Читать книгу was Leiden schafft - Hermann Brünjes - Страница 5
Mittwoch, 2. März
Оглавление„Nehmt euch ein Beispiel an Jens! Kaum gesund, liefert er eine Bomben-Story!“
Florian reibt sich die fleischigen Hände und grinst über das breite Gesicht. Die anderen am Tisch der Redaktionskonferenz, einschließlich mir selbst, wirken nicht besonders fröhlich.
Steini trägt heute ein T-Shirt mit „99Jahre“ und stilisierter Prinzenmütze, vermutlich ein Symbol des Braunschweiger Karnevalvereins, den er besonders gut findet. Er murmelt etwas vor sich hin. „Der hat die Bomben doch selbst gezündet“. Ich sitze direkt neben ihm, kann mich aber auch irren. Obwohl es zu Steini passt. Er ist permanent neidisch auf die Erfolge anderer.
Laut sagt er: „Jahnke war ja auch ausgeruht. Wir dagegen mussten seine Arbeit wochenlang mitmachen.“
Niemand geht auf die Bemerkung unseres Sportreporters ein. Man weiß: Typisch Steini. Der Endvierziger drückt sich gerne vor allzu viel Arbeit und treibt sich am liebsten auf Sportplätzen, in Vereinsheimen und auf feucht-fröhlichen Siegesfeiern herum. Und er klopft gerne Sprüche, besonders hohle.
Unser Chef Florian Heitmann merkt nun wohl doch, dass sein vermeintliches Kompliment eher kritisch aufgenommen wurde. Schnell schiebt er ein weiteres nach, vermutlich um die Stimmung zu verbessern.
„Elske, das soll nicht heißen, deine Karneval-Recherche war schlecht. Nein, im Gegenteil! Du hast einen richtig guten Artikel abgeliefert. Aber diese Story mit dem Granatenkrater ist nun mal doch was anderes.“
Elske ist meine Lieblingskollegin, eine kluge, hübsche und wortgewandte Ostfriesin. Sie ist mit neunundzwanzig die Jüngste in der Runde. Eigentlich ist sie die Öffentlichkeitsbeauftragte der Redaktion, in Notzeiten jedoch arbeitet sie auch als Journalistin – und Notzeiten sind während der nun bereits zwei Jahre anhaltenden Pandemie nicht Ausnahme- sondern Normalzustand.
Jetzt reagiert Elske auf ihre typisch hintergründige Art.
„Danke, Chef. Aber du weißt hoffentlich, dass wir alle uns für diese wunderbare Tageszeitung und unseren noch großartigeren Chef immer und leidenschaftlich ins Zeug legen!“
Florian merkt nichts von ihrer Ironie. Er nickt.
„Danke Elske, natürlich weiß ich das.“
Ich nehme Elskes Bemerkung als Vorlage, da ich mich beim Stichwort „leidenschaftlich“ an das gestrige Gespräch mit Maren erinnere. Wir wurden ja durch die Sirene unterbrochen, das Thema finde ich aber bemerkenswert.
„Chef, ist ja klar, dass ich an der Bombenstory dranbleibe! Da steckt vielleicht sogar mehr dahinter als Kinder, die mit dem Feuer spielen. Aber da ist noch was, etwas hoch Aktuelles jetzt nach dem Karneval. In gewisser Weise hat es auch mit dem durch Bomben verursachten Leid zu tun …“.
Elske scheint meine Gedanken zu lesen. Sie weiß, dass ich gerne auch christliche Themen in unser Blatt bringe, seit ich mich mit dem Glauben beschäftige. Nun fällt sie mir völlig überraschend ins Wort.
„… ja Chef, als Theologe ist dir ja klar, dass heute Aschermittwoch ist, oder? Und Steini ist aktives Mitglied im Karnevalsverein. Der weiß sicher auch, was Aschermittwoch bedeutet.“
Steinis Gesichtsausdruck widerlegt diese Annahme.
Unser Chef nickt. Hätte ihn jemand anders als Elske auf seine Vergangenheit hin angesprochen, hätte er jetzt abgeblockt.
Florian Heitmann hat einmal ein paar Semester Theologie studiert. Zu vorgerückter Stunde während einer Betriebsfeier mit ausgesprochen viel Alkohol ist dies einst herausgekommen. Bis heute weiß niemand, warum er sein Studium abgebrochen und statt Pastor dann Journalist geworden ist. Irgendetwas muss passiert sein. Heute jedenfalls ist Florian Heitmann fast zwanghaft ablehnend, wenn es um Kirche und Themen des Glaubens geht. Oder anders ausgedrückt: Er präsentiert sich als leidenschaftlicher Atheist.
Nun verstehe ich, warum Elske mich unterbrochen hat. Sie will mich unterstützen und weiß, dass Florian ihr so gut wie nichts ausschlägt, selbst religiöse Themen nicht.
Unser Chef tappt ihr in die Falle.
„Klar weiß ich das, Elske. Dazu muss man nicht Theologie studieren. Das weiß jeder Jeck!“ Er schaut Steini an und grinst wissend. „Der Aschermittwoch ist der Beginn der Fastenzeit. Da ist Schluss mit lustig. Und wenn du es auch aus meinem Mund noch auf christlich hören willst: Die Kirchen bezeichnen die kommenden 40 Tage bis zum Karfreitag als Passionszeit.“
Ich juble innerlich. Meine clevere Kollegin erspart mir ätzende Diskussionen und mühsame Überzeugungsarbeit. Ich überlasse die Sache nun lieber gänzlich ihr.
„Genau, Chef. Das ist eine wichtige Zeit für viele unser Leser und Leserinnen. Du weißt ja, Fasten, Abnehmen, weniger Müll und Konsum, Verzicht wegen Klimaschutz, Konzentration auf das Wesentliche … das interessiert einen Großteil unserer Leserschaft. Was wir Christen Fasten nennen, ist heute ein hoch aktuelles Thema. Und Passion allemal. Leiden, Schmerz und Sterben sind doch an der Tagesordnung. Also Jens hat recht! Das müssen wir in der Passionszeit unbedingt thematisieren.“
Sie ist großartig. Dabei habe ich noch kein Wort dazu gesagt. Aber ihr sprühendes Statement verfehlt nicht seine Wirkung. Florian tippt auf seinem iPad herum. Es wirkt, als versuche ein Gorilla zu telefonieren. Geöffnet ist der Monatsplan, das habe ich vorhin gesehen. Dann hebt er den Blick, schaut zunächst Elske an und dann mich.
„Okay. In der K-Woche vor Ostern machen wir eine dreiteilige Serie. Aber ich bin nicht senil, Kollegen. Ihr macht zusammen was über die Fasten- und die Passionszeit. Aber ihr sucht unbedingt den weltlichen Bezug. Wir sind keine Kirchenzeitung und machen keine Propaganda für die christliche Ideologie! Ist das klar?“
Ich nicke. „Chef, dass ich das hinkriege, habe ich doch wohl in der Vergangenheit bewiesen – oder?“
Die Kuh ist vom Eis.
Auch die drei Lokalredakteure am Tisch, unser Rechtsberater Dr. Mayer und der Chef der Druckerei nicken. Selbst Steini schluckt eine Bemerkung runter, die ihm wohl schon auf der Zunge lag.
Die Redaktionssitzung ist noch vor elf Uhr zu Ende. Florian lockert seine Krawatte und verschwindet hinter der Tür seines Chefbüros, wir anderen setzen uns an unsere Arbeitsplätze im Großraumbüro. Wäre heute nicht die wöchentliche Besprechung gewesen, zu der Florian uns alle verpflichtet hat, ständen unsere Schreibtische unbesetzt im Raum. Außer dem Chef, der täglich kommt und mit der Zeitung gewissermaßen verheiratet ist, arbeiten wir anderen in diesen Corona-Zeiten entweder „an der Front“, wie sich Florian ausdrückt, oder im Homeoffice.
„Danke!“ Ich nicke Elske zu. Unsere Schreibtische stehen einander gegenüber. Sie schenkt mir ihr strahlendes Lachen und tippt mit einem Bleistift auf den Block vor sich.
„Gern geschehen. Ich weiß doch, worüber unser Starreporter gerne berichtet! Und ich weiß auch, dass er mit seinem Chef nicht besonders diplomatisch umgeht.“
„Vermutlich hast du recht. Aber es ist schon ein bisschen unheimlich, wie du meine Gedanken liest.“
Sie wickelt sich den Bleistift um eine ihrer blonden Locken und mimt die Geheimnisvolle.
„Jens Jahnke, merke dir: Du bist für mich ein offenes Buch.“
„Dann weißt du ja auch, was ich vorhabe.“
Elske überlegt einen Moment und starrt mir mit ihren hellblauen Augen direkt in meine.
Dann antwortet sie: „Du willst die Bomben und das damit verbundene Leid mit dem Thema Passion verbinden. Du willst aufzeigen, wie das Leid der Welt und die Leiden Christi sich zueinander verhalten. Du willst unseren Leserinnen und Lesern einen Blick in menschliche Abgründe zumuten, sie dann aber auch trösten und ihnen Perspektiven aufzeigen.“
Nun grinst sie, weist mit dem Bleistift in meine Richtung und erwartet eine Reaktion. Ich bin baff. Sie kennt mich wirklich gut, manchmal denke ich, besser als meine Liebste Maren. Nicht zum ersten Mal schießt mir durch den Kopf, dass Elske und ich ein tolles Paar sein könnten, wenn da nicht die über zwanzig Jahre Altersunterschied wären. Wir passen einfach gut zusammen.
„Wie immer, schöne Blonde aus dem Norden, du triffst ins Schwarze. Und ich vermute, du hast es darauf angelegt, deinen alten Reporterkollegen zu unterstützen.“
Sie zeigt mir ihren Schmollmund.
„Herr Jahnke, Sie haben mich durchschaut. Wann fangen wir an? Am besten, du fasst nochmal zusammen, was in deinem Artikel stand – und vor allem, was du nicht erwähnt hast.“
„Okay. Lass uns aber den Ort wechseln. Hier im Büro haben die Wände Ohren und ich das Gefühl, ich arbeite.“
*
Eine halbe Stunde später sitzen wir gemütlich in unserem Lieblings-Café. Elske hat einen indischen Gewürztee bestellt, ich einen Cappuccino. Ich mag dieses Café, duftet es dort doch zugleich nach Kaffee und indischem Essen. Das indische Restaurant ist direkt nebenan. Außer Kuchen und Kaffee bekommt man auch Eis und kleine indische Leckereien. Und man hat einen guten Blick auf einen der schöneren Plätze unserer Kreisstadt.
Hier redet und denkt es sich ganz anders als im nüchternen Redaktionsbüro – und man muss auch nicht fürchten, dass der Chef plötzlich auftaucht oder Steini einen seiner geistreichen Sprüche raushaut.
„Da gibt es diesen Krater“, beginne ich meinen Bericht. „Woher genau er stammt, habe ich noch nicht herausbekommen. Vielleicht ein Überbleibsel der letzten Eiszeit, vielleicht ein alter See oder Teich. Als der Acker angelegt wurde, hat man alles in das Loch geschmissen, was man loswerden wollte: Feldsteine, Gestrüpp, Baumstümpfe und später wohl auch Munition aus beiden Weltkriegen.“
„Das wird ein Teil unserer Recherche sein müssen: Woher kommt die Munition? Wie überhaupt ist der Umgang mit Munitionsresten und Blindgängern aus den Weltkriegen? Das kann ich übernehmen!“ Elske hat Feuer gefangen.
„Danke. Ja, das müssen wir recherchieren. Ich selbst will lieber mit den Beteiligten reden. Die wohnen alle in und um Himmelstal herum.“
„Dieser Dennis ist ja offenbar sogar dein Nachbar.“
„Ja. Seit ich in Himmelstal wohne, kenne ich ihn. Von ihm habe ich auch die Details über die Katastrophe von gestern.“
„Der Krater war Spielplatz der Clique um Dennis?“
„Ja. Rädelsführer war allerdings seit letztem Sommer eher Linus, jener ältere Jugendliche, den sie auf der Trage abtransportiert haben. Er liegt noch mit Verbrennungen und einer Fleischwunde am Oberschenkel im Kreiskrankenhaus. Der andere verletzte Junge hatte nur leichte Verbrennungen und ist schon gestern wieder entlassen worden. Insgesamt waren sie zu fünft im Krater, als die Granate hochging.“
„Was sagen die Sprengstoffexperten? Was ist da explodiert?“
„Das wollte mir die Polizei nicht sagen. Sie haben Experten aus Munster eingeschaltet. Allerdings hat Dennis es mir verraten. Es war eine alte Handgranate. Auch später, als ich schon oben am Rand des Kraters stand, ist eine solche Granate explodiert. Dennis meint, sie hätten drei davon in ihrem Depot gehabt.“
„Das hört sich ja gefährlich an.“ Elske schüttelt den Kopf. „Und wie kam es zu Explosion? Doch nicht einfach so.“
„Richtig. Die Jungs haben die Granate gezündet.“
„Was? Sie haben sie absichtlich hochgehen lassen?“
„Mehr oder weniger. Sie haben nicht gedacht, dass das alte Ding noch explodiert – und schon gar nicht mit solcher Sprengkraft gerechnet. Linus hat eine der drei Handgranaten zwischen zwei Steinen festgeklemmt, eine Schnur am Sicherungshebel befestigt, sie haben sich in Sicherheit gebracht und er hat an der Schnur gezogen. Da ist die Granate hochgegangen und alles hat gebrannt. Später sind durch die Hitze auch die beiden anderen noch explodiert.“
Elske schaut mich ungläubig an. Sollte sie jemals Kinder haben, wird sie diese von Munition jeglicher Art jedenfalls fernhalten.
„Und die Jungs haben dort wirklich scharfe Munition gefunden und deponiert?“
„Ja. Sie haben sich im Krater eine Hütte gebaut und dazu Steine und Material zusammengesucht. Das Loch wurde von der Kirchengemeinde über viele Jahre als Friedhofsdeponie benutzt. Man hat Friedhofsabfälle dorthin gebracht, sogar alte Grabsteine und zerbrochene Skulpturen. Außerdem haben die Bauern ihre Feldsteine vom Acker dort reingekippt. Die Jungen haben das alles als Baumaterial für ihre Höhlenhütte genutzt. Beim Buddeln fanden sie dann auch alte Munition, meist verrostet und nur noch in Einzelteilen. Aber es waren eben auch diese Handgranaten dabei und auch mehrere, noch gut erhaltene Granaten.“
„Aber waren die Jungs nicht alt genug, die Gefahr zu erkennen? Mit vierzehn weiß man doch genug über sowas.“
„Natürlich. Aber in dem Alter reizt die Gefahr möglicherweise mehr als dass sie Angst macht. Die Jungs haben die Granaten ja auch gar nicht behalten.“
Elske staunt. „Davon stand nichts in deinem Artikel.“
„Es wäre auch zu früh. Dem will ich jetzt weiter nachgehen. Dennis hat erzählt, dass sie ihre Funde verkauft haben.“
„An wen?“
„An einen ehemaligen Bundeswehrsoldaten. Er hat vor etwa zwei Jahren die Fischteiche in der Nähe dieses Ackers mit dem Krater gekauft. Die Jungen durften bei ihm fischen und er hat sich in gewisser Weise um sie gekümmert.“
„Was heißt das denn nun: Gekümmert?“
„Das heißt, Dennis wollte den Namen des Mannes zunächst nicht rausrücken. Die Jungen lieben und bewundern ihren ‚Malle‘. Er grillt mit ihnen, lehrt sie schwimmen und tauchen, zeigt ihnen wie man angelt, bringt ihnen Knoten und Überlebenstricks bei und hängt mit ihnen auch einfach nur ab …“
„Malle? Das klingt doppeldeutig. Kommt er von Mallorca?“
„Nein, Malle ist sein Spitzname. Malnik Yilmatz heißt der Mann.“
„Und dieser Malle hat die Jungs der Gefahr im Krater ausgesetzt und sie sogar noch für ihre tödlichen Funde bezahlt?“
„Allerdings. Bezahlt hat er sie vor allem mit seiner, sagen wir, pfadfinderischen Betreuung und mit Fisch.“
„Mit Fisch?“
„Ja, alles was sie geangelt haben, durften sie behalten. Auf diese Weise haben die Jungen ihre Familien versorgt und manchmal sogar noch Fische verschenkt.“
Elske schaut mich angewidert an. Von Fisch hält sie nicht besonders viel, das weiß ich. Ich dagegen liebe Fisch und angle sogar gerne, wenngleich ich auch keinen Angelschein habe.
„Ja, Elske, ich weiß … aber Dennis und seine Kumpels waren nun mal begeistert von Malle und seinen Fischteichen.“
„Du sagst, die Jungen trugen Tarnuniformen. Das hört sich für mich ziemlich militärisch und damit verdächtig an.“
„So sehen wir es, ja. Aber auch Pfadfinder lieben Uniformen. Was die Clique da im Krater und auch bei Malle und an seinen Teichen getrieben hat, klingt teilweise nach Kriegsspiel und paramilitärischem Training – aber man kann es auch als naturverbundenes Waldläuferdasein betrachten. Hütte bauen, Bogenschießen, Knotenkunde, Überlebenstraining, Spurensuche, Fischen … das hat schon was für manche Jugendliche.“
„Aber du bist sicher, dass dieser Malle kein Kinderschänder ist? Oder ein Nazi? Oder eine andere Art von Wolf im Schafspelz?“
„Nein. Sicher bin ich mir da ganz und gar nicht. Ich werde diesen Fischteichen und deren Besitzer sobald wie möglich einen Besuch abstatten. Vielleicht kriege ich es raus.“
„Wenn nicht die Polizei ihn bereits eingebuchtet hat!“ Elske weiß auch jetzt sofort, was Sache ist und liest in meiner Mine. „Oh. Oder weiß die Polizei von Malle und den Fischteichen noch gar nichts?“
Sie hat es erfasst. Dennis und seine Kumpels haben sich geweigert, der Polizei von Malle zu erzählen. Ich habe ihnen nicht widersprochen. Auch der Junge im Krankenhaus wird nicht mehr erzählen, als unbedingt nötig. Da sind die Jungs sich sicher. In die Zeitung habe ich davon natürlich auch nichts gebracht. Ich zucke also unschuldig mit den Achseln.
„Ich überlasse es den Jungen, was sie der Polizei verraten – und der Polizei, eigenständig zu ermitteln. Im Moment jedenfalls weiß die Presse ein bisschen mehr als die Polizei.“
„Und du willst nicht mit denen kooperieren?“
„Doch, natürlich. Sie werden mich sicher wegen des Artikels kontaktieren.“
„Aber von Dennis und dem Geheimnis der Clique wirst du nichts verraten, wie ich dich kenne.“
Ich grinse mein verschlagenes Reportergrinsen. „Informantenschutz. Davon müsstest selbst du schon gehört haben.“
*
Nachdem Elske in ihrem weißen T-Cross davongerauscht ist, gönne ich mir einen Döner. Auch wenn ich nicht allzu gerne am Schreibtisch in der Redaktion sitze, ich genieße doch den Aufenthalt in der Stadt. Für jemanden, der in Himmelstal wohnt, erscheint selbst unsere Provinzhauptstadt wie eine Metropole. Drei oder vier Dönerbuden zur Auswahl, mehrere Eisdielen und Cafés – da zieht es Jens Jahnke nicht so schnell zurück ins Dorf.
Heute allerdings will ich nicht nur schlemmen, sondern noch einen Besuch im Kreiskrankenhaus machen.
Ich parke meinen Golf außerhalb der Schranke auf dem Seitenstreifen und erspare mir so die Parkgebühr. Anmeldung, Impfbescheinigung, Desinfektion, FFP2 Maske … in diesen Zeiten ein Krankenhaus zu besuchen ist nicht so einfach.
Wir surfen trotz Lockerungen immer noch ein wenig haltlos auf der vierten Coronawelle und leben in schwierigen Zeiten. An der Rezeption gebe ich mich als Onkel des Jungen aus. Ohne elterliche Vollmacht würden sie mich vermutlich sonst nicht mit ihm sprechen lassen.
Oben auf Station faucht mich eine vollschlanke Schwester an, als wolle ich ihr und ihren Patienten an den Kragen.
„Zu wem wollen Sie? Besuche sind nicht erwünscht.“
„Mein Neffe braucht sein Handy“, lüge ich. „Sie wissen ja, die Jugend von heute …“.
Sie wirkt jetzt zugänglicher.
„Wie heißt Ihr Neffe denn?“
Oh je, ich kenne seinen Nachnamen noch nicht.
„Linus“, antworte ich und hole Luft.
„Ah, Linus Bornkamp.“
„Richtig, genau der.“
„Na gut, aber nicht länger als eine Viertelstunde. Und hier nochmal die Hände desinfizieren!“
Sie schiebt mich in einen vom Hauptgang abzweigenden Flur, an dessen Ende sich ein Fenster und davor eine Sitzecke mit kleinem Fernseher an der Wand befindet. Ich desinfiziere meine Hände und schiebe dann die Tür an der rechten Seite auf. Linus liegt allein in einem geräumigen Zweibettzimmer. Sein rechtes Bein ist mit einem dicken Verband versehen und etwas erhöht fixiert. Auch ein Arm ist verbunden. Der Rest des Jungen macht allerdings einen munteren Eindruck.
„Wer sind Sie denn!“ begrüßt er mich. Schwester Grimmig ist zum Glück nicht mehr da. „Wie ein Arzt sehen Sie nicht aus.“
Ich ziehe mir einen Stuhl ans Bett.
„Ich bin dein Onkel und bringe dir dein Handy.“
Er schaut mich an, als wäre ich Gustav Gans.
Dann lacht er. „Das ist gut! Mein Onkel wohnt in München und mein Handy liegt hier auf dem Nachtschrank.“
Tatsächlich. Dort liegt ein Smartphone. Gut, dass die Schwester es nicht bemerkt hat. Auch ich lache – und gemeinsames Lachen schafft bekanntermaßen immer eine gute Basis.
„Ich heiße Jens Jahnke. Ohne die kleine Lüge mit dem Onkel und dem Handy hätten sie mich nicht zu dir gelassen.“
„Sie sind also nicht von der Polizei.“
„Nein. Ich bin der Nachbar von Dennis und bei der Presse.“
„Dann haben Sie also diesen netten Artikel geschrieben?“
Ich schaue mich um, sehe jedoch keine Zeitung. Er lacht und ich bemerke seine Grübchen. Ein netter, hübscher Junge – allemal im Blümchennachthemd und nicht in Tarnklamotten mit einer Granate in der Hand.
„Wer liest denn heute noch Zeitung? Denken Sie an den Papierverbrauch und das Klima! Nee. Ich habe alles hier drin.“
Er blickt in Richtung Smartphone. Ich staune. Vierzehn Jahre und schon Abonnent der online-Ausgabe unseres Kreisblattes? Als ich ihn danach frage, grinst er verschmitzt.
„Meine Mutter hat mir heute Vormittag davon erzählt, dass unser kleiner Unfall in der Zeitung steht. Sie hat mir über WhatsApp ein Foto von Ihrem Artikel geschickt. Nicht übel. Dennis hat Ihnen ganz offensichtlich vertraut.“
„Ja. Das siehst du auch daran, dass ziemlich viel von eurer bombigen Truppe nicht drinsteht.“ Ich sage ihm, dass ich unter anderem auch seine Rolle bei der Explosion kenne. „Das habe ich der Polizei aber nicht gesagt. Die gehen davon aus, dass ihr die Granaten gefunden habt und eine davon versehentlich hochgegangen ist.“
„Die Bullen waren schon hier“, bestätigt Linus meine Vermutung. „Sie haben mich befragt und genau diese Version habe ich ihnen präsentiert. Sie wissen auch nichts von anderen Munitionsfunden. Zum Glück haben Sie in Ihrem Artikel auch nichts davon erwähnt.“
„Der Artikel von heute war nur die Folge Eins. Vermutlich steht im nächsten Teil dann auch was von Malle und eurem Treiben an den Fischteichen.“
Der Junge erschrickt. Eben noch cool, klingt er jetzt ängstlich und kleinlaut.
„Dennis muss Ihnen wirklich extrem vertrauen, wenn er davon erzählt hat.“
„Das kannst du auch. Ich werde weder euch noch Malik Yilmatz in die Pfanne hauen, es sei denn, dort geschieht Unrecht und es treffen sich Nazis oder Reichsbürger oder sowas …“
„Blödsinn. Was Malle macht, hat mit Nazis nichts zu tun. Wir sind einfach nur Pfadfinder ohne Kluft.“
Er wirkt aufgebracht.
„Aber im Krater tragt ihr Tarnuniformen.“
„Ja. Es macht einfach Spaß, im Gebüsch herumzustrolchen. Aber wir haben mit Politik absolut nichts zu tun.“
„Und du bist der Chef? Oder Malle?“
„Malle ist Chef bei den Fischteichen, ich mehr oder weniger im Krater. Na, das ist ja jetzt wohl vorbei. Das mit der Handgranate war jedenfalls ein dicker Fehler.“
„Allerdings. Man könnte auch sagen ein tödlicher Fehler.“
„Zum Glück nicht. Wie konnte ich nur so blöd sein. Da war Ben damals schlauer.“
„Ben?“
„Ja, von ihm habe ich den Krater gewissermaßen übernommen. Er ist im letzten Jahr hier im Krankenhaus gestorben.“
Ich weiß sofort, von wem er redet. Im Sommer letzten Jahres war Ben Lohse gemeinsam mit seiner Mutter hier im Krankenhaus. Beide wurden mit einer unbekannten Krankheit eingeliefert. Zuerst dachte man an Corona, dann an eine Vergiftung und zuletzt an eine unbekannte allergische Reaktion. Die Mutter schaffte es, ihr vierzehnjähriger Sohn nicht. Ich habe von dieser Tragödie berichtet, die Eltern kennengelernt und mit ihnen gelitten. Ben war also auch in dieser Clique.
„Und Ben war gegen die Sprengung der Handgranaten?“
„Ja. Er war extrem vorsichtig. Wann immer wir eine Granate oder andere Munition gefunden hatten, holten wir sofort Malle. Er kannte sich aus, weil er sowas bei der Bundeswehr gelernt hatte. Malle sicherte die Bomben und brachte sie auf seinem Quad zu den Fischteichen. Uns hat er jedes Mal weggeschickt.“
„Was hat Malle mit der alten Munition gemacht?“
„Genau weiß ich es nicht. Ich glaube, er hat die Zünder entfernt und die Granaten dann verkauft. Aber nicht an Nazis.“
„Woher weißt du das?“
„Malle ist gegen Nazis. Er kannte einige abgedrehte Typen, das stimmt. Die nannte er Siedler.“ Linus verzieht das Gesicht. „Aber Malle hat oft gesagt, dass politischer Extremismus, egal ob von rechts oder links, Blödsinn ist.“
„Hat Malle euch von dem Geld, das er für eure Funde gekriegt hat, etwas abgegeben?“
„Nein. Er hat davon Jungfische gekauft, Angeln, Kompass, Kartenmaterial, Sportbögen, Tarnklamotten und sowas eben. Letztlich hat er mit dem Geld unser Hobby finanziert.“
„Und er hatte kein anderes Einkommen?“
Linus überlegt einen Moment und kratzt sich dabei den Arm mit dem Brandverband. „Ich glaube nicht. Vielleicht kriegt er noch was vom Bund. Er war dort bei den Panzerfahrern.“
Jemand taucht in der Tür auf, die ich einen Spalt weit offengelassen habe. Es ist Schwester Grimmig.
„Sie sind ja immer noch hier! Fünfzehn Minuten habe ich Ihnen erlaubt.“ Ihre Mine bestätigt meine Namensgebung. Der Onkel muss das Zimmer verlassen.
Linus ist ein cleverer Bursche. Er spielt mit.
„Danke für das Handy, Onkel Jens!“
„Gern geschehen, Linus. Hoffentlich hast du hier Empfang. Und ich hoffe, du wirst schnell wieder gesund.“ Mit einem nachdenklichen Blick auf die Krankenschwester ergänze ich: „Immerhin bist du ja im Krankenhaus.“
Die Bemerkung meine ich ernst. Mich machen Krankenhäuser eher krank als gesund. Dreimal war ich hier. Einmal waren sie überfordert und mussten mich deshalb nach Hamburg transportieren, zweimal habe ich mich erst zuhause erholt.
Als ich durch die Drehtür ins kühlfeuchte Draußen trete, atme ich tief durch und fühle mich deutlich besser. Seltsam, wie Räume uns auf Gemüt und Stimmung schlagen können.
*
Als ich gegen drei Uhr zurück in Himmelstal bin, hat sich Maren einen Kaffee gekocht und sitzt in der Küche.
Sie war, wie ich, in Quarantäne und hat ab heute Frühdienst. Ich ziehe mir einen Kaffee aus der Maschine und geselle mich zu ihr. „Und, wie war dein erster Tag?“
Sie lächelt, nippt an ihrer Tasse und schaut mich an. „Vor allem nerven die Hygienemaßnahmen wegen Corona. Ansonsten sind wir in Lüneburg noch nicht wieder am Limit.“
Dann erzählt sie davon, dass nun auch zwei ihrer Kollegen in Quarantäne sind. Ein Arzt hat sich krankgemeldet. Die Schwestern munkeln, er sei schlicht überarbeitet. Allerdings sei die „Omikron-Wand“ nicht so steil ausgefallen, wie in den Medien befürchtet und hat sich sowohl auf der Intensivstation als auch auf den anderen Stationen nur mäßig ausgewirkt. Es sei also alles in Ordnung, meint Maren – und es würde mich auch wundern, wenn meine Liebste jammern oder klagen würde.
„Trotzdem muss ich mich ganz schön umstellen“, beendet sie ihren Bericht. „Zwei Wochen Zwangsurlaub mit Ausschlafen, Fernsehen, Lesen und Zeit im Überfluss – und nun wieder der ganz normale Wahnsinn. Aber vermutlich ist es bei dir ähnlich. Wie war die Konferenz? Sind alle gesund? Und wie geht’s der hübschen Elske?“
Verschmitzt und herausfordernd lächelnd schaut sie über den Tisch. Maren und meine junge Kollegin verstehen sich hervorragend. Manchmal gehen sie in Lüneburg gemeinsam shoppen oder treffen sich auf einen Kaffee. Ich habe den Verdacht, dann reden sie auch über mich. Natürlich weiß Maren, dass ich Elske toll finde. Sie mag auch gelegentlich ein bisschen eifersüchtig sein – aber sie weiß genau, dass da nichts läuft, was unserer Beziehung schädlich wäre. Trotzdem, gelegentliches Sticheln wegen Elske kann sich Maren nicht verkneifen. Am besten, ich ignoriere das.
„Ach Maren, wie soll eine Konferenz an einem Aschermittwoch schon sein. Steini erschien mit Braunschweiger Karnevalshirt und dummen Sprüchen, Florian hat sich mal wieder mit unsensiblen Komplimenten ins Fettnäpfchen gesetzt und Elske wickelt ihn lässig um den Finger.“
Ich erzähle ihr von den Ergebnissen.
„Dann wirst du also wieder mit Elske zusammenarbeiten. Vergiss nicht, sie mal mitzubringen!“ Sie lacht. „Und ihr habt tatsächlich drei Reportagen zur Passionszeit gekriegt. Das ist ja toll! Weißt du schon, wie ihr es angehen wollt?“
„Zuerst will ich in der Sache mit der Explosion gestern Abend weiterkommen. Von Themen rund um Altlasten aus beiden Weltkriegen und der heutigen Rüstungsindustrie ist es zum Thema ‚Leiden und Sterben‘ nicht mehr weit. Ich will dann in der Woche vor Karfreitag die religiösen Akzente stärker betonen.“
„Verstehe. Du willst also zunächst mal Detektiv spielen.“
„Genau. Damit habe ich schon begonnen. Es gibt da im Zusammenhang mit der Jungen-Clique, die mit Handgranaten spielt, noch ein paar weitere Fragen.“ Mir fällt etwas Gutes ein. „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Dann erzähle ich dir unterwegs davon.“
„Ich bin zwar ziemlich K.O., aber vielleicht tut uns die frische Luft ganz gut.“ Maren ist einverstanden.
Die „frische Luft“ erweist sich als immer noch feucht. Wir nehmen unseren gewohnten Rundweg durchs Dorf, dann an der Mühle mit den Teichen vorbei und am Pferdehof biegen wir rechts ab. Nun haben wir freien Blick auf den kleinen runden Kraterwald oberhalb des Wirtschaftsweges, den wir einschlagen. Auf dem Acker stehen zwei blaue Kleinlaster. Ich vermute, sie gehören zur Kampfmittelbeseitigung. An der Straße, dort wo gestern mein Fahrrad am Baum lehnte, parkt ein Polizeiwagen. Die Untersuchungen des Kraters gehen heute also weiter.
Ich habe Maren alles erzählt.
„Sie werden dort oben vermutlich noch länger brauchen, bis alles gecheckt ist“, meint sie und zeigt hinauf.
„Ich vermute, sie werden den ganzen Krater leerräumen und dann alles wieder auffüllen. Heutzutage wird alte Munition nicht mehr einfach irgendwo verbuddelt.“
„Und du gehst mit mir jetzt hier entlang, um das zu sehen?“
„Auch. Aber nicht nur.“
„Nicht ‚nur‘ bedeutet, du willst ab hier nun endlich unsere Zweisamkeit genießen?“
„Auch.“
Maren boxt mich in die Seite. „Ich habe es mir gedacht! Du willst auch noch einen Blick auf die Fischteiche werfen!“
Ertappt. Statt rechts in die Wiesen und zur Brücke über den Mühlbach abzubiegen, gehen wir noch ein Stück geradeaus. Diesen Weg nennen die Einheimischen „Froschweg“.
Links liegt der riesige Acker, rechts Büsche, dahinter sumpfige Wiesen. Zwei kleine Weiden mit Ställen für Ponys, ein weißer, schäbiger Wassertank, Erlen- und Weidengestrüpp. Der zu Beginn asphaltierte und dann sandige Weg wird matschiger. Rechts wachsen dichte Buschrosen. Wie alles andere, sind sie jetzt kahl und braun. Der Weg wird zum Hohlweg. Rechts stehen nun Tannen und ein breites Tor aus rostigem Metall dazwischen. Man kann wegen der dichten Nadeln nicht genau sehen, was dahinter ist. Es scheint eine Hütte oder ein Wochenendhaus zu sein. Dass hier jemand ein und ausfährt, sieht man an Reifenspuren im feuchten Boden. Sie könnten von einem Quad stammen.
„Komm, lass uns noch ein kleines Stück weitergehen.“
Ich ziehe Maren am Ärmel. Sie lacht.
„Kein Problem – obwohl wir hier schon oft gewesen sind!“
Das weiß ich natürlich. Intensiv angeschaut habe ich es mir aber bisher nicht. Wir gehen jetzt durch einen Hohlweg. Zu beiden Seiten gibt es unzählige Haselnusssträucher, zum Teil riesig. Ihre geraden Triebe erinnern mich an meine Jugend. Dies hier ist ein wahres Paradies für Jungen, die ihre Flitzebögen selber bauen! Links geht es steil hinauf. Man kann den Acker oben wegen der Böschung, Büschen und Bäumen nur erahnen. Rechts geht es hinab. Zwischen Büschen und Erlen zieht sich ein Graben am Weg entlang, davor ein Zaun aus krummen Drähten.
Hinter all dem liegen mehrere Teiche. Man sieht sie jetzt durch winterlich kahles Geäst, im Sommer ist der Blick versperrt. Ich zähle drei größere und zwei kleinere Wasserflächen, dazwischen Dämme.
„Und du meinst, hier haben die Jungen vom Krater gespielt? Ehrlich: Das kann ich sehr mir gut vorstellen!“
„Ich auch, Maren. Hab‘ dir ja von meiner Pfadfinderzeit erzählt. Dies wäre für uns damals ein Traum gewesen! Gebüsch, Wasser, Wald, Hütte, Fische … ein Paradies!“
„Aber im Moment ist niemand hier.“
„So scheint es. Wollen wir mal versuchen, zur Hütte zu kommen. Vielleicht ist das Tor ja nicht abgeschlossen.“
Maren ist strikt dagegen. Ich verzichte darauf, mit ihr über Hausfriedensbruch und „du willst auch nicht, dass jemand auf unserem Grundstück herumschnüffelt“ zu diskutieren. Außerdem gehe ich davon aus, dass ich mir die Sache hier spätestens am Wochenende mal genauer ansehen werde.
„Komm, lass uns umdrehen. Es beginnt wieder zu nieseln.“ Sie zieht sich ihren Regenmantel über den Kopf und hakt sich bei mir ein. „Wir sind nun doch länger unterwegs als ich dachten. Ich will zuhause noch etwas schaffen und du musst vielleicht ja auch nochmal an den Schreibtisch.“
Da hat sie recht. Ich habe manches zu notieren und im Internet zu recherchieren.
Wir nehmen den Weg über die Holzbrücke. Selbst bei trübem Wetter begeistere ich mich am Ausblick von hier aus. Wenn man auf der Brücke steht, unter sich das plätschernde Wasser des Mühlbaches, schaut man westlich in eine graue Naturlandschaft. Die sumpfige Wiese ist mit schwarzen Binsengräsern bedeckt. „Lugbulten“ nannten wir sie als Kinder. In meiner Heimat haben junge Landwirte spaßeshalber einen „LugbultenKulturverein“ gegründet. Dabei waren gerade diese Binsen ihre erklärten Feinde, da sie das Weideland fürs Vieh zerstörten.
Weiter hinten ragen unsere zwanzig Windräder in den Himmel. Jetzt, in Dunst und Regen, sieht man die über 200 Meter hohen Anlagen nur teilweise und ab und zu einen der riesigen Flügel.
Der Blick zur anderen Seite, nach Osten, wird erst richtig schön, als wir den Pfad quer über die Wiese gehen. Die Kirche mit ihrem hohen Turm, davor die uralte, knorrige Dorfeiche und weiter vorn ein paar Gebäude, Weiden, Wiesen …
Himmelstal ist wirklich ein schönes Dorf und selbst im trüben Winter noch attraktiv. Na ja – wenn nur der Schweinestall, an dem wir vorbeikommen, nicht so stinken würde, die Pferdehalter und Landwirte ihre Höfe besser aufräumten, die grässliche Schutthalde der vor Jahren abgebrannten Scheune endlich verschwinden würde und der grüne Lastwagen nicht schon wieder direkt vor der Kirche abgestellt wäre …
Als wir in unsere Straße einbiegen wollen, kommt uns Enno mit Hund entgegen.
„Hallo Jens, hallo Maren! Auch mal an die frische Luft?“
„Klar. Wer, wie du, einen Hund hat, muss sich um ausreichend frische Luft ja nicht mehr sorgen.“
Er lacht. „Genau! Schaff dir einen Hund an und du beginnst eine Langzeit-Sauerstofftherapie!“
„Apropos Sauerstoff. Habt ihr gestern noch lange am Krater zugebracht?“
Maren wirft mir einen kritischen Blick zu. Sie hat offenbar keine Lust, nun über den Brand zu reden. Enno umso mehr.
„Bis es dunkel wurde. Wir haben den Krater gewissermaßen geflutet. Allerdings ist der Boden dort extrem porös und unser Löschwasser ist sofort versickert.“
„Ich gehe schon mal …“ Maren löst sich von meinem Arm. „Ihr könnt euch dann ja noch ein bisschen unterhalten.“
Sie geht das kurze Stück zu ihrem Haus. Mich allerdings interessiert, was Enno weiter zu berichten hat. Zwar haben wir gestern noch wegen der Zahlen telefoniert, aber mich interessieren inzwischen andere Dinge.
„Gab es noch weitere Explosionen?“
„Nee. Der von uns hinzugerufene Kampfmittel-Experte meinte, es seien wohl Handgranaten gewesen, die explodiert sind. So etwas habe ich in 42 Jahren aktivem Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr noch nicht erlebt. Wie gut, dass keinem der Jungs was Ernsthaftes passiert ist.“
Ich muss jetzt nicht widersprechen. Er redet auch schon weiter. „Jedenfalls sind die Fachleute aus Munster auch heute noch dort. Es scheint, in dieser Kuhle lagen diverse alte Granaten und Blindgänger. Das muss jetzt ausgiebig untersucht werden.“
„Hast du `ne Ahnung, wie die dorthin gekommen sind?“
„Nee. Früher war die Senke eine Kippe für Biomüll. Der Friedhof hat dort seinen Gras- und Baumschnitt entsorgt.“
Und Grabsteine samt Skulpturen, denke ich. Er scheint davon aber nichts zu wissen. Ich vermute, er kann mir doch nichts Neues mehr sagen, aber doch weiterhelfen.
„Enno, mal was ganz anderes, unabhängig von gestern. Du kennst doch alle hier in Himmelstal. Maren und ich waren eben im Froschweg. Da gibt es ja auf der rechten Seite diese Fischteiche. Ich glaube, dort steht auch ein Gartenhaus oder sowas. Weißt du, wem das alles dort gehört?“
„Nicht genau. Früher war das eine Art Refugium vom alten Gutsherrn Clemens von Bering. Aber der hat es vor zwei Jahren verkauft. Er wollte, dass jemand die Fischteiche wieder bewirtschaftet und hat wohl auch jemanden gefunden.“
„Weißt du wen?“
„Ich kenne ihn noch nicht. Wegen Corona gab es ja weder Osterfeuer, Weinfest noch sonst etwas, wo man sich hätte treffen können. In der Feuerwehr ist der neue Besitzer nicht, auch nicht beim Fußball. Ich glaube, er heißt Malik. Ich weiß aber nicht, ob das sein Vor- oder Nachname ist.“
„Und er ist nicht von hier?“
„Nicht aus Himmelstal oder aus einem der umliegenden Dörfer. Aber irgendwer hat mal erzählt, er komme aus Buckelheide, oben am Truppenübungsplatz. Und er soll beim Bund in Munster gewesen sein. Aber das war’s auch schon.“
„Und weißt du, ob er die Fischzucht wieder begonnen hat?“
„Hat er. Er beliefert sogar den Fischwagen vom Wochenmarkt gelegentlich mit frischen Forellen. Hat die Marktverkäuferin jedenfalls meiner Frau erzählt.“
„Und weißt du etwas davon, ob sich bei ihm Pfadfinder und Jugendliche treffen?“
„Stimmt. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich glaube sogar, deine Nachbarn haben mal erzählt, Dennis geht manchmal dorthin. Wieso fragst du das alles? Ist da was faul?“
Ich beschwichtige ihn.
„Nein, nein, wir haben eben nur dieses traumhafte Teichgelände gesehen. Da wollte ich mich mal danach erkundigen. Wäre doch ein schönes Wochenenddomizil dort.“
Er lacht und versucht seinen Hund zu bremsen, der ganz offensichtlich keine Lust mehr auf Gerede hat und weiter will.
„Da kommst du nun leider zwei Jahre zu spät.“