Читать книгу was Leiden schafft - Hermann Brünjes - Страница 6
Donnerstag, 3. März
ОглавлениеDen Vormittag verbringe ich am Schreibtisch in meinem Kellerbüro. Elske hat mir diverse Unterlagen aus ihrer Recherche per E-Mail geschickt. Gegen zehn Uhr ruft sie mich an.
„Moin Jens. Hast du alles gelesen?“
„Elske, ich habe auch noch was anderes zu tun!“
„Ich weiß. Zeitunglesen, Frühstücken, Facebook …“
„Nee, ich habe schon gearbeitet.“
„Was denn? Wir sollten nicht doppelt recherchieren.“
„Was steht denn in deinen Berichten?“
Ehrlich gesagt habe ich mehr Lust, es von Elske direkt zu hören, als seitenweise ihre Berichte zu lesen.
„Okay, dann fange ich mal an. Du könntest parallel meine Mail-Anhänge öffnen. Ich habe zuerst mal nachgeschaut, ob es vergleichbare Vorfälle mit Granaten gibt und wie es überhaupt um Munitionsfunde steht.“
„Und? Ich ahne Schlimmes.“
„Mit gutem Recht und noch viel zu harmlos ausgedrückt. Ich war entsetzt. Je mehr ich nachforschte, desto mehr habe ich den Eindruck, wir leben allesamt auf einer Munitionsdeponie.“
„Mit allesamt meinst du uns hier in der Heide?“
„Ja, hier besonders. Aber längst nicht nur bei uns. Hast du schon mal von den ‚Dethlinger Teichen‘ gehört?“
„Mir ist der Name begegnet, ja. Haben sie nicht im letzten Jahr die Straße gesperrt, um irgendwelche Teiche zu entgiften?“
„Genau. Die Teiche liegen nur drei Kilometer von Munster entfernt direkt an der Bundesstraße.“ Sie scheint es abzulesen. „Früher wurde dort Kieselgur abgebaut, ein Gesteinsmehl mit vielerlei Verwendung, vor allem in der Baubranche. Bis zu 21 Meter tief waren die Gruben. Ich fasse mal zusammen, was passiert ist: Die Wehrmacht betrieb in der Gegend ein riesiges Waffen- und Kampfstofflager, Muna genannt. Es bestand aus über 150 Gebäuden und Bunkeranlagen. Viele der Bunker, manche zwanzig mal vierzig Meter groß, lagen getarnt unter Büschen und Bäumen im Wald. Nachdem die Muna 1945 kampflos von den Briten eingenommen war, brachten diese die meisten Granaten und Kampfstoffe zur Ostsee und versenkten sie dort.“
„Na dann wünsche ich einen schönen Sommerurlaub am Timmendorfer Strand!“ Ich kann mir diese Zwischenbemerkung nicht verkneifen. Elske lässt sich nicht irritieren.
„Allerdings. Doch ein Urlaub in der Heide birgt vermutlich größere Gefahren! In den Dethlinger Teichen wurden immerhin noch etwa 10.000 weitere Granaten versenkt, dazu Tankwagenweise Kampfstoffe, darunter auch 100 Fässer mit dem Kampfstoff ‚Lost‘. Du weißt, was das ist?“
Nein, ich weiß es nicht.
„Das ist Senfgas, eine der schrecklichsten Chemiewaffen überhaupt. Auch Sarin, noch tödlicher, haben sie dort versenkt. Aber während sich Sarin abbaut, bleibt Senfgas über Jahrzehnte äußerst gefährlich.“
„Das ist ja grässlich. Und jetzt hat man alles herausgeholt?“
„Noch längst nicht. Als Anwohner und Bauern Anfang der fünfziger Jahre Granaten aus den Gruben holten, um diese an Schrotthändler zu verkaufen, wurden einige von ihnen krank. Daraufhin hat man die Teiche mit dem Bauschutt gesprengter Bunker zugeschüttet. 1957 wurden endlich Messstellen errichtet, um das Grundwasser zu überprüfen. Der Rest ist logisch.“
„Sie haben Chemikalien und Giftstoffe im Grundwasser gefunden und alles muss raus.“
„Genau. Aber nach diversen Messungen hat man erst 2019 mit der Entnahme von Gefahrgut begonnen und ist noch längst nicht fertig. Bis Ende März 2020 wurden 33 Tonnen Munition, 2,8 Tonnen chemische Kampfstoffe und 780 Kilo Sprengstoff geborgen und durch die GEKA vernichtet.“
„Die GEKA?“
Ich denke an die blauen Transporter am Krater.
„Die ‚Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten mbH‘ mit Sitz in Munster, dessen einziger Gesellschafter das Verteidigungsministerium ist. Sie besitzt die einzige Lizenz zur Vernichtung von Kampfstoffen in Deutschland.“
„Oh weh. Da werden die wohl im Himmelstaler Krater auch noch eine Menge Arbeit kriegen.“
„Das kann gut sein. Ich sagte ja, Gefahren durch alte Munition lauern überall. Wie oft hören wir in den Nachrichten, dass bei Bauarbeiten Blindgänger gefunden wurden. Es müssen manchmal ganze Stadtteile evakuiert werden. Auch die GEKA-Experten kommen dann zur Entschärfung. Besonders auf den Truppenübungsplätzen unserer Republik liegt noch massenhaft scharfe Munition, Giftgas und was weiß ich … Ich habe dir einen Link von den Funden in der Dippoldiswalder Heide in Sachsen geschickt. Dort haben sie im Dezember 2020 rund neunzig Tonnen Munition geborgen, darunter etwa dreiviertel Artilleriegranaten aller Kaliber. Man geht davon aus, dass sowohl deutsche als auch russische Soldaten nach Kriegsende riesige Mengen Munition entweder gesprengt oder vergraben haben. Besonders krass ist dies, wie gesagt, auf Truppenübungsplätzen. Wenn dort mal ein Waldbrand entsteht, müssen Menschen im Nahbereich um ihr Leben fürchten.“
Elske macht eine Pause.
Ich bin ernüchtert, entsetzt und irritiert. Klar, ich wusste, dass hier und da noch Munition lagert. Aber so viel? Und der Krater? Der könnte nach diesen Informationen nicht einfach eine Senke mit ein paar zufälligen Granat-Funden sein, sondern gewissermaßen ein Tor zur Hölle.
Ich nehme mir vor, mit den Typen von der GEKA Kontakt aufzunehmen. Wenn hier solche Gefahren im Boden lauern, muss unbedingt auch die Öffentlichkeit darüber informiert sein.
„Danke, Elske. Ich lese mir deine Anlagen dann mal durch.“
„Dann schau dir auch die aktuellen Zahlen an.“
„Zahlen zu Munitionsfunden?“
„Nein. Zahlen zu Munition, Waffen und Kriegsgerät, das wir gegenwärtig herstellen, nutzen und exportieren.“
Ich spüre Wut in Elskes sonst eher sanften Stimmlage.
„Du glaubst es nicht! Deutschland ist nach den USA, Russland und Frankreich viertgrößter Waffenexporteur. 5,5% aller Waffenlieferungen weltweit kommen von uns. Im Jahr 2021 wurden Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter in Höhe von 9,35 Milliarden Euro erteilt. Fast die Hälfte davon ging an Ägypten, das im Jemen Krieg führt. Ausgerechnet die Türkei ist unser bester Kunde im Waffengeschäft. Ist das nicht unglaublich?!“
„Aber das sind nicht alles Granaten.“
„Nein, natürlich nicht. Es waren Kleinwaffen, gepanzerte Fahrzeuge, Kampfpanzer, U-Boote, Geländewagen, Ortungs- und Steuerungstechnik und diverse Zubehör- und Ersatzteile für Waffensysteme im Einsatz. Aber allein an den überaus fragwürdigen Wüstenstaat Katar wurden 40.000 Stück Munition geliefert. Ist das nicht grässlich?!“
„Dabei hat Deutschland die Exporte doch angeblich sogar reduziert! Selbst die letzte Regierung soll strenge Regeln für das Waffengeschäft gesetzt haben und in die Ukraine schicken wir doch jetzt auch nichts – obwohl die Nato uns drängt.“
Sie lacht mit resignativem Unterton. „Stimmt. Die neue Regierung wird das dann hoffentlich umsetzen und weiter begrenzen. Schade, dass nicht doch die Linken mitregieren. Die sind als einzige Partei generell gegen Waffenexporte.“
Dass Elske sich politisch so klar äußert, ist mir neu. Was sie jetzt gelesen und recherchiert hat, muss ihr sehr nah gegangen sein. Und es stimmt: Ein Land, das mit zwei Kriegen derart viel Leid über die Welt gebracht hat, sollte sich eigentlich schämen. Indirekt geht das Töten weiter und Deutschland ist daran unmittelbar durch seine Waffen beteiligt.
„Du hast recht, Elske. Die Rüstungsindustrie hat in diesem Land eine starke Lobby …“
„… und macht vor allem unglaublich viel Geld! Fast zehn Milliarden Euro im letzten Jahr – mit diesem Geld könnte man den Welthunger beseitigen!“
Wieder entsteht eine Pause am Telefon.
Mir brummt nicht nur der Kopf vor Zahlen und Informationen, auch mein Ohr tut schon weh. Elske scheint ebenfalls genug telefoniert zu haben.
„Okay Jens“, schließt sie ihre Ausführungen, „ich glaube, es reicht. Lies dir meine Mail mit Angang durch, dann kennst auch du die Details. Ich brauche erst einmal etwas Abwechslung. Ich werde mal was über die Passions- und Fastenzeit zusammentragen.“
„Danke. Ich fürchte, die mit den Kriegswaffen verbundene Passion und das durch Granaten verursachte Leiden wird eine Recherche dazu auch nicht entspannter gestalten.“
„Das stimmt sicher. Es ist wie immer: Theologie und Religion finden nicht im luftleeren und schon gar nicht im leidensfreien Raum statt. Sie sind unmittelbar mit unserem wahren Leben verbunden.“
„Erzähl das mal unserem geliebten Chef! Ich denke, er versucht, die Religion und vor allem christliche Themen auszublenden und als weltfremde Ideologie abzutun. Damit tut er aber weder sich selbst, noch unseren Lesern einen Gefallen.“
„Und Leserinnen.“
„Sorry, vielleicht vor allem den Leserinnen. Frauen mögen religiösen Lebensdeutungen womöglich näher sein als Männer.“
„Wenn du es sagst! Dabei halten Frauen doch auch das Leiden oft besser aus als Männer – und wissen, dass es Leben ohne Geburtsschmerz gar nicht gäbe.“
Elske kann richtig philosophisch werden, wenn man ihr dazu Anstöße gibt. Jetzt allerdings habe ich keine Lust, allgemein und besonders über das Leiden zu philosophieren.
„Okay. Bevor wir mit unserer journalistischen Leidenschaft alles Leid der Welt durchgehen, liebe Elske, sollten wir eine Pause machen. Mir tut das Ohr weh, ich will deine Texte noch lesen und ich muss seit langem aufs Klo.“
Sie lacht. „Na denn, wat mut, dat mut, sagen wir Ostfriesen!“
„Wir hören voneinander. Danke erst einmal für deine tolle Arbeit.“
Als wir auflegen, wissen beide, dass die kommenden 40 Tage mit viel Arbeit und vielleicht auch ganz passend mit Fasten und Leiden verbunden sein werden. Uns verbindet tatsächlich eine Leidenschaft, eine „Passion“. Die Leute um uns herum wollen informiert, aufgeklärt und zu eigenem Denken und Handeln inspiriert werden. Deshalb machen wir das alles, und die „trockene“ Recherche mit Zahlen und Hintergründen gehört auch dazu.
*
Wegen diverser Veranstaltungen, über die ich berichten muss, werde ich morgen keine Zeit haben. Also mache ich mich am frühen Nachmittag auf den Weg zum Krater, noch bevor Maren vom Dienst zurück ist. Ich nehme wieder das Rad.
Es ist heute trocken. Manchmal lugt zwischen den Wolken die Sonne hervor. Es ist, also ob sie uns ermuntern will: Habt keine Angst, ich bin noch da! Die Zeit des Wartens im trüben Nebel und des Frierens im winterlichen Grau geht bald zu Ende. Es wird Frühling, irgendwann und bald.
Manche Äcker weisen in die gleiche Richtung. Sie sind bereits grün und die Halme des Wintergetreides werden immer länger. Der Acker, der wie ein weites Meer die kleine waldige Insel mit dem Krater umgibt, ist allerdings noch erdig braun, garniert mit Stoppelresten vom letzten Jahr. Ich lehne mein Rad an denselben Baum wie am Dienstag.
Zwischen den Birken ist rotes Absperrband gespannt. Nur dort, wo die beiden blauen Lieferwagen, die auch jetzt wieder oben am Krater stehen, auf den Acker gefahren sind, liegt die Absperrung am Boden. Aus dem Streifenwagen am Straßenrand steigt ein Polizist und kommt auf mich zu.
„Hier ist gesperrt!“ sagt der Uniformierte. „Kein Zutritt!“
Diesmal hält hier zum Glück jedoch kein völlig Fremder Wache. Wir kennen uns aus diversen Begegnungen. „Bokelmann“ lese ich auf dem Schild an seiner dunklen Uniform. Der Mann ist in meinem Alter und trägt unter amtlicher Mütze, freundlichen Augen und übergroßer Nase einen üppigen Vollbart.
„Ach, Sie sind das. Jahnke, der Reporter!“
„Stimmt. Und Sie, Herr Bokelmann, müssen sich hier mit Wache schieben die Zeit vertreiben?“
Er lacht. „Kein Problem. Ich kann Radio hören und meinen Krimi lesen. Und wer weiß, vielleicht stürmt ja mal jemand den Hügel dort oben und ich darf endlich mal scharf schießen.“
Ich bin froh, ausgerechnet auf diesen Polizisten zu treffen. Meine Generation, denke ich, die „alte Schule“ ist mir doch am nächsten. Ich strahle ihn entsprechend an.
„Sie erwarten also Terroristen, die den Krater stürmen und dort die Handgranaten und Bomben aufsammeln?“
„Oh, dann wissen Sie es ja schon.“
„Ja, ich war hier, als es explodierte.“
„Ach ja, der Artikel darüber war von Ihnen. Schicke Fotos, dramatisch und ausdrucksstark.“
Sie haben ein Foto vom Feuer, Feuerwehr und Krankenwagen im Vordergrund abgedruckt, dazu ein kleineres mit den Sanis, die den Jungen auf der Trage die Böschung hinaufhieven.
„Danke. Und die blauen Kleinlaster dort? Sind die vom Bombenentschärfungskommando?“
„Genau. Die sind von der GEKA aus Munster.“
„Kann ich die mal befragen? Ich würde natürlich gerne noch mehr über den Vorfall bringen.“
„Das kann ich verstehen. Aber ich darf niemanden durchlassen. Wobei …“, er überlegt, „von der Presse war nicht die Rede. Warten Sie.“
Er geht die paar Schritte zum Polizeiwagen zurück, setzt sich hinein, sucht eine Nummer heraus und telefoniert. Ich sehe, wie oben an einem der Laster ein Mann seine Hand am Ohr hat und mit der anderen winkt. Bokelmann legt auf und nickt mir zu.
„Gehen Sie. Sie haben hiermit eine Sondergenehmigung.“
Ich bedanke mich und stapfe, die Kamera in der Hand, über den in diesem Bereich inzwischen festgefahrenen Acker.
Zuerst fallen mir die senkrecht stehenden quadratischen Gefahrgutzeichen an den blauen geschlossenen Lieferwagen auf. Ich mache ein Foto.
Vor mir stehen zwei Transporter der Marke Iveco und ein junger Mann in blau-gelber Feuerwehruniform. Sein Helm ist weiß und erinnert mich irgendwie an StarWars.
„Sie sind von der Presse? Darf ich Ihren Ausweis sehen?“
Der Mann nimmt seinen Job ernst. Ich zeige ihm meinen Ausweis. Er notiert meinen Namen und nickt dann freundlich.
„Ich heiße Denker und gehöre zur Betriebsfeuerwehr der GEKA. Sie können sich gerne von hier oben aus umsehen und wir unterhalten uns – aber nach unten dürfen Sie nicht.“
Das habe ich bereits geahnt. Mein Gegenüber ist um die zwanzig. Ich vermute, er ist noch in Ausbildung.
„Danke, das erleichtert meine Arbeit sehr – und ich hoffe, ich störe Sie nicht bei Ihrer!“
Er lacht. „Nein, nein. Ich warte hier oben und hoffe, meine Kollegen bringen neue Kisten hoch.“
Ich muss ziemlich fragend dreinschauen.
Er bittet mich um eines der Fahrzeuge herum und zeigt mir dessen Frachtraum. Die Seiten des Spezialfahrzeuges lassen sich herunterklappen und diese hier ist offen. Drinnen gibt es ein Halterungssystem aus Aluminium. Darin eingepasst stehen drei Holzkisten. An der anderen Seite befindet sich noch eine graue Metallkiste mit dicken kurzen Rohren. Der Rest des großen Frachtraumes ist leer.
„In diesen Kisten sind jeweils eine Granate oder andere Munition. Wir haben Spezialbehälter“, Denker zeigt auf die Rohre in der Metallkiste. „Darin werden die gefundenen Granaten verstaut und kommen dann in die Kiste.“
„Viel haben Ihre Kollegen dann dort unten ja noch nicht gefunden. Oder ist der andere Laster schon voll?“
Er lacht. „Nein, da sind nur leere Kisten drin. Wir sind aber sechs Leute und nehmen lieber zwei sichere Fahrzeuge. Man weiß ja nie.“
„Dann haben Sie also erst drei Granaten gefunden?“
„Heute ja. Gestern jedoch waren es fünf. Ich finde, das ist ganz schön viel!“
Da hat er sicher recht. Bereits eine davon kann viele Menschen töten.
„Und Ihre Kollegen packen sie ein, wie sie gefunden werden? Oder wird die Munition noch entschärft?“
„Wo immer möglich werden die Zünder abgeschraubt oder heruntergesägt. Ein Transport wäre wegen der Erschütterungen sonst zu gefährlich. Wenn eine Entschärfung nicht möglich ist, was nur selten vorkommt, dann wird die Bombe vor Ort gesprengt. Vorher allerdings müssen wir wissen, was sie enthält.“
„Sie meinen, wieviel Sprengstoff?“
„Vor allem welche Art von Sprengstoff. Sollte es eine chemische Waffe sein, wäre die Sprengung eine Katastrophe.“
„Sie finden also auch chemische Waffen?“
„Weniger. Aber ja, die gibt es auch immer wieder mal, vor allem Granaten mit Senfgas, aber auch mit anderen gefährlichen Substanzen wie Sarin oder anderes Teufelszeug.“
„Und wie können Sie wissen, was jeweils drin ist?“
„Wir haben fest installierte, aber auch mobile Röntgengeräte. Jede Granate wird damit untersucht, bevor sie vernichtet wird.“
Das finde ich beeindruckend. Es hört sich professionell an.
„Und dann laden Sie Ihre gefährliche Fracht hier ein und tuckern nach Munster?“
Er lacht wieder. „Allerdings. Jede Fahrt muss angemeldet sein, und je nach Inhalt begleitet uns ein Fahrzeug unserer Feuerwehr. Kommen Sie …“
Er führt mich um den Transporter herum und weist auf die Gefahrenzeichen, die ich schon bemerkt hatte.
„Jedes unserer Fahrzeuge hat bestimmte Zulassungen. Hiermit können wir Gefahrgut der Klasse 1, 6 und 8 transportieren, also explosive Stoffe, giftige Stoffe und ätzende Substanzen. Gase, flüssige, entzündliche oder gar radioaktive Stoffe dagegen gehören in andere Fahrzeuge und sind anders gekennzeichnet.“ Ich mache noch ein Foto.
„Darf ich mal hinunterschauen?“ Ich gehe Richtung Rand des Kraters. Unten sehe ich fünf Männer bei der Arbeit.
„Kein Problem. Bleiben Sie aber bitte vom Rand weg. Wenn eine Granate explodiert, könnte es sonst kritisch werden.“
„Das habe ich am Dienstag gemerkt. Da ist dort unten eine Handgranate explodiert.“
„Oh, Sie waren hier?“
Ich merke, wie ich in der Achtung des jungen Mannes steige. Selbst einmal mitzuerleben, wenn Granaten explodieren, ist vielleicht der Traum eines jeden Brandschützers – oder der Albtraum. Ich erzähle ihm kurz, was passiert ist. Im Gegenzug erklärt er mir, was seine Kollegen dort unten machen.
Zwei von ihnen tragen graue Schutzanzüge, Helme und dicke Gasmasken. Sie sind diejenigen, die die Bomben entschärfen und unmittelbar mit der Munition in Berührung kommen. Sie tragen Atemschutzgeräte und ihre Anzüge sind luftdicht und sichern auch gegen Gase und ätzende Flüssigkeiten. Drei der Männer dort unten tragen weiße Anzüge und etwas feinere Gasmasken. Zwei von ihnen arbeiten mit Schaufeln oder Hacke, einer bedient eine Art Metalldetektor.
„Es ist eine langwierige, schwere und gefährliche Arbeit“, erklärt der junge Denker an meiner Seite. „Sie graben, suchen Metall, graben die Teile dann aus und bergen sie.“
„Und alles per Hand? Das kann ja Monate dauern.“
„Genau. Es kann Monate dauern. Hier jedoch sind wir noch in der Prüfphase. Wir haben drei Messstellen errichtet und senkrechte Rohre in die Tiefe verbracht. Dort nehmen wir Proben vom Grundwasser. Bei sehr viel Munitionsrückständen im Erdreich ist der Asbestgehalt extrem hoch. Dann muss das Erdreich ausgetauscht werden. Im Moment ist dies hier jedoch noch nicht der Fall. Auch die Menge der Granaten scheint begrenzt. Entweder ist es nur eine kleinere Deponie oder man hat viele der Granaten bereits wieder entfernt.“
Ich muss tief durchatmen. Vielleicht haben die Jungen und ihr Freund Malle zwar dieser Bergungsmannschaft Arbeit abgenommen, die brisanten Fundstücke jedoch schön gleichmäßig übers Land verteilt – oder in falsche Hände vertickt.
„Es ist also nicht so, wie bei den Dethlinger Teichen?“
Denker lacht. „Nein, nein! Längst nicht. Trotzdem muss man sowas ernst nehmen, zumal hier ja Kinder gespielt haben.“
„Das kommt womöglich öfter vor als den Eltern lieb ist, oder?“
„Leider ja. Kinder und Jugendliche reizt die Gefahr manchmal mehr als sie sich fürchten. Sie betrachten das Herumstrolchen auf Truppenübungsplätzen und in alten Bunkern als Mutprobe und wenn sie wie hier im Krater Munition finden, versuchen sie manchmal sogar, diese zu sprengen. Zwar sind wir hier ja nicht in Syrien oder im Libanon, wo bis heute viele Kinder durch Landminen und Blindgänger getötet werden, aber auch hier bei uns gibt es mit Munitionsresten aus den Weltkriegen immer wieder Unfälle.“
Der Mann ahnt nicht, wie froh ich über die Begegnung mit ihm bin. Ich frage ihn, ob er mit einem Foto einverstanden ist. Wegen seines Chefs will er nicht erkannt werden. Also posiere ich ihn neben dem Fahrzeug, er zieht das Visier seines Helms herunter und ich fotografiere ihn von der Seite.
Seine Kollegen im Krater erkennt man auf die Entfernung ohnehin nicht.
Ich frage Denker, ob sie allesamt ausgebildete Profis sind und bei der GEKA nur Experten arbeiten.
„Die dort unten schon“, erklärt er. „Wir sind 140 feste Mitarbeiter. Viele wurden bei der Bundeswehr ausgebildet, manche bei uns. Manchmal werden wir noch von der Bundeswehr unterstützt, vor allem bei Fahrdiensten und sowas. Aber die fest angestellten sind auf ihrem Gebiet allesamt Experten. Verwaltungskräfte gehören natürlich auch dazu. Na ja, und ich bin noch in der Ausbildung.“
„Aber ich bin sicher, Sie gehen Ihren Weg! Sie kennen sich schon jetzt prima aus und ich spüre Ihnen eine gewisse Leidenschaft ab.“ Wieder eine Leidenschaft, denke ich. Brände löschen, Gefahren beseitigen, Menschen schützen.
„Danke. Ich bin tatsächlich zur GEKA gegangen, um ein bisschen die Wunden des Krieges heilen zu helfen. Mein Großvater war Hauptmann und durch und durch Nazi. Ich will ein bisschen wieder gutmachen, was er mit angerichtet hat.“
Beachtlich, dieser junge Mann. Er trägt seinen Namen zu Recht. Ein Denker.
Ich danke ihm und an der Straße unten unserem Freund und Helfer Bokelmann. Der Ausflug hat sich wirklich gelohnt.