, und die Weidenbäume warfen immer längere Schatten. Dabei war es erst früher Nachmittag. Der Winter kam näher, langsam, aber unerbittlich.

Auf einem der Gehwege sah man Isabella und Erich spazieren. Sie waren gerade von der Schule hierher gekommen. Die Dinge mussten besprochen werden, in Ruhe und ohne Zuhörer.

Isabella fröstelte leicht. Als Erich sie um den Hals fasste und ein wenig an sich drückte, ließ sie es zuerst geschehen, riss sich aber dann mit einem Mal wieder los.

»Was hast du denn?«, fragte Erich.

»Nichts«, kam die spröde Antwort.

»Du bist aber schon die ganze Zeit so widerspenstig.«

»Ja und? Wer quält mich denn andauernd mit seinen Fragen? Wer macht mir denn ständig Vorwürfe? Du! Oder?«

Sie ging jetzt zwei Schritte neben ihm und bemühte sich, diesen Abstand einzuhalten. »Ich verstehe nur nicht, warum du der ganzen Welt erzählst, dass wir ein Kind haben werden«, sagte Erich.

»Meinem Klassenvorstand habe ich es wohl mitteilen müssen«, feixte Isabella. Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen.

»Ja, von mir aus, aber du hättest ihm doch nicht zu sagen brauchen, von wem es ist. Und dann kriegst du dein Mitteilungsbedürfnis auch noch in dem Moment, wo die Gabi dabei ist. Sie hat mir in der Pause schon gratuliert. Die kann doch auf Dauer nicht ihren Mund halten, und dann weiß es die ganze Welt.«

»Sie wird ihn halten, verlass dich drauf.«

»Und wie willst du das erreichen?«

»Mensch, Erich, sei doch nicht so misstrauisch! Die Gabi ist nicht so eine Tratschtante, wie du immer glaubst. Und dann denk doch einmal logisch nach. Wenn sie oder unser verehrter Herr Klassenvorstand es an der nötigen Diskretion fehlen lassen, müssen wir leider über die beiden auch etwas erzählen. Ich bin nicht blind und schon gar nicht dumm.«

»Na ja, mit so schweren Geschützen müssen wir auch nicht auffahren. Der Korber ist im Grunde nicht so übel, und wenn wir jetzt vor der Matura einen Wirbel machen …«

»Ich meine ja nur. Du brauchst keine Angst zu haben, die werden nicht reden. Die sind froh, wenn über sie nicht geredet wird.«

Isabella ging jetzt ein wenig schneller, und Erich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, obwohl er um einiges größer als sie war und längere Beine hatte. Er lief ihr nach, ohne sie ganz zu erreichen. Und tat er das nicht, sinnbildlich gesprochen, die ganze Zeit? Ungelenk bemühte er sich um sie, doch immer dann, wenn er glaubte, sie zu fassen zu bekommen, entwand sie sich ihm mühelos, war vor ihm, neben ihm oder überhaupt außerhalb seines Gesichtsfeldes. »So warte doch«, rief er. »Ich weiß, ich bin nervös, aber das alles kommt so unerwartet und plötzlich gerade jetzt …«

»Also du bist nervös. Was soll denn da ich sagen?«

»Aber verstehe doch …«

»Gar nichts verstehe ich. Seit über einem Jahr, seit du in unserer Klasse bist, bist du hinter mir her. Und dann entwickle ich endlich Sympathien für dich, verliebe mich irgendwie in diesen liebenswürdigen, großen, unerfahrenen Jungen, gehe eines Abends sogar mit dir ins Bett, weil du mich in der Wohnung deiner Eltern verführst, lasse mich überreden, es ohne Gummi zu machen – und kriege dafür nichts als Vorwürfe. Wer bekommt denn das Kind? Und wer fällt wahrscheinlich um seinen Maturatermin um?«

Hier traf sie Erich an seinem schwachen Punkt. Er wollte sie nicht verletzen. Er stand ja zu dem Kind, hatte das Wort Abtreibung nie erwähnt, als er merkte, dass Isabella das Kind bekommen wollte. Aber so, wie er zuerst seinen Gefühlen hilflos ausgeliefert gewesen war, sah er sich jetzt mit einer Situation konfrontiert, die ihn einfach überforderte.

Immerhin hatte er den Mut gefunden, seinen Eltern alles zu beichten. Ganz im Gegensatz zu seinen Befürchtungen war er dabei vor allem bei seinem Vater sofort auf Verständnis gestoßen. Ferdinand Nowotny, ein aufbrausender und cholerischer Mensch, der zu Wutausbrüchen neigte, war um die Zukunft seines Sohnes besorgt. Erich hatte schon im Vorjahr eine Klasse wiederholen müssen. Dabei sollte er studieren und später einmal die Baufirma des Vaters übernehmen. Es hatte also kaum Hoffnung bestanden, dass sich eine größere Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn vermeiden lassen würde. Aber Ferdinand Nowotny hatte Verständnis gezeigt, seine Frau und seinen Sohn beruhigt und im Übrigen angeboten zu helfen, wo er nur konnte.

Darauf konnte Erich aufbauen, aber da war trotzdem ständig diese schreckliche Ungewissheit. Wie sollte er sich nur Isabella gegenüber verhalten? Wie konnte er sich Zutritt zu der Seele dieses launischen Mädchens verschaffen, von dem er sich eingestehen musste, dass er es ja doch kaum kannte?

»Ich weiß, aber darüber haben wir ja geredet«, sagte er. »Und der Korber hat dir auch schon erklärt, wie du die Sache anstellen musst. Und … das Kind macht mir nichts aus, wirklich nicht.« Dabei blinzelte er ihr mit seinen großen blauen, treuherzigen Augen zu. Es war eines der wenigen Mittel, von denen er bereits herausgefunden hatte, dass sie bei Isabella wirkten.

»Darf es auch nicht«, sagte Isabella, nun sich wieder langsamer vorwärts bewegend und zutraulicher.

»Wir können bald zusammenziehen, wenn wir wollen … Ich meine, mein Vater hat gesagt, es ist kein Problem, eine Wohnung für uns zu finden.«

»Und du meinst, ich will?«

»Sicher willst du. Wenn das Kind kommt, sind wir dann schon fast eine kleine Familie. Und wenn wir uns dann noch immer vertragen, können wir sogar heiraten.«

»Und wenn wir uns nicht vertragen?« Schon war die abwehrende Haltung in Isabella wieder da. »Erich, lass mir doch bitte ein bisschen Zeit und erdrücke mich nicht mit deiner Zuneigung. Hab Vertrauen zu mir und laufe mir nicht ständig nach. Ich finde es ja lieb, dass du dich um alles kümmerst und dein Vater uns die Möglichkeit bietet, vorläufig zusammenzuleben. Aber wenn wir das jetzt auch wahrscheinlich tun, weiß ich nicht, ob ich ein Leben lang bei dir bleiben möchte. Ich kann es mir zumindest im Augenblick nicht vorstellen. Ich bin erst 18 und du bist 19, das darfst du nicht vergessen. Wir bekommen ein Kind miteinander und ich mag dich, aber ich bin nicht so verliebt in dich wie du in mich.« Sie blieb jetzt kurz stehen und blickte ihm bei diesen Worten das erste Mal fest in die Augen.

»Was soll ich tun? Was kann ich machen, damit du mich liebst?«, fragte Erich.

»Nichts. Lass doch einfach die Dinge auf dich zukommen. Aber das ist ja etwas, was du überhaupt nicht aushältst. Ich fürchte, du wirst nie aufhören, mich mit deinen Gefühlen zu verfolgen.«

Eine kurze Zeit gingen sie schweigend nebeneinander her. Erich wusste nicht, was er sagen sollte. Er war sich sicher, dass er Isabella kurze Zeit für sich haben und dann verlieren würde, irgendwann an irgendwen. Würde er es rechtzeitig bemerken? Würde er es verkraften?

Er konnte natürlich aus dieser ungewissen und vorbelasteten Beziehung auch gleich aussteigen und sich einigen Kummer ersparen. Es bedurfte dazu nur eines Satzes, aber er wagte nicht, ihn zu sagen. Sein Vater würde es als Misserfolg auslegen wie schon so viele andere Dinge zuvor in Erichs Leben. Er selbst würde sich eine Niederlage einzugestehen haben, die er so kurz nach seinem scheinbaren Triumph nicht wahrhaben wollte. Und Isabella und das Kind würde er auf immer verlieren, das wäre das Schlimmste, auch wenn es vielleicht besser so wäre.

Erich verscheuchte diese letzten Gedanken aus seinem Kopf. »Was sagen denn deine Eltern?«, fragte er dann.

»Sie wissen noch nichts, aber sie werden es schon früh genug erfahren. Ich bezweifle allerdings, dass es sie interessiert. Es wird unser Verhältnis nicht retten. Ich bin froh, wenn ich von zu Hause wegkomme.«

Das war es, was er hören wollte. Jetzt war sie wieder seine kleine, arme Isabella, die sich mit ihren Eltern überworfen hatte, die ein neues Zuhause suchte und seinen Schutz brauchte. Jetzt konnte er wieder seinen Traum träumen und die kalte Wirklichkeit vergessen.

Sie fröstelte, und er legte seine Hand um ihre Schulter. Er küsste sie sachte auf die Wange. Sie ließ es geschehen.

»Was auch immer geschieht, ich liebe dich«, sagte er.

Sie gingen auf die sich rasch senkende Sonne zu, die ein paar letzte, goldene Strahlen in den Park schickte. Das Bild glich dem eines Happyends im Film. Aber Isabella seufzte kaum hörbar, und ihr war gar nicht wohl in ihrer Haut.

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