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Dienstag, 1. März
Оглавление„Die spinnen doch!“
Erst nach einem einfachen Mittagessen, Nudeln mit Pesto, komme ich dazu, unser heutiges „Käseblatt“ zu lesen. Am Vormittag war ich zum Testen im Nachbarort. Negativ lautet das Ergebnis und in diesen Zeiten ist „negativ“ das neue „positiv“. Endlich darf ich wieder unter Leute.
Maren lacht. „Da kannst du dann ja gleich mitmachen. Eine Pappnase habe ich oben noch irgendwo herumliegen!“
„Niemals! Ich mache mich doch nicht zum Affen!“
„Du bist eben ein typisch Norddeutscher, völlig unterkühlt! Wärst du am Rhein geboren, könntest du nicht anders. Die haben Karneval im Blut.“
„Aber genetisch ist das ganz sicher nicht, sondern antrainiert. Die fahren schon als Babys im Prinzenwagen mit und werden bei Alaaf- und Helau-Rufen der Mutter gestillt. Das verstehe ich ja. Aber hier bei uns? Die haben vermutlich im tristen Februar einfach zu viel Langeweile.“
Ich habe gerade den Artikel meiner Kollegin Elske gelesen. Wie immer sauber recherchiert und ansprechend geschrieben, berichtet sie über Karneval bei uns im Landkreis. In den letzten zwei Wochen hat sie mich vertreten. Ein bisschen regen sich deshalb Schuldgefühle in mir, deutlich mehr jedoch Erleichterung. Gut, dass nicht ich mich mit den Jecken herumschlagen musste.
Maren tippt auf das große Foto mit den verkleideten, lachenden und verzückten Karnevalisten. „Schau sie dir doch an! Die leben ihre Sehnsucht. Karneval ist ihre Leidenschaft, ihre Passion. Sie fiebern darauf hin, basteln monatelang an ihren Kostümen, Umzugswagen und Büttenreden herum und gehen ganz darin auf. Das ist doch etwas Schönes!“
Sie lacht und wehe, ich widerspreche ihr.
„Stimmt. Das hat natürlich was. Aber Passion definieren wir Christen ja wohl etwas anders, oder?“
Ich weiß, dass Maren auf meine Anspielung anspringt.
Sie ist es, die mich in den christlichen Glauben und die Gemeinde von Himmelstal hineingezogen hat. Sie ist jedenfalls mehr Experte als ich, der ich „von draußen“ in die christliche Szene gekommen bin.
Sie lacht und streicht sich ihre braunen Locken aus dem Gesicht. „Na ja, so ganz anders ist es mit der christlichen Passion auch nicht gemeint. Gottes Leidenschaft für uns Menschen schafft ihm am Ende Leiden.“
Leidenschaft schafft Leiden. Das Wortspiel habe ich bereits gehört. „Jesus leidet aus lauter Leidenschaft? Das klingt ein bisschen idealisiert und abgehoben“, erwidere ich deshalb. „Unter Passionszeit habe ich bisher etwas anderes verstanden. Echtes Leiden, Sterben, Folter, Blut, Einsamkeit … Jesus hatte jedenfalls nichts zum Lachen wie die da auf dem Foto.“
Maren nickt. „Das stimmt. Am Aschermittwoch ist es aber ja auch vorbei mit dem Spaß. Da beginnt die Fasten- und Passionszeit …“
Sie wird jäh unterbrochen. Ein gellender Alarmton baut sich auf und dringt schnell durch jede Ritze. Die Sirene steht auf dem Dach des Tagungshauses, etwa dreihundert Meter von Marens Haus entfernt. Wenn sie losgeht, fordert sie unbedingte Aufmerksamkeit. Wir sind irritiert.
„Es muss etwas passiert sein, lass uns nachsehen.“
Ich stehe bereits an der Haustür. Maren folgt mir. Nur am Montag, Punkt zwölf, wird die Sirene getestet. Heute ist Dienstag. Zu sehen ist nichts.
„Wenn du nicht Journalist wärst, Jens, würde ich sagen, sei nicht so neugierig und sensationsgeil!“
„Danke. Aber ich bin nun mal Journalist.“ Ich grinse sie an. „Und neugierig und sensationsgeil ist eben meine Passion!“
Erste weniger laute Sirenen sind aus der Ferne zu hören.
„Sie rücken echt schnell aus! Bin gespannt zu hören, wer diesmal der Erste war.“
Oft erreicht Theo Beyer, Leiter vom Tagungshaus, als erster das Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr. Die Geschichten haben sich herumgesprochen.
„Vielleicht kommt er wieder auf Socken!“ Maren lacht.
Der laute Alarm endet so plötzlich wie er begonnen hat. Man hört andere, leisere Sirenen, sieht von hier aus allerdings nichts.
„Ich muss los!“ rufe ich meiner Liebsten zu und hole Schuhe und Jacke aus dem Schrank.
Maren reicht mir meine Fototasche. „Dann mal viel Erfolg auf der Jagd nach Schlagzeilen …“ Ihre Ironie ignoriere ich.
*
Es ist diesig. Man hat das Gefühl, es ist noch früher im Jahr. Schon seit Tagen zeigt sich die Sonne kaum. Es nieselt bei Temperaturen um acht bis vierzehn Grad. Ich nehme dennoch das Rad. Was immer passiert ist, es ist im Norden von Himmelstal geschehen. Vielleicht ein Brand im Schweinestall, oder ein Unfall auf der schmalen Straße ins Nachbardorf. Feuchte Luft kriecht in meine Kleidung. Hände und Ohren frieren. Ich hätte mich winterlicher kleiden sollen.
Als ich an der alten Wassermühle vorbei bin, sehe ich die ersten Blaulichter. Ein Rettungswagen vom Roten Kreuz biegt gerade ab. Ich folge ihm so schnell ich kann. Es geht bergauf, aber nur ein kleines Stück. Ein Polizeiwagen mit Blaulicht rast an mir vorbei. Ein Feuerwehrfahrzeug steht mitten auf dem Acker. Es scheint sich festgefahren zu haben. Aufgeregt laufen einige Gestalten in rot-gelber Uniform um das Fahrzeug herum. Rechts davon gibt es mitten auf dem riesigen braunen Acker ein kleines rundes Busch- und Waldstück. Gesehen habe ich es bei Spaziergängen oft, dort gewesen bin ich noch nie. Einen Weg dorthin scheint es nicht zu geben. Man muss querfeldein über den Acker stapfen. Ich schätze, das Waldstück hat einen Durchmesser von etwa ein- oder zweihundert Metern. Ich stelle mein Rad an eine Birke, schnappe mir die Fototasche, ignoriere die Fahrzeuge mit Blaulicht und stapfe über den Acker Richtung Waldstück. Ich schaffe es bis zum Rand. Dann hält mich ein Polizist zurück.
„Presse. Ich bin von der Presse.“
Der junge Mann in Uniform schaut grimmig drein.
„Keine Presse. Niemand darf weiter. Lebensgefahr!“
Zwei weitere Polizeiwagen heulen heran und parken am Rand des Ackers. Unzählige Blaulichter wirbeln durch die feuchte Luft. Die Beamten sperren den Zugang zum Acker. Ich bin schon durch, gut so. Weiter voran allerdings komme ich nicht – und muss ich auch nicht unbedingt.
Ich zücke meine Canon. Einen Blitz brauche ich nicht. Von hier aus schaue ich zwischen Bäumen und Büschen hindurch in eine Senke oder sowas wie einen Krater. Unter mir kracht und funkt es. Einmal explodiert etwas. Fast denke ich an eine Handgranate – aber das kann ja wohl nicht sein. Vielleicht Feuerwerkskörper? Jedenfalls brennt der Busch und eine kleine Holzhütte steht in Flammen.
Ein Krankenwagen hat es bis zum Rand der Senke geschafft. Sanis springen heraus und klettern mit einer Trage und einer großen Erste-Hilfe-Tasche hinunter. Zwei, nein drei Jugendliche stehen etwas weiter von mir entfernt am Rand des Kraters und schauen wie ich hinunter. Ein Sanitäter kommt von unten herauf. Er stützt einen Jungen, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, und hilft ihm den Abhang hinauf. Das Gesicht des blonden Jungen ist blutverschmiert und schwarz von Ruß. Er muss inmitten des Infernos gewesen sein. Eine zweite Person wird auf der Trage hochgehievt. Auch dieser Junge, etwas älter, ist verletzt. Aber er winkt den Jugendlichen zu. Immerhin lebt er.
Ich fotografiere weiter.
Jetzt ist das Feuerwehrfahrzeug zwar noch nicht freigekommen, sie haben aber lange Schläuche ausgerollt. Ich erkenne unseren Brandmeister Enno, Theo und Gerd. Die Himmelstaler Feuerwehr war als Erste am Brandort. Nun stehen mindestens drei weitere an der Straße. Ein Trecker kommt von unten über den Acker gefahren. Sie scheinen aber darauf zu verzichten, das Löschfahrzeug weiter zum Brandherd zu ziehen. Dafür versucht ein robustes Feuerwehrauto, fast schon ein Oldtimer, den aufgeweichten Acker zu überqueren. Es hat Erfolg und erreicht tatsächlich den Rand der Senke.
Direkt neben mir wird es hektisch. Schläuche werden ausgerollt, Kommandos ertönen.
Der junge Polizist ermahnt mich. Ich soll nicht im Weg herumstehen, sondern zurück zur Straße gehen! Okay, ich ziehe mich zurück. Allerdings interessiert es mich, was die Jungen dort hinten am Kraterrand zu berichten haben. Mindestens zwei Jugendliche sind verletzt abtransportiert worden und einer kannte die jungen Leute dort drüben.
Als die drei bemerken, dass ich auf sie zukomme, befürchte ich einen Moment, sie laufen davon. Doch einer scheint mich zu kennen. Sie besprechen sich kurz und bleiben stehen. Nun erkenne ich unseren Nachbarsjungen.
„Dennis. Wie gut, dass du nicht auch verletzt bist!“
Er senkt den Kopf. Soweit ich weiß ist Dennis vierzehn Jahre alt. Jetzt trägt er nicht die Fußballklamotten oder Jeans mit T-Shirt, in denen ich ihn sonst gesehen habe, sondern so etwas wie Tarnkleidung. Auch die beiden anderen haben olivgrüne und gefleckte Klamotten an. Ich vermute allerdings, es sind keine Original- sondern improvisierte Tarnuniformen. Mir schwant nichts Gutes.
Ich nicke in Richtung Polizeiwagen an der Straße.
„Haben die euch schon befragt?“
Sie schütteln mit dem Kopf. Ich wundere mich, dass sie nicht einfach abgehauen sind und sage das.
„Wir wollten unsere Kumpels nicht im Stich lassen!“ erklärt Dennis mit leiser Stimme.
Ich frage, wer die beiden Verletzten sind. Dennis nennt mir ihre Namen.
„Und was ist passiert?“
Die Jungen schauen sich gegenseitig an.
„Es kommt sowieso raus!“ meint Dennis. Die anderen nicken. „Und wenn es in die Zeitung kommt, sollen die Leute wenigstens unsere Version lesen!“ Wieder nicken die zwei jüngeren. Dennis wird von ihnen offenbar als Wortführer anerkannt.
„Ja, dann erzählt mal.“
Ich zücke mein Handy und drücke auf Aufnahme. Die Jungen scheint das nicht zu stören und Dennis erzählt mir, was passiert ist. Als ich das Gerät ausschalte, ist mein journalistischer Einstieg nach 14 Tagen Corona-Quarantäne gesichert.
Ich verzichte darauf, die Jungen zu fotografieren – das datenschutzrechtliche Theater mit den Eltern erspare ich mir. Ein alter Hase wie ich hat keine Lust mehr, sich durch Nebelkerzen ausbremsen zu lassen.
Etwa zwei Stunden später hole ich mir noch ein paar Fakten und Zahlen zum Feuerwehreinsatz von Enno Diekmann, unserem Brandmeister. Dann schicke ich mein Material an die Redaktion.