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Wen wundert’s, dass Herr Berger das Haus, in dem seine Kostgeberin zu Tode gekommen war, mit schlotternden Knien betrat? Zum einen hatte er noch nie so überraschend und unverhofft eine Leiche zu Gesicht bekommen. Zum anderen strahlen alte Häuser, wenn es sich nicht gerade um ein Stadtpalais oder ein romantisches Herrenhaus, sondern um einen von den Jahren gezeichneten Zeugen billigen Wohnbaus aus der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert handelt, eine eher düstere Atmosphäre aus.

Auf Berger wirkte das alte Gemäuer jetzt noch furchterregender als sonst. Im Eingangsflur und dem engen Stiegenhaus mit der gewundenen Treppe war es so dunkel, dass das schwache künstliche Licht zu jeder Tages- und Nachtzeit aufgedreht bleiben musste. Ein abgestandener Geruch, der durch die feuchten Wände noch verstärkt wurde, raubte denjenigen, die nicht hier wohnten, schon beim Hineingehen den Atem. Zurzeit roch es außerdem zusätzlich nach Kohl und Knoblauch.

Trotz all dieser Widerwärtigkeiten erreichten die beiden Herren unbeschadet den ersten Stock, wo sich die Wohnung von Frau Niedermayer befand.

»Ich will nicht noch einmal hineingehen«, murrte Berger.

»Sie können ja im Vorzimmer stehen bleiben, aber jetzt machen S’ bitte einmal auf«, erwiderte Leopold ungeduldig. Er konnte es nicht erwarten, einen geradezu jungfräulichen Tatort vor sich zu haben. Außerdem war ihm in dem dunklen, engen Gang wohl auch ein wenig mulmig.

Ein wenig zitternd nahm Berger den Wohnungsschlüssel hervor und schloss die Türe auf. Während Leopold kurz den kleinen Vorraum musterte und das Licht aufdrehte, blieb er nahezu unbeweglich hinter der Türe stehen.

»Wenn Sie wirklich nicht weiter gehen wollen, dann sagen Sie mir wenigstens, wo sie liegt«, brummte Leopold.

»Im Wohnzimmer«, kam es leise von Bergers Lippen.

Die Tür zum Wohnzimmer lag rechter Hand. Sie führte in einen einfach eingerichteten Raum mit einem Tisch und einer kleinen Sitzecke, einem Fernsehapparat, einer Zimmerpflanze, einem Wandschrank und einigen Regalen, auf denen Bücher und Zeitschriften gestapelt waren. Zwischen dem Schrank und den Regalen befand sich die Tür zum Schlafzimmer. Vor dem Schrank lag die Tote. Der Kopf war leicht zur Seite gedreht, und so sah Leopold sofort die Wunde am Hinterkopf, die den Tod herbeigeführt hatte. Der Teppich war voll Blut.

Leopold schüttelte den Kopf. »So ein schönes Nachthemd zum Sterben anziehen ist ja die reinste Verschwendung«, murmelte er.

Er vermutete, dass der gewaltsame Tod eingetreten war, als Frau Susi sich gerade zu Bett begeben wollte. Die Türe war nicht aufgebrochen worden. Also hatte der Mörder einen Schlüssel wie Herr Berger, oder Susi hatte ihn noch herein gelassen. Das alles musste sich sehr spät zugetragen haben, denn Susi hatte ja erst um halb zwölf das Kaffeehaus verlassen. Aber wann genau?

Neben dem Fernsehapparat lag eine aufgeschlagene Programmzeitschrift. Am Montag, dem 6. November, waren mehrere Sendungen unterstrichen, zwei Gameshows und einige Dokumentationen. Eine dieser angezeichneten Dokumentationen hieß ›Metropolen der Welt: Chikago‹ und war als Wiederholung von 0.30 Uhr bis 1.15 Uhr gelaufen.

Immerhin etwas. Möglicherweise hatte sich Susi Niedermayer diese Sendung noch angesehen, ehe – oder während – sie auf ihren Mörder getroffen war. Die Leiche lag jedenfalls schon länger da, und außerdem war ein gewaltsamer Tod im Morgengrauen statistisch eher unwahrscheinlich.

Erst jetzt fiel Leopold der eigenartige Geruch auf. Es roch in der Wohnung nach Rauch, wenn auch nur schwach. Zuerst hatte er es gar nicht richtig wahrgenommen. Seine Nase war an die verrauchte Kaffeehausluft so gewöhnt, dass ihm dieser leichte Geruch nach Zigarettenrauch gar nicht aufgefallen war. Aber jetzt merkte er es umso deutlicher: Hier hatte jemand geraucht, und er glaubte nicht, dass es Frau Susi gewesen war.

»Herr Berger, haben Sie die Frau Susi jemals rauchen gesehen?«, rief Leopold ins Vorzimmer.

»Nicht, dass ich wüsste«, kam es trocken von dort zurück. »Wann rufen Sie endlich an? Das Telefon steht neben dem Fernseher.«

»Gleich, Herr Berger, gleich! Ich kann nicht zaubern«, sagte Leopold. Dann warf er einen Blick ins Schlafzimmer und entdeckte auch hier Seltsames. Links über dem breiten Doppelbett, dessen Sinn Leopold jetzt nur mehr durch eine gewisse körperliche Verbreiterung bei Frau Susi begründet sah, das aber früher einmal beiden Schwestern als Schlafstatt gedient haben mochte, hing die eingerahmte Fotografie einer weiten Prärielandschaft. Der Platz rechts daneben war frei, eine etwa 50x70 cm große Fläche, bei genauerer Betrachtung heller als der Rest der Wand. Was auch immer dort gehangen hatte, hing jetzt nicht mehr da.

Das Bett selbst war unberührt. Frau Susi hatte sich also noch nicht schlafen gelegt, als sie umgebracht wurde.

»Kommen Sie, Leopold, rufen Sie an!«, klang es ungeduldig aus dem Vorzimmer.

»Jetzt beruhigen Sie sich doch, Herr Berger, und beantworten Sie mir noch eine Frage: Wie viele Bilder hängen für gewöhnlich über dem Bett der Frau Susi?«

»Ach, Sie meinen die zwei komischen Fotos? Da ist das eine, das einmal jemand von ihr und so einem Kerl mit Cowboyhut gemacht hat – furchtbar geschmacklos – und das andere, das … das …«

»Von der Prärie?«

»Von der Prärie, genau. Was soll diese Fragerei?«

»Sie werden schon sehen, Herr Berger, alles hat seine kriminalistische Notwendigkeit. Und noch etwas ist wichtig: Wie gründlich war immer aufgeräumt, wenn Sie zum Mittagessen gekommen sind?«

»Mir tut es langsam schon leid, dass ich Sie überhaupt bemüht habe, Leopold. Sie scheinen ja gar nicht an den Anruf zu denken! Aber bitte. Die Frau Susi war keine schlampige Person, wenn Sie das meinen, sie hat schon auf sich und die Wohnung geschaut. Nicht übertrieben allerdings.«

»Es lag also ab und zu etwas herum?«

»Ja, sicher! Aber das hat nicht weiter gestört. Mich zumindest nicht.«

Und jetzt lag nichts herum außer der Leiche. Alles sah blitzblank zusammengeräumt aus. Der Täter hatte sich reichlich bemüht, alle Spuren zu verwischen. Wie gut ihm das gelungen war, würden die Leute von der Spurensicherung herausfinden. Jedenfalls handelte es sich um eine gründliche Person, und es war einstweilen völlig unklar, ob etwa Geld oder Wertgegenstände fehlten. Eine Tatwaffe war natürlich auch nirgendwo auszumachen.

Leopold durchquerte den Vorraum, sagte automatisch:

»Gleich, Herr Berger, gleich«, und warf noch rasch einen Blick in die Küche. Dort herrschte schon ein wenig mehr Unordnung. Schmutziges Geschirr stand im und neben dem Abwaschbecken. Leopolds Augen suchten nach irgendetwas, einem Aschenbecher, zwei Kaffeeschalen oder zwei Gläsern, den Überresten eines – wenn auch noch so kurzen – Beisammenseins, das dann mit einem gewaltsamen Tod geendet hatte. Aber nichts deutete mit Bestimmtheit auf ein solches Beisammensein hin. Der Täter war also auch in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft gewesen, oder Leopold lag einfach falsch mit seiner Vermutung.

Er öffnete den Kühlschrank. Wurst, Käse, Milch, Rahm, Eier. Nichts Besonderes, bis auf eine ungeöffnete Flasche Wein im obersten Regal und eine halbvolle Flasche Martini in der Kühlschranktür. Das wunderte ihn schon ein bisschen. Im Kaffeehaus hatte Frau Susi seines Wissens nie Alkohol getrunken.

Langsam erkannte Leopold, dass sich ihm immer mehr Fragen stellten, auf die er keine Antwort wusste. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, seinen Freund Richard Juricek bei der Mordkommission anzurufen.

»So, jetzt werden Sie endlich erlöst, Herr Berger«, sagte er, als er wieder durchs Vorzimmer ins Wohnzimmer gehen wollte. Da fühlte er plötzlich eine merkwürdige Stille um sich. Er hob die Augen, und sein Herz schlug jetzt merkbar schneller.

Das Vorzimmer war leer. Herr Berger war nicht mehr da.

*

»Herr Berger?«

Ungehört verhallte diese reflexartig gestellte Frage im Raum. Herr Berger war verschwunden, hatte das Weite gesucht, hatte sich still und heimlich aus dem Staub gemacht. Leopold war mit der Leiche allein.

Die Stille behagte ihm nicht. Es war einer jener Augenblicke, in denen seine sonstige Selbstsicherheit auf die Probe gestellt wurde. Oft waren es diese kleinen, überraschenden Wendungen, die ihn kurz aus dem Tritt brachten, ehe er wieder klar zu denken begann. »Ich bin ja selber schuld, wenn ich jetzt dastehe wie bestellt und nicht abgeholt«, sagte er zu sich. »Ich habe es eben wieder einmal übertrieben. Trotzdem ist der Berger ein elender Feigling!«

Der Mantel! Vor Leopolds Augen hing jener dunkelblaue Mantel, den Frau Susi gestern im Kaffeehaus angehabt hatte. Er hatte deutlich gesehen, dass innen etwas Weißes herausleuchtete, als er ihr hineingeholfen hatte. Beinahe hätte er vergessen, dass er auch deswegen in diese Wohnung gekommen war. Voller Erwartung machte er einen fachmännischen Griff in die Innentasche des Mantels, und sein Erinnerungsvermögen wurde belohnt. Zwei Dinge fanden sich in seiner Hand: ein Brief und eine Notiz auf einem Zettel. Der Brief war an Gertrud Niedermayer in Groß Enzersdorf adressiert, es klebte aber noch keine Marke darauf, und das schien auch der Grund zu sein, warum er noch nicht aufgegeben war. Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer: 271 77 85.

›Merkwürdig‹, dachte Leopold, ›jetzt hat die mit ihrer Schwester tatsächlich nur mehr schriftlich verkehrt.‹ Er steckte sicherheitshalber Brief und Notiz ein.

Als er überlegte, was nun weiter zu tun war, läutete es zweimal an der Tür. Er zuckte zusammen. »Herr Berger?«, rief er nochmals fragend und unsicher.

Statt einer Antwort läutete es wiederum. »Machen Sie auf«, sagte eine schrille Frauenstimme. »Ich weiß, dass Sie hier sind.«

»Wer ist da?«, fragte Leopold. Zögernd öffnete er die Tür einen Spalt breit. Draußen stand eine Frau unbestimmten Alters, nicht mehr taufrisch, aber jünger als die Ermordete. Sie hatte schwarzes, grau durchzogenes, fettiges Haar, das nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Das Gesicht war stark geschminkt und hatte sicher mehr Falten, als man in dem diesigen Licht erkennen konnte. »Ich heiße Maria Ivanschitz«, sagte sie. »Und Sie sind sicher der Herr Leopold!«

»Woher wissen Sie denn das?«, fragte Leopold misstrauisch.

»Vom Herrn Berger. Er ist gerade ganz aufgeregt auf dem Gang gestanden, als ich ihn zufällig durch meinen Türspion gesehen habe. Ich bin nämlich die Nachbarin von gegenüber. Na, und wie ich ihn so sehe, habe ich die Tür aufgemacht und ihn gefragt, was denn los ist, was er denn hat, ob etwas mit der Frau Susi ist. Er war ja heute schon einmal da, wie Sie wissen, und ist da gleich wieder weggerannt. Kurzum« – sie holte einmal tief Luft – »kurzum, er sitzt jetzt bei mir auf ein Schalerl Kaffee und hat mir gesagt, dass Sie auch hier sind. Sagen Sie, stimmt es, dass die Frau Susi tot ist? Dass man sie … erschlagen hat?«

»Sie können ja selber nachschauen«, meinte Leopold, immer noch misstrauisch.

»Nein, nein, lieber nicht! Ich glaub Ihnen schon. Mein Gott, ist das schrecklich!« Sie versuchte zu lächeln. »Aber warum stehen wir denn hier auf dem Gang herum, wo es so furchtbar ungemütlich ist und uns jeder hören kann. Kommen Sie doch auch zu mir herüber, es ist noch genug Kaffee da. Außerdem möchte ich Ihnen was erzählen, bevor die Polizei kommt. Ich habe da nämlich gestern einige Beobachtungen gemacht.«

Leopold zog wie in Trance die Türe hinter sich zu. Es hatte ihm einfach die Sprache verschlagen. Sogar den Bildband über Kalifornien hatte er vergessen. Diese Frau hatte ihn sozusagen kalt erwischt, und er reagierte im Augenblick mehr, als selbst irgendwelche Aktivitäten zu starten. Zusätzlich machte ihm das penetrante Organ der Frau Ivanschitz zu schaffen.

»Nur herein in die gute Stube«, hallte es ihm schon wieder entgegen, während Frau Ivanschitz die Wohnungstüre aufschloss. »Sagen Sie, ist es wahr, dass Sie schon auf eigene Faust Nachforschungen angestellt haben, wie der Herr Berger sagt?«

»Langsam, langsam«, sagte Leopold. »Ich bin nur ein einfacher Ober vom Kaffeehaus vorne an der Ecke. Die Frau Susi war Stammgast bei uns, und natürlich interessiert man sich da. Außerdem werden wir, wie Sie richtig bemerkt haben, alle von der Polizei befragt werden, und da muss man sich schon alles genau anschauen und einprägen, damit einem nicht das Wort im Mund herumgedreht wird.«

»Sie sagen es, Sie sind ein gescheiter Mann«, bemerkte Frau Ivanschitz. »So, kommen Sie nur weiter.«

Leopold folgte ihr in die Küche, wo Herr Berger sichtlich erleichtert beim Kaffee saß und mit einem kaum merkbaren, schadenfrohen Grinsen die Schale zu seinem Mund hob. »Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten«, sagte er entschuldigend, und Leopold meinte, dabei ein leichtes Augenzwinkern in seine Richtung wahrzunehmen.

Ja, ja, der Herr Berger! Ein undankbarer, ungeduldiger Patron, ein Opportunist. Und ein Feigling obendrein. Mit dem würde man nicht einmal kleine Ponys stehlen können. Aber mehr noch als über den ängstlichen, im Grunde harmlosen Mann ärgerte sich Leopold über sich selbst. Diese Frau hatte etwas Magisch-Aufdringliches an sich. Das war aber noch lange kein Grund, sich von ihr einfach in die Defensive drängen zu lassen.

»Mit Milch und Zucker?« Schon wieder diese penetrante Stimme, die so gar nichts Anheimelndes besaß.

»Etwas Milch und zwei Zucker, bitte!«

Leopold versuchte, seine Gedanken wieder in Ordnung zu bringen. Dabei stellte er sich gleich die Frage, ob nicht Frau Ivanschitz auch als Täterin in Frage kam. Warum nicht? Sie lebte in unmittelbarer Nähe der Toten, kannte ihre Gewohnheiten und konnte sich jederzeit Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft haben. Ein vertrauliches Klopfen hätte genügt. Etwa so:

»Frau Niedermayer, sind Sie noch wach?«

»Bin ich froh, dass ich jetzt da sitze«, murmelte Berger in der Zwischenzeit vor sich hin. »Nach dem ganzen Schock! Nein, nein, die Frau Ivanschitz ist eine Perle, das muss man schon sagen.«

Eine sehr ordnungsliebende Perle, schoss es Leopold durch den Kopf. Schau, schau, wie blitzblank hier alles ist. Wie drüben am Tatort. Das passte irgendwie zusammen. Man konnte Frau Ivanschitz nicht von vorneherein als Täterin ausschließen.

»So, da ist der Kaffee. Kann ich mit noch etwas dienen?«, fragte Frau Ivanschitz.

»Einen Aschenbecher, bitte, wenn Sie so lieb sind«, sagte Leopold und zog ein Packerl Ernte 23 aus der Sakkotasche. »Ich würde auf den Schreck gern eine rauchen.«

»Gern hab ich das ja nicht«, sagte Maria Ivanschitz, »aber wenn es unbedingt sein muss. Meinem Mann kann ich es auch nicht abgewöhnen, der raucht immer noch zwei, drei, wenn er nach Hause kommt. Passen Sie halt auf, dass keine Asche daneben geht, das ist so hässlich!«

Als sie mit dem Aschenbecher kam, legte sie los:

»So, jetzt muss ich Ihnen aber erzählen, was ich gestern und in der Nacht auf heute alles beobachtet habe.«

»Ich bitte darum«, sagte Leopold, während er sich eine Zigarette anzündete.

»Also, so viel los war bei der Frau Susi schon lange nicht mehr. Gestern Nachmittag habe ich gehört, wie sie laut geschrien und mit einer anderen Frau gestritten hat. Wie ich so nachschauen will, was da los ist, geht auch schon die Türe auf und heraus kommt ihre Schwester Gertrud, die hier früher einmal zusammen mit ihr gewohnt hat. Ich habe nicht schlecht gestaunt. Die beiden haben sich ja in den letzten Jahren praktisch nicht mehr gesehen. Es hat da einmal ziemlichen Krach gegeben, wissen Sie. Was macht die Gertrud denn auf einmal da, habe ich mich also gefragt. Da ist sie auch schon die Stiege hinuntergelaufen mit etwas Großem, Rechteckigem unter dem Arm. Und die Susi hat ihr nachgeschrien: ›Nimm es nur und werde glücklich damit!‹«

Das Bild, dachte Leopold, die Schwester hat das Bild mitgenommen. Er machte einen Zug an seiner Zigarette. »Ist ja interessant«, sagte er. »Ich kenne die Gertrud. Sie war früher manchmal mit der Frau Susi im Kaffeehaus, als sie noch zusammengelebt haben.«

»Ich kenn die Gertrud auch«, meldete sich Berger, nur um etwas zu sagen.

»Sehen Sie«, sagte Frau Ivanschitz. Es klang nicht ganz passend, aber sie sagte es. »Aber das ist noch lange nicht alles. Mitten in der Nacht war da noch einmal so ein Getöse. Es war so ein Wirbel auf dem Gang, dass ich aufgewacht bin. Ein Betrunkener ist vor der Tür von der Frau Susi gestanden – das heißt, so richtig gestanden ist er eigentlich nicht mehr, er hat eher gewackelt – und wollte allem Anschein nach hinein zu ihr. Ich konnte ihn leider nur von hinten sehen, und es war sehr düster. Ich konnte also nicht viel erkennen. So geschneckerltes (gelocktes) Haar hat er gehabt und eine dunkle Lederjacke getragen. Keine Brille, kein Bart, glaube ich. Die Frau Susi hat gerufen: ›Was wollen Sie denn da? Sie können doch jetzt nicht zu mir herein um diese Zeit! Schaun S’, dass Sie verschwinden, sonst rufe ich die Polizei!‹ Sie war ganz aufgeregt, und ich habe mir gedacht, ich muss jetzt hinübergehen und ihr helfen.«

»Und dann?«, fragte Berger gespannt. Er schien wieder zu Kräften zu kommen.

»Dann hat er noch etwas gestammelt, was ich nicht verstanden habe, und ist gegangen, besser gesagt, die Stiege hinuntergetorkelt. Die Frau Susi hat ihre Türe zugemacht und ich habe mich wieder niedergelegt. Mein Mann hat gefragt, was los war, und ich habe gesagt: ›Ach, nur so ein Betrunkener, kannst ruhig weiterschlafen.‹« Sie machte eine kurze künstlerische Pause. »Nach einer Weile bin ich noch einmal aufgewacht, weil ich mir eingebildet habe, ich hätte etwas gehört. Es war aber dann ganz ruhig, und auch auf dem Gang war niemand. Ich dachte also, ich hätte es nur geträumt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser brutale Kerl zurückgekommen ist und die Frau Susi erschlagen hat.«

»Wieso soll gerade er es gewesen sein?«, fragte Leopold.

»Weil er betrunken war und enthemmt, und weil er etwas wollte von der Frau Susi und sie ihn nicht in die Wohnung gelassen hat. Irgendwie wird er sich schon wieder Zutritt verschafft haben. Vielleicht ist er heimlich eingedrungen, sie hat ihn bemerkt und er hat sie niedergeschlagen. Was weiß denn ich! Wer käme denn sonst in Frage?«

»Ich weiß auch nicht, aber immerhin könnte zum Beispiel schon jemand da gewesen sein, den Sie nicht bemerkt haben. Eine andere Frage: Wann war denn das Ganze genau?«

»Ganz genau kann ich es nicht sagen, aber das erste Mal bin ich so gegen 1.15 Uhr aufgewacht, das zweite Mal ungefähr eine halbe Stunde später.«

Das konnte vom Zeitschema her passen, sofern die Angaben dieser aufdringlichen, neugierigen und betont reinlichen Nachbarin auf Wahrheit beruhten. Was Leopold nun allgemein freundlicher stimmte, war die Tatsache, dass er begann, den Gesprächsverlauf zu bestimmen. »Hat Frau Susi denn öfter abends oder so spät in der Nacht Besuch gehabt? Ist Ihnen da etwas aufgefallen?«, fuhr er fort.

»In letzter Zeit eigentlich nie, soweit ich weiß. Sie kam manchmal später nach Hause, aber Besuche – nein!«

»Glauben Sie, dass sie den Betrunkenen gekannt hat?«

»Also, das kann ich nicht sagen. Das kann ich wirklich nicht sagen.«

»So, jetzt haben Sie aber wirklich alles erfahren, was Sie wissen wollten«, meldete sich der munter gewordene Berger wieder zu Wort. »Ich kann es Ihnen nicht ersparen, Sie müssen noch einmal hinüber zur Frau Susi und endlich die Polizei anrufen. Es ist Ihre Schuld, wenn Sie bis jetzt gebrodelt (getrödelt) haben. Aber anrufen müssen Sie irgendwann einmal.« Der Kaffee entwickelte bei ihm jetzt eine belebende Wirkung. Oder war es doch der Schnaps von vorhin?

Leopold konnte sich jedenfalls nicht mit dem Gedanken anfreunden, sich auf ein weiteres Rendezvous mit der Leiche einzulassen. »Nein, hinüber geh ich jetzt nicht mehr«, stöhnte er. Dann nahm er ein kleines Handy aus seiner Sakkotasche, tippte rasch eine Nummer ein, wartete einige Augenblicke und sagte dann mit einem zurechtweisenden Blick auf den verblüfften Berger:

»Spricht dort die Mordkommission? … Ja? … Dann verbinden Sie mich bitte mit Oberinspektor Juricek. Es ist dringend.«

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