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Sonntag, 3. Oktober (Erntedank)

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Der letzte Glockenschlag klingt noch nach, da rollen mir Wogen von Posaunen- und Trompetenklang entgegen. Sie spülen mich in eine der letzten Stuhlreihen, aufgestellt im großen Festzelt auf dem Gelände des Tagungshauses.

»Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Teil.« Der Mann hinter mir grölt das alte Kirchenlied, als sänge er »Atemlos« im Chor tausender Fans von Helene Fischer. Hier jedoch haben sich anlässlich des Erntedankfestes nur etwa hundertfünfzig Besucher eingefunden. Zwar ist das große Festzelt gut gefüllt, wegen der Pandemie sind die Stühle jedoch mit Abstand aufgestellt. Die Leute kommen aus mehreren Gemeinden der Region. Die Stimme hinter mir übertönt sie alle.

»Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil, das höchste Gut erlesen ...« Ich überlege, ob ich mir einen anderen Platz suche, einen ohne solche Lärmbelästigung.

Maren sitzt vorne. Sie singt im Chor. Jetzt, da auch Singen wieder staatlich erlaubt ist und die Vorschriften trotz steigender Ansteckungszahlen extrem reduziert wurden, können sich auch Chöre und Gruppen wieder treffen. »Ich lebe auf!«, hatte meine Liebste nach der ersten Probe des Singkreises gemeint. »Endlich kommt das Leben zurück!« Ich habe es ihr abgespürt. Nicht nur Maren, wir alle haben im Sommer neue Kraft getankt. Umso erschreckender hatte sich der Schatten einer vierten Corona-Welle über uns aufgebaut. Die Testpflicht und ein als »freiwillig« definierter Impfdruck erwischten viele unerwartet und mitten im Urlaub. Manche mussten in Quarantäne. Fehlendes Personal macht einigen Betrieben zu schaffen. Auch bei uns in der Redaktion muss die Arbeit auf weniger Schultern verteilt werden, weil Kollegen Kontakt mit Infizierten hatten und isoliert werden. Unser Gesundheitsamt versteht da keinen Spaß. Insgesamt jedoch läuft das Leben wieder halbwegs normal bei uns im Norden.

»... den schönsten Schatz geliebt!« Ich muss den Mann, der mich so gnadenlos beschallt, unbedingt sehen. Also drehe ich mich kurz um, grinse ihn freundlich an und nicke ihm zu.

Es ist Rübezahl. Bei unserer ersten Begegnung habe ich ihm wegen seines phänomenalen grauen Rauschebartes und seines geliebten Tirolerhutes mit Gamsbart diesen Spitznamen verpasst. Eigentlich heißt er Walter Hamburger und kommt aus einem Nachbardorf. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Vielleicht war er krank. Jetzt jedenfalls strotzt er vor Kraft zum Lob Gottes. Ein Mann, der seinen Jesus liebt und von ihm redet, wo es nur geht. Ein Traditionalist und Rebell zugleich. Viele der regelmäßigen Kirchgänger um mich herum erlebe ich als bürgerlich angepasst, als schweigend in Glaubensdingen und zwar kirchlich, aber weniger lebendig glaubend geprägt. Bei Rübezahl ist das anders. Er nervt manchmal mit seinen Zwischenrufen und Bekenntnissen – aber jede und jeder nimmt ihm seine Begeisterung für Gott und Jesus sofort ab. »... den schönsten Schatz geliebt!« Das glaubt man ihm.

Die Bläser setzen sich. Einige pusten die Mundstücke ihrer Instrumente trocken. Pastor Werner tritt ans Rednerpult. Es ist inmitten einer prächtigen Blumen-, Obst- und Gemüsedekoration aufgestellt worden. Auch sein wallender schwarzer Talar kann nicht verbergen, dass der Pastor zugelegt hat. Sein Bäffchen sitzt schief. Seine Freundlichkeit und Ausstrahlung sind jedoch wie immer, stimmig und geradeheraus.

»Liebe Schwestern und Brüder aus den Gemeinden unserer Region, liebe Gäste, wir haben wahrlich allen Grund, dieses Erntedankfest zu feiern.«

Er schaut mehrmals in die Runde, sucht Blickkontakt und nickt uns zu. Man hat das Gefühl, persönlich begrüßt zu werden.

»Unser guter Gott hat uns reich beschenkt!« Er weist auf die Blumen und Früchte. »Ich meine auch diese Dinge, all das, was wächst und gedeiht. Ich meine aber viel mehr die Geschichte und die Geschichten unseres Lebens.«

Nun bin ich gespannt. Er wird ja vermutlich nicht die Predigt vorwegnehmen.

»Besonders der Monat Oktober kann für uns ein Zeichen der Güte und Zuwendung Gottes werden.« Ich bin gespannt, warum. »Heute feiern wir nicht nur Erntedank, sondern auch die Deutsche Einheit. Welch ein Geschenk! Wir finden natürlich viele politische Begründungen für den Mauerfall vor inzwischen unglaublichen zweiunddreißig Jahren. Für mich jedoch sind sie allesamt Hinweise auf Gottes unbegrenzte Möglichkeiten. Unser Gott hat unzählige Gebete erhört und handfest eingegriffen. Seiner Macht konnte niemand widerstehen und seine Güte hat Schwestern und Brüder wieder vereint!«

Pastor Werner nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas neben dem Rednerpult. »Der Oktober beginnt also mit dem Gedenken an eine Großtat des schenkenden, gütigen Gottes. Deutschland ist vereint – machen wir also etwas daraus! Und was feiern wir am Ende dieses segensreichen Monats?«

Neben mir sitzen zwei junge Männer, etwa sechzehn, also keine Konfirmanden mehr. Einer flüstert seinem Nachbarn auch für mich hörbar zu: »Den Weltspartag!« Ich muss grinsen. Ja, auch ein guter Kontostand ist so etwas wie eine reiche Ernte, von der man in Freuden leben kann.

Der Pastor beantwortet seine vermutlich eher rhetorisch gemeinte Frage selbst: »Wir feiern am 31. Oktober den Reformationstag. Wieder ein Freudenfest für Christen, jedenfalls für uns evangelische. Erntedank, Wiedervereinigung, Reformation – wenn wir die Tage dazwischen im Sinn dieser Ereignisse gestalten, wird der Oktober ganz gewiss ein Monat werden, der unser Leben reich und glücklich macht. In meiner Predigt wird es gleich genau darum gehen: Wie wird ein Leben reich und glücklich?«

Die Jugendlichen tuscheln wieder. Ich verstehe nur: »Der 31. Oktober, ist das nicht Halloween?« Sie lachen und ziehen Grimassen. Rübezahl stößt sie mit seinem Gehstock an und zeigt ein grimmiges Gesicht.

Ich will mich gerade auch über das Flüstern ärgern, freue mich dann aber. Die beiden haben aufmerksam zugehört. Was will man mehr! Eine Jugend, die zuhört, ist für Kirche und Glaube alles andere als verloren!

Der Gottesdienst gefällt allen, das spürt man. Die Gemeindelieder, der Chor, Posaunen, ein modernes Lied mit Gitarre – fast habe ich vergessen, wie sich ein ansprechender und schöner Gottesdienst anfühlt. Ich war noch nie ein richtiger Insider von Kirche, sondern bin erst vor wenigen Jahren dazugestoßen. Wäre ich nicht den Christen hier in Himmelstal begegnet und wären Maren und ich nicht ein Paar geworden – vermutlich säße ich heute weder hier noch würde ich verstehen, worum es geht. Auch jetzt ist mir manches noch ziemlich fremd. Trotzdem weiß ich jetzt, was mir in der Coronazeit gefehlt hat: Die Gemeinschaft mit Christen, das Singen von Lobliedern und gemeinsame Gebete.

Eine Frau und ein Mann treten ans Mikrofon. Ich kenne sie nur vom Sehen. Sie kommen aus einer Nachbargemeinde. Abwechselnd tragen sie zusammen, wofür sie danken. Woran ich eben dachte, ist auch dabei, aber ihre Liste ist gewissermaßen unendlich. Das Meckern, Problematisieren, Kritisieren und Nörgeln der letzten Monate hat in ihrem vorbereiteten Text nichts mehr zu suchen. Nur die Dankbarkeit. Es wird nicht verschwiegen, was belastet. Klimakrise, Flutkatastrophe, Kriege, Corona, Afghanistan, Flüchtlinge ... all das wird wahrgenommen. Aber in all dem entdecken die beiden den Gott an unserer Seite und formulieren einen großartigen »Psalm« der Dankbarkeit.

Ich muss nachher unbedingt fragen, ob ich den Text bekomme. Vielleicht kann ich ihn mal in einer Samstagsausgabe unterbringen. Wenn mein Chef Florian Heitmann sich im Kollegenkreis auch als Kirchen- und Religionshasser präsentiert – manchmal hat auch er lichte, emotionale Momente und lässt außer Fakten auch Deutungen und Interpretationen der Wirklichkeit zu.

Wie so oft in Gottesdiensten und wortlastigen Veranstaltungen macht sich mein Denken selbstständig. Zwar merke ich, dass inzwischen die Predigt »läuft«, aber ich bin mit meinen Gedanken immer wieder woanders.

Wofür habe ich zu danken? Für Maren, fällt mir zuerst ein, auch wenn wir oft in verschiedenen Welten leben. Für meinen Job, den ich als Berufung erlebe, auch wenn es manch ätzende Aufgabe gibt. Für ausreichend Einkommen, auch wenn ein Lottogewinn nicht schlecht wäre. Für das zarte Pflänzchen meines Glaubens, auch wenn Zweifel und gelegentlich schlechte Erfahrungen mit Kirche und Christen es manchmal kräftig durchschütteln. Für meine Nachbarn und Freunde im Dorf, auch wenn es immer wieder Zerwürfnisse gibt. Ja, ich habe viel, wofür ich danken und »Erntefest« feiern kann. Keine Kartoffeln, Äpfel oder Rüben, wie sie vorn am Altartisch liegen, aber manch gute Story und viele tolle Menschen und Erlebnisse, die ich niemals missen möchte. Auch wenn ...

Mir fällt plötzlich auf, dass ich immer wieder dieses »auch wenn« anfüge. Einfach nur danken fällt mir offenbar schwer. Immer wieder fehlt noch etwas an der Vollkommenheit meines Lebens. Ob das normal ist und allen anderen auch so geht? Ob Leben immer auch die Suche nach mehr Leben beinhaltet?

Pastor Werners Predigt ist überraschend kurz. Oder kommt mir das nur so vor, da ich dauernd in eigene Gedanken abdrifte? Er spricht von einem Schatz, den man nicht materiell und gegenständlich beschreiben kann, der aber doch sowohl über die eigene Zufriedenheit als auch über das Zusammenleben von Menschen entscheidet. Ob ich diesen Schatz gefunden habe? Maren nenne ich gelegentlich »Mein Schatz«. Wieder schweifen meine Gedanken in eine andere Richtung. An Maren denke ich ausgesprochen gerne. Sie bringt mich gewissermaßen immer wieder »auf Kurs«.

»Es ist eine Schande, dass wir als Christen immer noch nicht gemeinsam handeln oder zu selten.« Jetzt redet Pastor Werner von der Kirche und den trennenden Konfessionen. Ich denke an meine Erfahrungen mit Kirche ...

Ob ich jetzt sogar ein bisschen eingenickt bin? Zum Thema »Kirche« würde das aus Sicht mancher Zeitgenossen ja passen. Posaunenklang bringt mich zurück. Der Gottesdienst ist zu Ende.

Rübezahl streckt mir seine Faust entgegen. Ich ticke meine dagegen. »Jens, preist den Herrn! Wie schön, dass uns die Gnade einer neuen Begegnung zuteil wird.« Rübezahl ist nicht nur eines, er redet auch wie ein Original.

»Walter, ich freue mich auch, dich zu sehen!«

Wir unterhalten uns einen Moment. Wieder ist er schnell bei der immer gottloseren Welt. Ob Corona eine Strafe Gottes ist? Er geht davon aus. Aber wir müssen uns eben alle demütig darunter beugen ... So sehr ich Rübezahl seinen Glauben und seine Freude an Gott abnehme, so sehr ist mir seine negative Weltsicht doch mehr als suspekt.

Am Ausgang drückt uns Irene, eine treue und liebenswerte Kirchgängerin, zwei Zettel in die Hand. Einer ist die Einladung zu einem Seminar anlässlich des Reformationstages, der andere die Werbung für heute Abend. Die Deutsche Einheit soll bei uns in Himmelstal nicht nur im Gottesdienst, sondern den ganzen Tag über gefeiert werden. Gleich gibt es Erbsensuppe aus der Gulaschkanone der Freiwilligen Feuerwehr. Darauf freue ich mich schon. Für den Nachmittag hat das Team vom Kindergottesdienst ein buntes Programm für Kids vorbereitet. Maren engagiert sich da. Ich Oldie kann also ein kleines Nickerchen machen.

Zum Tanzabend mit den »Egerländer Heidjern« bin ich dann wieder fit. »Danz op de Deel« mit Bratwurst, Schnaps und Bier – für viele im Dorf ist das der Höhepunkt einer jeden Feier, und wenn schon Einheit, wo sonst sollte sie so intensiv und körperlich erlebt werden wie an der Theke und auf der Tanzfläche? Klar, dass Maren und ich nachher dabei sein werden! Ich nehme mir fest vor, heute Abend weniger zu trinken als etwa beim Maibaumpflanzen. Damals, am ersten Mai, begleitete meinen peinlichen Absturz dieselbe Band.

*

Mit einem Teller heißer Erbsensuppe auf dem Schoß sitzen Maren und ich auf einer Bank mit Blick auf Kirche und Wiese am Tagungshaus. Es ist wegen des Windes nicht besonders warm, aber die Sonne scheint. Ein »goldener Oktober« hat uns begrüßt. Kalte Nächte, sonnige Tage. Die Birken verlieren bereits ihre Blätter, das Grün der anderen Bäume verwandelt sich in gelb, rot und braun. Nur die Eichen trotzen noch dem herbstlichen Wandel.

Auf der Wiese wuseln Kinder herum. Sechs Jugendliche nutzen den Volleyballplatz und pritschen oder baggern einen hellroten Ball über das Netz. Familien belagern die aufgestellten Biertischgarnituren und löffeln wie wir ihre Suppe. Einige ältere Damen bilden einen Halbkreis, stützen sich auf ihre Gehhilfen und beobachten das Treiben vor sich. Es sind Bewohnerinnen der kleinen Seniorenresidenz in unserem Dorf. Fast jeden Tag spazieren sie mit ihren Rollatoren im Dorf herum.

Maren isst ihre Suppe und klönt nebenbei mit zwei Frauen vom Kindergottesdienstteam. Wegen des Nachmittags gibt es noch manches zu verabreden.

Ich beobachte die Menschen um mich herum. Das mache ich gerne, erzählen sie mir doch allein durch ihr Aussehen und Verhalten manch interessante Geschichte. Durch die lichten Büsche sehe ich viele PKW, abgestellt rund um die Kirche. Endlich mal wieder volle Parkplätze! An Sonntagen in Coronazeiten standen hier nur einzelne Autos, wenn überhaupt.

Am Haus gegenüber der Kirche hält ein hellgrauer Mercedes. Er fällt mir auf, weil ich selbst einmal eine solche Limousine der E-Klasse gefahren bin. Die Beifahrertür öffnet sich und ein Mann steigt aus. Er passt nicht richtig zum Publikum dieser kirchlichen Veranstaltung. Der etwa Dreißigjährige ist klein, drahtig und entweder sportlich oder militärisch durchtrainiert. Er trägt eine enge Jeans, ein offenes gelbes Hemd und eine schwarze Lederjacke.

Sich suchend umsehend kommt der Mann über die Straße auf das Gelände vom Tagungshaus. Jetzt bewegt er sich er in meine Richtung. Haare und Bart des Mannes wirken gepflegt. Er trägt eine goldene Kette um den Hals und eine Tätowierung auf beiden Handrücken. Es wirkt, als suche der Mann jemanden. Zweimal spricht er Gäste an. Beide schütteln mit dem Kopf.

Allerdings scheint sich der Mann nicht besonders wohl zu fühlen. Nach kurzer Zeit verschwindet er wieder in Richtung Mercedes. Er öffnet die Beifahrertür, spricht mit dem Fahrer, steigt ein und der Mercedes fährt davon. Ich überlege, ob ich die beiden Gäste, mit denen der Mann geredet hat, frage, worum es ging. Aber Maren stößt mich an.

»Jens, bringst du bitte die leeren Teller weg? Ich muss gleich zum Kinderprogramm.«

Klar doch. Besonders Journalisten kümmern sich ums schmutzige Geschirr der Gesellschaft! Ich sammle noch die Teller bei der Rollatortruppe ein und bringe den Stapel zur Küche. Dari, eine von zwei Auszubildenden, schaut zögernd aus der Tür, so als wolle sie nicht hinaus. Ich drücke ihr den Stapel Teller in die Hand und bedanke mich.

»Ihr macht einen echt guten Job!«, rufe ich ihr zu. Sie nickt und verschwindet in der Spülküche. Seltsam. Normalerweise ist Dari zwar still, wirkt dabei aber fröhlich und selbstbewusst. Nun jedoch scheint ihr etwas auf dem Herzen zu liegen – oder sie ist einfach nur müde und gestresst.

*

Inzwischen »boxt der Papst«, wie Enno es gerne ausdrückt. Enno ist Chef der Freiwilligen Feuerwehr von Himmelstal. Er löscht Brände. Heute geht es um einen besonders lebensbedrohlichen Brand. »Durst« nennen wir ihn. Gemeinsam gehen wir ans Werk: Enno Diekmann und Gerd Meyer von der Feuerwehr, unser Nachbar Gerald Tönnies, Sportwart Axel Kuhlmann, Tagungshausleiter Theo Beyer und ich, Jens Jahnke, Journalist und Reporter vom Käseblatt.

Ohne es zu wollen, hat sich dieser erlauchte Kreis Gleichgesinnter an einem runden Stehtisch vor der Theke eingefunden. Unsere Frauen sitzen mit anderen Frauen am Tisch und sprechen über ... na, ich vermute Kinder, Männer und Klamotten. Wobei das natürlich ein Klischee ist. Meine liebe Maren diskutiert auch gerne über alles, was mit Menschen, Beziehungen und Gesundheit zu tun hat – und was hat nicht damit zu tun? Bei uns in der Männerrunde geht es um Autos, die große Weltpolitik und, man staune, um die Kirche. Theo hatte soeben ganz nebenbei gemeint, dieser Tag mache ja deutlich, dass die Kirche mitten im Leben steht.

»Wir beten, wir sprechen über Lebensträume, es gibt gut zu Essen, wir kümmern uns um die Kinder, hören flotte Musik und jetzt wird gefeiert, bis der Morgen graut. Dieser Tag ist doch Beweis genug! Wir von der Kirche verstehen etwas vom Leben!« Theos blaue Augen strahlen. Der Mittvierziger reibt sich den Dreitagebart, schmunzelt und prostet uns zu.

Gerd brummt irgendetwas vor sich hin.

»Gerd, sag’s ruhig laut. Wir von der Kirche sind Kritik gewohnt. Selbst Jesus musste sich schon manches anhören.«

Der kurz vor der Rente stehende KfZ-Mechaniker lässt sich das nicht zweimal sagen.

»Mag sein, dass ihr hier irgendwie aus dem kirchlichen Rahmen fallt und anders seid. Aber schau doch deine Kirche mal kritisch an. Ihr predigt und fuchtelt mit dem moralischen Zeigefinger herum wie mit einem Schwert, aber die Aufarbeitung von Missbrauch verhindert ihr. Und die Pfarrer lassen den Gutmenschen heraushängen. Wie viel Geld unserer Kirchensteuern ihr in Aktienpakete, überflüssiges Personal und Gebäude steckt, statt den Armen zu helfen, will ich gar nicht wissen. Vom Papst mal ganz abgesehen ...«

Je länger er redet, desto mehr regt sich Feuerwehrmann Gerd auf. Er hat schon jetzt ein paar Brände zu viel gelöscht.

Theo kontert wie erwartet: »Du verwechselst da was. Wir hier sind nicht katholisch. Wir sind evangelisch. Seit der Reformation vor über fünfhundert Jahren gibt es bei uns keinen Papst und auch kein Zölibat.«

»Aber Missbrauch hat es in evangelischen Heimen und sogenannten Erziehungsanstalten auch gegeben.« Enno nimmt Gerd in Schutz. Feuerwehrkameraden halten eben zusammen. Wobei auch Theo in der Feuerwehr aktiv ist. Er hat sich sogar in diversen Fortbildungen besonders qualifiziert und wird von den Kameraden deshalb hochgeachtet.

»Stimmt«, gibt er nun zu, »auch bei uns passiert eine Menge Mist. Kirche ist eben immer auch eine Institution mit eigenen Regeln und starren Gewohnheiten. Aber Martin Luther hat uns damals doch auf eine andere Spur gesetzt.«

»Die Spur der großen Worte, Predigt und so. Das ‚Wort’ als Gottes scharfes Schwert. Ein Konfirmandenunterricht, wo man mehr auswendig lernen muss als während der gesamten Schulzeit, nein danke. Viel besser als die katholische ist die evangelische Kirche auch nicht!«

Ich staune, befasst sich doch Enno mit dem Thema Kirche offenbar heute nicht das erste Mal. Er weiß gut Bescheid und scheint sich sogar mit der Reformation auseinandergesetzt zu haben. Theos Argumentation muss er allerdings oft zustimmen. Der Leiter des Tagungshauses ist uns allen in theologischen Fragen überlegen.

»Wenn man die Reformation auf die Trennung von der katholischen Kirche reduziert, hat man sie nicht verstanden. Luther ging es zuerst um die innere Befreiung des Menschen und um unser Gottesbild. Erst als Konsequenz daraus hat er in seinen 95 Thesen Veränderungen in der Kirche gefordert.«

»Das mag ja stimmen. Trotzdem ist die Trennung der Konfessionen ein längst überholtes Relikt aus dem Mittelalter. Was damals unbedingt nötig war, macht heute aus meiner Sicht die Christen unglaubwürdig.« Enno lacht jetzt triumphierend. »Das hat doch unser Pastor vorhin auch gesagt! Und mal ehrlich, wenn sogar die deutsche Einheit möglich war und immer besser funktioniert, dann müssten wir Christen es mit der Einheit von Kirche doch auch langsam auf die Reihe kriegen!«

Wir werden unterbrochen. Maren zieht mich am Arm.

»Komm, Jens, wir wollen tanzen!«

Ich ignoriere die Vereinnahmung durch das »wir« und lasse mich auf die hölzerne Tanzfläche ziehen. Spätestens nach zwei Discofox bin ich raus aus dem Thema »Kirche«. Der zweite ist eigentlich ein Salsa, aber diesen flotten Tanz beherrsche ich nicht mehr. Maren meckert mit mir und erinnert mich an den Tanzkurs, den wir zu Beginn unserer Beziehung gemeinsam besucht haben. Schon damals war ich leider vor allem linksfüßig unterwegs. Wir haben keine Lust mehr und ersparen uns den Quickstepp, den die Band nun präsentiert.

Ach ja, die Band. Nicht nur der Name, auch die Typen passen zur Musik. Der Keyboarder mit Schlapphut und im Lodenmantel ist gekleidet wie ein Schäfer aus der Heide, der Gitarrist mit Tirolerhut und Lederhose wie ein bayrischer Jodelkönig und die Schlagzeugerin mit Heidekranz auf dem Kopf und einem böhmischen Trachtenkleid symbolisiert die Verbindung vom Egerland im tschechischen Grenzgebiet und Lüneburger Heide. »Egerländer Heidjer«, international in Sachen Schlager und Volksmusik aufgestellt, könnte man sagen.

Am Stehtisch schenkt mir Axel sofort einen Korn ein.

»Komm, Kumpel, stärke dich erst einmal. Hast eben einen etwas geschwächten Eindruck gemacht.«

Das Thema »Kirche« ist während meiner kurzen Abwesenheit ad acta gelegt worden. Nun geht es um das verheerende Hochwasser in West- und Süddeutschland. Niemand glaubt, dass so etwas auch hier bei uns in der Heide passieren kann.

»Allerdings könnten uns extrem lange und heiße Dürrephasen treffen, Starkregen kann viele Ackerflächen samt Getreide wegspülen und Tornados können ganze Dörfer und Städte zerstören. Also sagt nicht, bei uns kann nichts passieren!«

Enno hat damit sicher recht. Am Ende einer längeren Diskussion einigen wir uns darauf, dass es wohl doch am bereits erwärmten Klima liegt. Wir wollen auf weitere Bratwürste verzichten, lästern über Gerds SUV und meinen uralten Golf und kommen dann auf das Thema Photovoltaik, die Windräder, viel zu große gelbe Tonnen für Plastikmüll und völlig überflüssige Reisen nach Mallorca.

Die Tanzphase ist inzwischen vorbei, die »Egerländer Heidjer« machen immer längere Pausen und die Hälfte der Feiernden ist bereits gegangen. Gerade verhandeln wir das Thema Elektromobilität. Axel kann das Wort allerdings inzwischen nicht mehr richtig aussprechen. Er spricht, nein er lallt, deshalb etwas von »Stromautos« und »Stromkrise«. Er steht eben unter Strom.

Im Augenwinkel bemerke ich bereits etwas länger, dass ein junger Mann immer wieder zu unserem Tisch herüberschaut. Ich kenne ihn vom Sehen. Er arbeitet auf einem Gutshof ganz in der Nähe. Auch er hat inzwischen diverse Bier und Korn intus, scheint aber recht trinkfest zu sein. Zwei seiner Kumpels am Tisch grölen lautstark mit: »Ein Bett im Kornfeld ...« Vielleicht lieben besonders Landwirte diese Bierzelthymne.

Der Jungbauer indes steht still da. Irgendetwas blockiert ihn, in die Trinklieder seiner Freunde einzustimmen.

Überraschend taucht Maren plötzlich neben mir auf. Zeitgleich stößt Geralds Frau ihrem Mann in die Rippen.

»Männer, es ist Zeit. Wir gehen.«

An besagtem ersten Mai dieses Jahres haben wir Männer unseren Abgang zu genau diesem Zeitpunkt verpasst. Es gab später mächtig Ärger. Folglich habe zumindest ich beschlossen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Nun ist das nächste Mal. Maren schmiegt sich an meine Schulter.

»Jens. Ich will nach Hause. Es ist fast ein Uhr.«

Ich nicke. »Nur noch eben das Bier austrinken.«

Sie bleibt neben mir stehen. Auch Gerald löscht seinen letzten Brand unter ehelicher Kontrolle. Wir verabschieden uns von den anderen.

»Aber ihr wollt doch noch nicht gehen? Wir haben ja gerade eben erst vorgeglüht!«, lallt Axel.

»Du hast gut Reden, Axel. Wer wie du als Single lebt, kann selbst entscheiden. Die beiden sind aber mit ihren Frauen hier. Da hat die Nacht ein Ende!«

Enno provoziert mit seinen angeblich mitfühlenden Worten natürlich ganz bewusst unseren Widerstand.

»Blödsinn!«, meint Gerald. »Auch wenn man verheiratet ist, bestimmt man über sich und seine Zeit immer noch selbst!«

Ich merke, worauf er hinauswill. Für einen Moment erwäge auch ich meine männliche Gegenwehr zur weiblich verordneten Nachtruhe. Dann jedoch setzt sich mein zweites Ego durch. Ich habe keine Lust auf tagelanges Schmollen und immer wieder diesen Abend aufs Brot geschmiert zu bekommen.

Also zieht Geralds Frau an dem einen und ich an seinem anderen Arm.

»Komm, Gerald, denk’ an den Fehler von damals!«

»Welchen Fehler? Ach so ...« Vermutlich meint er eher den Kater vom letzten Mal. Mehrfach versichert er unseren Kumpeln, dass er nur ungern mitgeht, aber beim nächsten Mal zu ihnen steht. Dann sind wir draußen vor dem Zelt.

»Jens Jahnke?«

Der junge Mann vom Nachbartisch ist uns nachgegangen. Er ist ein schlanker, braungebrannter Typ, dem man ansieht, dass er auch schwere Arbeit nicht scheut. Seine blonden Haare trägt er lang, gekleidet ist er mit schwarzer Jeans, hellblauem Hemd und einem dunklen Leinensakko. Ein sympathischer Bursche.

»Ja.« Ich bleibe stehen und bremse unseren Tross aus.

»Sie sind doch der Reporter?«

»Ja, aber im Moment gewissermaßen außer Dienst.«

»Ich hatte gehofft, Sie haben noch etwas Zeit für mich.«

»Und Sie sind ...?«

»Oh, sorry. Ich bin der Sohn vom alten Heimfeld. Sie wissen vielleicht, der Hof im Nachbardorf, der mit den Eichen und der Feldsteinmauer.«

»Darf ich vorstellen«, lallt Gerald mit übertrieben charmanter Handbewegung, »Fabian von Heimfeld.«

Die Einheimischen kennen sich natürlich.

Fabian nickt. »Ich würde Sie gerne unter vier Augen sprechen.« Ich spüre ihm ab, dass ihn diese Bitte viel Mut kostet. Vielleicht hat er den ganzen Abend gebraucht, sich diesen Mut anzutrinken.

»Warum wollen Sie mich sprechen?«

»Weil, weil mir etwas geschehen ist, was Sie vielleicht auch gerne wissen wollen.« Er stottert etwas.

Maren und die anderen beiden sind bereits einige Schritte weitergegangen. Ich spüre, dass ich diesen jungen Mann jetzt nicht einfach abwimmeln sollte – selbst wenn es später Ärger gibt. In betrunkenem Zustand mit ihm reden will ich allerdings auch nicht. Doch er hat mich neugierig gemacht.

»Also haben Sie etwas für die Zeitung?«

»Vielleicht. Vor allem brauche ich Ihre Hilfe. Sie sind doch der Journalist, der damals Oliver Bender geholfen hat, und dieser jungen jüdischen Mutter und Kerstin und Jonas?«

Der Mann hat ganz offensichtlich intensiv verfolgt, was ich in den letzten Jahren so getrieben habe. Trotzdem sind weder er noch ich heute Nacht in der Lage, sein Anliegen zu klären.

»Sie haben sich über mich informiert?«

»Die Geschichten kennt hier jeder. Da muss man sich nicht informieren. Aber meine Geschichte kennt noch niemand, jedenfalls niemand, der mir glaubt.«

Ich werde immer neugieriger.

»Worum geht es denn?«

Er will noch nicht heraus mit der Sprache.

»Nur wenn Sie sich Zeit nehmen, kann ich alles erzählen.«

Ich entscheide mich. Vernunft gegen Neugier.

»Okay. Ich besuche Sie morgen Vormittag gegen zehn Uhr. Dann reden wir über alles, versprochen! Ich komme – aber Sie sagen mir schon jetzt, worum es geht.«

Er überlegt einen Moment.

»Gut. Ich vertraue Ihnen. Um es kurz zu machen: Ich habe einen Schatz gefunden, zwei Säcke mit Gold.«

Mir verschlägt es die Sprache. Der Mann hat zu viel getrunken. Oder ich.

»Sie haben einen Goldschatz gefunden? Ein Scherz, oder?«

»Leider nicht. Der Schatz ist wieder weg. Ich bin einfach nur ein Idiot!«

Nun kommt mir dieser Fabian doch ein wenig betrunken vor. Schatz hin und Gold her – wir reden morgen darüber.

der Schatz im Acker

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