Читать книгу der Schatz im Acker - Hermann Brünjes - Страница 6
Dienstag, 5. Oktober
ОглавлениеSchade, dass ich der Schatz-Geschichte gestern nicht weiter nachgehen konnte. Wegen eines Corona-Ausfalls fehlte »Feldpersonal«, wie unser Chef uns Journalisten nennt. Ich war deshalb noch bei der Vorstandswahl eines Schützenvereins, der Einweihung eines Kindergartens und am Abend in einem Konzert mit Orgel und Violine. Als ich meine Artikel endlich fertig und abgeschickt hatte, war Maren längst von der Schicht zurück und bereits zu Bett gegangen.
Jetzt bin ich umso gespannter, was die Recherche in Sachen »Schatz im Acker« bringen wird. Auf die Bezeichnung komme ich, weil Maren mir beim Frühstück das von Jesus erzählte Gleichnis aus dem Evangelium nach Matthäus vorgelesen hat:
»Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker.«
Maren hatte gemeint, diesen Schatz hebt man nur, wenn man ihn entdeckt, sich riesig darüber freut und dann wie selbstverständlich alles dafür einsetzt. Der Finder im Gleichnis war vermutlich ein Tagelöhner. Um damals rechtssicher an den Schatz zu kommen, musste er den Acker kaufen, auf dem sich dieser befand. Dafür seinen gesamten Besitz einzusetzen, wäre natürlich Blödsinn und viel zu riskant – es sei denn, er hat den Schatz mit eigenen Augen gesehen und er weiß, dass er viel, viel mehr kriegt, als er einsetzt.
»So ist das auch mit dem Himmel und mit Jesus Christus«, hatte Maren behauptet. »Etwas Besseres, als daran zu glauben und damit verbunden zu sein, gibt es nicht!«
Noch vor Jahren hätte sich das in meinen Ohren wie frommes Geschwafel angehört, inzwischen weiß ich, dass es stimmt. Wer entdeckt, worum es im christlichen Glauben wirklich geht und diesen »Schatz« findet, der oder die ist bereit, dafür alles einzusetzen. Okay, nun aber geht es hier nicht um Jesus und den Himmel, sondern um ganz und gar »irdisch Gut«, um zwei Säcke oder Pakete mit Gold.
Es ist zehn Uhr. Ich steige den »Affenfelsen« hinauf. So nennen Einheimische die Betontreppe am Rathaus der Samtgemeinde. Vor vielen Jahren gab es im Keller des schmucklosen, aber zweckmäßigen Betonkomplexes eine Eisdiele.
»Aldo« war damals ein Zauberwort für Jugendliche, Familien, Biker, Radwanderer und alle Freunde italienischer Eissorten. Auf der breiten Treppe hinunter in den Sitzbereich zur Eisdiele traf man und klönte, küsste sich, diskutierte und schleckte vor allem sein Eis. Wenn es voll war, saßen die jungen Leute auch auf der Treppe zum ersten Stockwerk. Wie auf einem »Affenfelsen« eben ...
Die Tür zum Bürotrakt öffnet sich automatisch. Alles ist sauber, der Teppich frisch gesaugt. Hinter einer Glastür sitzen zwei Frauen und ein Mann in einem großen Büro an ihren Schreibtischen. Ich klopfe. Eine junge Frau kommt an die Tür, bittet mich herein und fragt nach meinem Anliegen. Freundlich sind sie jedenfalls in diesem »Bürgerbüro«.
»Ich suche einen Ihrer Mitarbeiter«, sage ich und beobachte, so gut es geht, die Minen der drei. »Tobias Bahn.«
Ich habe die Aufmerksamkeit aller drei. Die ältere Frau erhebt sich und kommt auf mich zu. Ich schätze sie auf knapp sechzig. Sie trägt ein knielanges dunkelblaues Kostüm und ihre grauen Haare kurz.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Ich zücke meinen Presseausweis.
»Ich komme vom Kreisblatt. Ein Landwirt aus der Region hat angeblich einen besonderen Fund gemacht. Ihr Kollege Tobias Bahn müsste mehr darüber wissen.«
Die Minen aller drei Kollegen verfinstern sich. Die Frau vor mir schaut mich an als wolle ich ihr etwas antun und sie müsse ihren Panzer anlegen.
»Der ist nicht da. Hat Ihnen dieser von Irgendwas also auch den Floh vom Schatz ins Ohr gesetzt?«
»Fabian von Heimfeld heißt der Mann. Und er ist Mitglied Ihrer Samtgemeinde und Steuerzahler.«
»Aber er ist auch unverschämt und hat unserem Kollegen Bahn extrem gemeine Unterstellungen angehängt.« Der Mann mischt sich ein. Er ist etwa dreißig, hat sich die dunklen, sorgfältig frisierten Haare nach hinten gekämmt und trägt Jeans, Hemd und Strickjacke.
»Ich war nicht da, als dieser von Heimfeld hier war. Aber meine Kolleginnen haben berichtet, was der Mann behauptet hat. Ich sage Ihnen, dass Tobias sich diesen ominösen Schatz einfach unter den Nagel gerissen hat, ist absolut nicht möglich. Er war schon Verwaltungs-Lehrling hier. Wir kennen und schätzen ihn.«
»Aber jetzt ist er nicht da.«
Die Frau nickt. »Das stimmt. Wir machen uns ein bisschen Sorgen. Er hatte bis Sonntag Urlaub und war mit seinem Freund auf Mallorca. So jedenfalls hat er es in einer Mail geschrieben. Vielleicht ist der Flieger ausgefallen oder sie mussten wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne. Das kommt ja vor. Mallorca war Hochrisikogebiet.«
»Ja, das kommt vor. Haben Sie denn Kontakt mit seinem Freund aufgenommen? Wissen Sie überhaupt, wer er ist?«
»Beides nein. Wir wissen nur, was er in der Mail geschrieben hat.«
»Darf ich die Mail mal sehen?«
Die drei schauen sich gegenseitig an. Der Mann schüttelt dann mit dem Kopf.
»Nein, das geht nicht. Wir sind nicht berechtigt, Fremden Zugang zu unseren Rechnern zu geben.«
»Ich will aber ja keinen Zugang, ich will einfach nur die Mail lesen.«
»Egal. Wir haben keinen Grund, Tobias zu misstrauen und werden um ihretwillen auch seine Post nicht herausgeben.«
Ich versuche einen anderen Weg, an Informationen zu kommen.
»Hat Ihr Kollege den Urlaub lange geplant oder kurzfristig beantragt?«
»Beantragt hat er ihn gar nicht. Wir können bei voller Besetzung des Büros auch kurzfristig mal einen Tag frei machen und noch am selben Morgen anrufen.«
»Das hat er gemacht?«
»Nein. Er war am Freitag vor seinem Urlaub der letzte im Büro. Er hat erst am Montag besagte Mail geschrieben. Da war er schon auf Mallorca.«
»Können Sie mir seine Adresse geben? Dann versuche ich, ihn dort zu finden.«
Wieder schaut eine zum anderen. Sie verständigen sich mit Blicken. Der Mann scheint ihr Sprecher zu sein.
»Wir können und wollen Sie nicht daran hindern, Tobias zu suchen. Die Adresse werden Sie als Journalist vermutlich ja auch anders herauskriegen – also können wir sie Ihnen auch gleich geben.«
Die junge Frau tippt etwas in den Computer und schreibt dann die Adresse vom Bildschirm ab auf einen Zettel. Den reicht sie mir.
»Es ist gleich um die Ecke. Er wohnt in einer neuen Eigentumswohnung.«
»Danke.«
Ich wende mich zum Gehen, da fällt mir noch etwas ein. Ein bisschen muss es wirken wie beim schrulligen Inspektor Colombo, als ich mich noch einmal umdrehe.
»Ach, das wollte ich noch fragen: Hatte Tobias Bahn bei einem oder einer von Ihnen Schulden?«
Das Flackern im Blick der älteren Frau ist nicht zu übersehen. Die anderen beiden sagen laut und klar »Nein«, diese Dame murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Also hatte er Schulden. Ich vermute, sie wird es nicht zugeben. Trotzdem versuche ich, sie zum Reden zu bringen.
»Sie zögern? Also hatte er bei Ihnen Schulden?«
»Äh, ja. Tobias war oft klamm. Aber er ist ein guter Mensch! Er kümmert sich um seine alte Mutter. Die braucht teure Therapien und Stammzellen.«
»Sie hat Krebs? Wissen Sie, in welchem Krankenhaus sie liegt?«
»Leider nicht. Aber es muss etwas weiter weg sein, denn Tobias hat immer mal Zeit gebraucht, sie zu besuchen.«
»Und da haben Sie ihm Geld geliehen? Für Reisekosten?«
»Nein, natürlich nicht. Wir verdienen hier ganz gut, sind ja im öffentlichen Dienst! Aber Tobi musste teure Operationen für seine Mutter finanzieren. Er war oft in Sorge, dass er nicht helfen konnte und die ganze Therapie letztlich umsonst war.«
Mir schwant Schlimmes.
»Sie haben ihm also größere Summen geliehen?«
Sie schaut unsicher zu den beiden anderen. Die haben ganz offensichtlich von solchen Zuwendungen keine Ahnung.
»Nun sag’ schon, Friederike, wie viel hast du ihm gegeben und wie oft?«
»Nicht oft. Nur drei oder viermal. Er zahlt das Geld in kleinen Raten zurück.«
»Wie viel?« Ihr Kollege wird jetzt ungeduldig.
»Einmal tausend und dreimal zwei.«
»Was, zweitausend Euro?«
Friederike nickt und sackt in sich zusammen. Sie erinnert mich jetzt an Fabian Heimfeld gestern. Es ist ihr peinlich und sie ahnt, dass sie einen Fehler gemacht hat.
»Aber ich kenne ihn doch schon so lange! Er war immer ehrlich und ein guter Kollege!«
Ich versuche, sie zu beruhigen.
»Noch ist ja nichts geklärt. Also warten wir mal ab. Danke jedenfalls für seine Adresse.«
Als ich kam, fand ich ein selbstbewusstes Team vor, als ich mich jetzt zum Gehen wende, sind alle drei erschüttert.
»Sollen wir zur Polizei gehen und die Sache melden?«, fragt der Mann mit fast ängstlicher Stimme.
»Warten Sie noch. Am besten, Sie behalten die Sache zunächst für sich. Ich melde mich. Und wenn die Polizei eingeschaltet wird, sagen Sie einfach, wie es war – und nicht wie Sie es gerne hätten.«
*
Draußen im Golf checke ich die Adresse bei Google Maps. In drei Minuten müsste ich dort sein. Ich staune über uns Menschen. Nicht nur Fabian von Heimfeld hat dieser Tobi hinters Licht geführt, auch seine Kolleginnen und Kollegen. Vermutlich hat er bei Friederike mütterliche Gefühle geweckt und sie mit dem ältesten Trick der Welt überlistet, durch Mitleid.
Ich bin gespannt, welche Abgründe sich bei Tobias Bahn noch auftun.
Die Wohnung des Vermissten liegt in einem der neueren Mehrfamilienhäuser gleich neben einem griechischen Restaurant. Ob sich Tobias Bahn eine Eigentumswohnung leistet? Soweit ich informiert bin, wurden die unterschiedlich großen Wohnungen in diesem Haus vom Investor verkauft. Das Haus besitzt eine eigene Tiefgarage, die Besucher aber nicht einfach so nutzen können. Ich parke also vor dem Griechen.
Schnell finde ich die Klingel. Niemand macht auf. Ich meine, das Läuten aus einer Wohnung im ersten Stock zu hören. Ich klingle bei einem K. Meyer. Ohne dass jemand sich über den Lautsprecher unter den Klingeln meldet, ertönt der Summer. Ich öffne die Tür und bin in einem geräumigen, aber anonymen Flur. Aufs Geratewohl nehme ich die Treppe und stehe auch schon vor der Wohnung mit dem Namensschild »T. Bahn«. Wie erwartet, reagiert niemand. Dafür öffnet sich die Tür daneben einen Spalt weit. Eine alte, knorrige Hand ist zu sehen, mehr nicht.
»Sie wollten zu mir?«
Ich wende mich der Männerstimme zu. »Entschuldigen Sie, eigentlich wollte ich zu Ihrem Nachbarn, Herrn Bahn.«
»Warum klingeln sie dann nicht auch dort?«
»Bitte entschuldigen Sie. Er hat nicht reagiert.«
»Und wer sind Sie?«
»Oh, nochmals bitte ich um Entschuldigung. Mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin von der Zeitung.«
Ich nestle meinen Ausweis aus der Lederjacke und zeige ihm den. Nun geht die Tür ein Stück weiter auf und ein grauer, bärtiger Kopf schaut heraus. Der Mann sitzt in einem Rollstuhl, trägt einen gestreiften Morgenmantel und seine nackten Füße stecken in Adiletten. Mit Links hat er die Tür geöffnet, in der rechten Hand hält er eine Sprühflasche.
»Was Sie da in der Hand haben, ist ja hoffentlich kein Pfefferspray«, meine ich freundlich und halte mir demonstrativ die Hand vor die Augen.
Er lässt die Flasche in seiner weiten Manteltasche verschwinden. »Man kann nie vorsichtig genug sein!«
Dass ich ihn längst hätte überrumpeln können, kommt dem Alten nicht in den Sinn.
»Wissen Sie, wo ich Tobias Bahn finden kann?«
»Er ist nicht da.«
Das weiß ich schon. »Ich suche ihn wegen seines Jobs.«
»Da müssen Sie im Rathaus fragen.«
»Dort war und ist er nicht, weder gestern noch heute.«
»Aber er ist zurück aus dem Urlaub, ganz sicher!«
»Haben Sie ihn gesehen?«
Der Alte nickt.
»Gesehen und gehört. Am Sonntag hat ihn sein Kumpel Malte Kornbach mit seinem aufgemotzten Golf hier abgeliefert. Er hatte einen Koffer dabei. Ich vermute, die beiden waren verreist.«
»War es ein kleiner roter Blechkoffer?«
Der Alte schaut mich an, als habe ich ihn um Drogen gebeten. »Nein, der war nicht aus Blech, sondern aus schwarzem Stoff. So ein normaler Reisekoffer mit Rollen eben.«
»Er ist dann also in seine Wohnung gegangen. Von dort haben sie ihn gehört?«
»Genau. Unsere Wohnzimmer grenzen an dieselbe Wand. Aber er war nur kurz hier.«
»Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass die beiden Typen aus dem Mercedes die Treppe hinaufgepoltert sind und meinen Nachbarn angebrüllt haben.«
»Welche Typen aus welchem Mercedes?«
»Na, die Karre, die in den letzten zwei Wochen immer wieder auf dem Parkstreifen unten an der Straße stand, der graue, ältere Daimler.«
»Waren das Freunde von Ihrem Nachbarn?«
»Die sahen eher wie Gläubiger aus, wenn Sie mich schon fragen!«
»Wieso Gläubiger?«
»Na ja, der eine war ein Schlägertyp mit Jeansjacke und Muskeln wie Rambo. Der andere eher schmächtig mit goldener Halskette und schwarzer Wildlederjacke.«
Nun klingelt etwas bei mir. Grauer älterer Mercedes, ein schmächtiger Mann mit Goldkette. Ob das der Typ war, der am Sonntag am Festzelt aufgetaucht ist und jemanden gesucht hat? Es wäre ein seltsamer Zufall, aber möglich.
»Diese beiden waren also bei Herrn Bahn in der Wohnung und haben mit ihm gestritten?«
»Das Haus ist nicht übermäßig hellhörig. Aber ich habe gehört, dass nebenan Möbel gerückt wurden oder sogar umgefallen sind und dass laute Worte fielen. Dann war es still. Kurz darauf polterten Tobias Bahn und die beiden unangenehmen Männer die Treppe hinunter, stiegen unten in den Mercedes und fuhren davon.«
Der Alte ist ein guter Beobachter. Er hat viel Zeit, seine Umgebung zu beobachten und vermutlich nichts anderes zu tun.
»Danke, Sie haben mir gute Hinweise gegeben. Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«
»Eigentlich nicht. Vielleicht nur, dass diese beiden Typen schon irgendwann Mitte September in der Wohnung waren. Bahn war nicht da. Jedenfalls hörte ich diverse Geräusche von nebenan. Möbel wurden verschoben, Schubladen und Schranktüren klapperten, Geschirr klirrte. Die beiden kamen nach etwa einer Stunde wieder aus der Eingangstür, setzten sich in ihren Mercedes und fuhren davon.«
»Tobias Bahn hat davon nichts gewusst?«
»Woher, junger Mann, soll denn ich das wissen? Die beiden hatten ja wohl einen Schlüssel, wie sonst sollten sie geräuschlos hineinkommen? Bahn kam erst am späten Nachmittag zurück. Er war dann aber nur eine halbe Stunde in seiner Wohnung. Dann ist er mit dem Fahrstuhl hinuntergefahren, ich vermute bis in die Tiefgarage. Dort steht sein Auto.«
Erstaunlich, was ein an seinen Rollstuhl gebundener alter Mann alles mitbekommt.
»Wissen sie zufällig auch, welches Auto Ihr Nachbar fährt?«
»Natürlich weiß ich das. Es ist ein blauer BMW, so ein überflüssiger Stadtgeländewagen mit einem X.«
»Und können sie sich auch erinnern, wann genau das war?«
Nun überlegt der Mann einen Moment länger.
»Es war ein Samstag, definitiv. Meine Enkelin besucht mich da immer. Ja, es war der 18. September. Am Tag darauf, also Sonntag, muss mein Nachbar dann irgendwann nachts zurückgekommen sein. Früh morgens am Montag hat Malte Kornbach ihn jedenfalls abgeholt und erst vorgestern wieder abgeliefert.«
Ich bedanke mich noch einmal und verabschiede mich.
Das ganze Gespräch fand bei nur halb geöffneter Tür im Flur statt. Der alte Mann ist nicht nur aufmerksam, er ist auch vorsichtig.
Ich nehme den Aufzug in die Tiefgarage. Der besagte blaue X1 steht neben einem weißen Tiguan. Wenn es stimmt, was der Alte erzählt hat, dann wurde der BMW nach Bahns Mallorca-Reise nicht mehr benutzt. Folglich ist sein Besitzer in jenen mysteriösen grauen Mercedes dieser zwei Typen eingestiegen. Das bedeutet, der Gesuchte könnte am Sonntag sogar mit in Himmelstal gewesen sein – falls es dasselbe Auto war.
Als ich in meinem Golf sitze, schaue ich noch einmal zum ersten Stock hinauf. Eine Gardine bewegt sich. Ich bin sicher, der alte Mann mit dem Pfefferspray verfolgt jede meiner Bewegungen. Leider fällt mir nun ein, dass ich ihn nicht gefragt habe, wo der Kumpel seines Nachbarn wohnt. Wie heißt der noch? Richtig, Malte Kornbach.
*
Die Adresse finde ich problemlos im digitalen Telefonbuch. Bevor ich den Kumpel von Tobias Bahn aufsuche, gönne ich mir im Griechen-Imbiss eine Gyrostasche.
»Immer wieder gerne!«, sagt der Chef des Hauses, als ich mich bei ihm bedanke. »Stammgäste wie dich halten uns am Leben! Kannst uns ja mal in die Zeitung bringen!«
»Mit Foto von dir?« Wir lachen. Er ist tatsächlich fotogen: Gepflegter Kurzhaarschnitt, markantes Gesicht mit braunen Augen und immer freundlich. Nicht nur die Qualität des Essens, auch das Personal hier ist Grund für eine gewisse Berühmtheit dieses Schnellrestaurants. Viele Biker kommen im Sommer, essen hier zu Mittag und genießen zum Nachtisch dann ein leckeres Eis gleich schräg gegenüber.
Ich fahre in die Siedlung, wo Malte Kornbach in einem Einfamilienhaus zur Miete wohnt. Er ist nicht da. Ihr Mieter arbeitet im Raiffeisen-Markt, verrät mir die Hausbesitzerin.
Also fahre ich dorthin. Der Laden wird von den Menschen in unserer Region hochgeschätzt, ist er doch der einzige Bau- und Pflanzenmarkt weit und breit. Zwar ist sein Sortiment kleiner als das der städtischen Baumärkte, doch man bekommt in der Regel, was man braucht.
Kornbachs schwarzer Golf steht auf dem Parkplatz. Spoiler und verbreiterte Radkästen samt Breitreifen mit schwarzen Alufelgen zieren den GTI. Malte Kornbach selbst finde ich im Lager. Er überprüft gerade eine Lieferung Tierfutter.
Malte ist etwa dreißig, mittelgroß, trägt eine Brille mit starkem Rand und versteckt unter seinem grünen Kittel ein kleines Bäuchlein. Er wirkt wie ein freundlicher Kumpel vom Biertisch – was er ja vermutlich auch ist.
Nachdem wir uns vorgestellt haben, frage ich ihn, wann er seinen Freund Tobias zuletzt gesehen hat.
Ohne zu überlegen antwortet er: »Na am Sonntag, dem Tag der Deutschen Einheit! Wir waren zusammen auf Malle. Um neun Uhr morgens sind wir mit Ryanair in Hamburg gelandet. Meinen Wagen hatte ich im Parkhaus abgestellt. Kurz vor elf Uhr habe ich Tobi dann vor seiner Wohnung abgesetzt.«
»Danach haben sie ihn seitdem weder gesehen noch von ihm gehört oder mit ihm gesprochen?«
»Das stimmt. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber er geht nicht ran.«
»Hatten Sie beide diese Mallorca-Reise langfristig geplant?«
»Nee. Zwar reden wir seit vielen Monaten davon, aber nun kam es ziemlich plötzlich. Tobi hat am Samstagabend bei mir übernachtet. Wir haben was getrunken und wieder mal von Malle geschwärmt. Da kam die Idee auf, unseren Traum umgehend zu realisieren. Also haben wir unseren Urlaub genommen, online gebucht und sind am Montag auch schon gleich losgeflogen.«
»Ganz schön spontan. War das typisch für Sie beide?«
»Ich weiß nicht, was hinter ihrer Frage steckt. Na ja, sonst gehörten wir eher zu denen, die von ihren Träumen ständig nur reden. Vor allem, wenn wir was getrunken hatten. Nun haben wir endlich gezeigt, dass wir auch Handeln können!«
Kein Wunder. Tobi war wegen des Schatzes unter Druck. Fabian von Heimfeld und vor allem diese beiden Mercedes-Typen saßen ihm im Nacken. Da hat er vermutlich gehofft, etwas Abstand ließe Gras über die Sache wachsen.
»Und, wie war Malle? Hat sich etwas Besonderes ereignet?«
Malte Kornbach schenkt mir einen mitleidigen Blick.
»Na, wie war Malle wohl? Feucht, sonnig und kurvig.«
»Also habt ihr am Ballermann das Bier, die Sonne und die Mädels genossen?«
»So kann man es sagen. Wegen Corona war alles noch etwas eingeschränkt, aber eben nur etwas.«
»Hat Ihr Freund, vielleicht nach genügend Alkoholkonsum, irgendetwas Auffallendes gesagt oder erzählt?«
Malte schaut mich fragend an.
»Was sollte das sein? Er hat mal gemeint, das nächste Mal ginge es auf die Malediven oder nach Dubai. Aber das war natürlich im Scherz. Wir könnten uns das nicht leisten.«
»Hat Tobias irgendwie auffällig mit Geld um sich geworfen oder einen Schmuckladen oder ähnliches aufgesucht!«
Wieder ein fragender Blick. »Nee. Er hat mit Karte zwar manchen Euro auf den Kopf gehauen und mich und die Mädels auch mehrfach eingeladen, aber so überaus auffällig war das nun auch nicht. Was bedeuten Ihre seltsamen Fragen?«
»Nun, Ihr Freund ist seit zwei Tagen verschwunden. Da macht man sich doch Sorgen, oder?«
Kornbach wird immer misstrauischer. Er weiß jedenfalls nichts vom Schatz. Davon etwas mitgenommen und auf der Insel verkauft, hat Tobias wahrscheinlich auch nicht. Folglich muss der komplette Schatz irgendwo hier in Bahns Umfeld versteckt sein.
»Na, wegen zwei Tagen Abwesenheit würde ich mir da keine Sorgen machen.«
Ich frage nach Tobias’ Freundin.
»Mit Dari ist er schon länger nicht mehr zusammen. Die arbeitet jetzt in einer Art christlicher Jugendherberge in Himmelstal und ist ja wohl fromm geworden. So eine passt auch nicht zu Tobi! Die beiden haben sich immer wieder gestritten. Dann kam Corona. Da hat sich Dari völlig zurückgezogen. So jedenfalls hat Tobi es mir erzählt.«
Wieder bin ich überrascht. Kornbach spricht von jener Dari, die auch ich kenne, die Auszubildende im Tagungshaus.
»Wissen Sie, wann die beiden sich zuletzt getroffen haben?«
»Tobias hat mir erzählt, dass er noch am Tag vor unserem Abflug bei Dari in der Wohnung war. Er habe dort noch etwas vergessen, meinte er.«
»Vergessen? Was?«
»Das hat er nicht gesagt. Aber warum fragen sie jetzt all dies? Tobi ist erwachsen. Er kann auf sich selbst aufpassen.«
Bevor Malte Kornbach noch misstrauischer wird, danke ich ihm und beende das Gespräch. Ich kann nicht ändern, dass Malte mit vielen Fragen zurückbleibt. Mir geht es ja nicht anders. Vor allem fehlen mir Antworten.
*
Es ist klar: Dari ist die nächste, mit der ich reden muss. Soll ich sie überraschen? Oder besser anrufen? Ich entscheide mich für die Überraschung.
Nur sieben Minuten brauche ich vom Fleckenzentrum bis nach Himmelstal. Links der Straße hat die Telekom kürzlich einen schlanken Turm errichtet, um das Mobilfunknetz zu verbessern. Das war auch dringend nötig! Diese Strecke fahre ich inzwischen gewissermaßen im Schlaf. Auch hier liegen lange Zuckerrübenwälle. Teilweise wurden sie mit Planen abgedeckt, gehalten von alten Reifen. Ein topp renovierter Bauernhof mit vielen Nebengebäuden betreibt in der Region Zuchtversuche mit Getreide. Ich staune, dass man mit Landwirtschaft ja offenbar auch viel Geld verdienen kann. Vielleicht muss Fabian von Heimfeld in dieser Firma mal fragen, wie das funktioniert.
Immer, wenn ich das Ortsschild und etwas später die alte Wassermühle mit den Teichen und dem Bach passiere, beschleichen mich gemischte Gefühle. Einerseits ist dies mein Dorf. Ich fühle mich hier sauwohl und gehöre dazu. Andererseits komme ich mir vor wie ein Kuckuck, der sich einfach in ein fremdes Nest gesetzt hat. Damit meine ich natürlich dieses Dorf, aber vor allem auch das Haus von Maren. So sehr ich es mag und mich dort zu Hause fühle, so sehr empfinde ich manchmal, dass ich dieses Geschenk nicht verdient habe und noch immer ein bisschen fremd bin.
Ich parke zwischen Kirche und Tagungshaus vor einem grünen Lastwagen, der hier fast immer steht und den Blick von der schönen alten Feldsteinkirche ablenkt. Der Zugang zum Tagungshaus durch eine enge Pforte könnte mal wieder etwas freigeschnitten werden. Die Büsche auf der einen und Strandrosen auf der anderen Seite verengen den Durchgang. Dabei marschieren hier fast täglich Jugendliche und Erwachsene hindurch in die Kirche auf der anderen Straßenseite.
Der Wein an der roten Wand des Haupthauses trägt Früchte. Die Trauben sind klein, süß und inzwischen fast reif. Im Vorbeigehen nasche ich ein paar davon.
Mich amüsiert das Schild zwischen den Reben am Pfosten der Überdachung vom Eingang immer wieder, wenn ich hier vorbeikomme. »Luther war hier nie« steht dort.
Das »nie« ist so klein geschrieben, dass man es erst auf den zweiten Blick sieht. Ob sie das irgendwann mal für den Reformationstag thematisieren? Evangelisch ohne Luther? Geht denn das überhaupt?
Ich klingle.
Eine etwas korpulente junge Frau öffnet die Tür. Sie trägt einen Kittel. Mir fällt ihr Name nicht mehr ein.
»Jens! Wie schön, dich zu sehen.«
Peinlich. Ach ja, Saskia heißt sie. Mit dem neuen Team habe ich erst ein einziges Mal zusammengesessen. Nun fällt es mir wieder ein. Saskia will nach ihrem Freiwilligen Jahr hier im Gästehaus Pastorin werden.
»Danke. Ich hoffe, es geht euch gut im Team!«
Sie lacht. »So gut es eben geht, wenn nach der Corona-Pause wieder ’zig Gruppen das Haus stürmen.«
»Aber da werdet ihr euch doch hoffentlich freuen!«
»Klar. Gastfreundschaft – dafür sind wir schließlich angetreten! Nun endlich geht das normale Leben wieder los.«
»Hoffen wir, dass die vierte Welle nicht zu heftig wird!«
»Allerdings. Einige Gruppen haben schon wieder abgesagt. Theo Beyer ist bereits wieder am Rechnen, wie das alles finanziell klappt. Die Schließungen bisher haben wir ja dank vieler Spenden und Staatshilfen gut überstanden.«
Wir stehen im Flur vor dem Aufenthaltsraum des Teams. Zwei weitere junge Leute sagen »Hallo«, Anna und Kevin. Diese Namen habe ich behalten. Anna ist sehr still, macht aber äußerlich einen verwegenen Eindruck. Glatte, dunkle und lange Haare mit hellblauer Strähne, schwarze Jeans mit diversen Rissen, schwarze Kreuzanhänger im Ohr und eine tätowierte Möwe am Hals – die jungen Christen treten heute anders auf, als selbst ich es erwarte. Kevin dagegen bedarf keiner ausgefallenen Kleidung, um aufzufallen. Er ist ein schmächtiger Blondschopf, der sich immer ins Spiel bringt.
Wir nannten das früher »Rampensau«. Heute meinen manche, es sei ADHS, nur weil Menschen auf sich aufmerksam machen und dabei äußerst bewegt und vital auftreten.
»Hey, Jens! Willst du uns einfach mal so besuchen oder wieder über ein christliches Thema interviewen?«
»Hallo. Nein, ich suche eure Kollegin Dari.«
Die drei jungen Leute werfen sich Blicke zu.
»Dari? Warum suchst du sie?«
»Eigentlich suche ich ihren Freund Tobias Bahn. Aber der ist verschwunden.«
Wieder schauen sich die drei gegenseitig an, als erwarten sie vom jeweils anderen Antworten. Kevin ergreift das Wort.
»Tobi? Den haben wir nur ein- oder zweimal gesehen. Dari ist seit langem nicht mehr mit ihm zusammen.«
»Ich weiß. Eure Kollegin wollte die Coronazeit mit euch als Team und hier in der Hausgemeinschaft verbringen. Ich würde Dari aber echt gerne sprechen.«
»Wir auch. Leider ist sie seit gestern Morgen in Urlaub.«
Es hört sich an, als gäbe es dazu mehr als diese reine Sachinformation zu sagen.
»Ihr betont das etwas merkwürdig.«
Kevin nickt. »Es ist merkwürdig. Wir wussten von nichts. Dari hat eigentlich niemanden. Als Auszubildende wohnt sie ja nicht hier bei uns, sondern drüben bei den Strombergs. Da kriegen wir natürlich nicht alles mit. Am Sonntag, beim regionalen Kirchentag, hat sie noch normal in der Küche mitgearbeitet. Aber irgendetwas muss passiert sein. Sie war extrem still. Am Montag hat sie sich dann abgemeldet, angeblich weil jemand im Bekanntenkreis gestorben ist.«
»Das könnte sogar stimmen«, Saskia mischt sich ein. »Gestern Vormittag hat hier ein Mann mit ausländischem Akzent angerufen. Er hat gesagt, er sei ein Verwandter von Dari und wolle sie sprechen. Aber Dari war bereits weg.«
»Sie ist mit Andreas in die Kreisstadt gefahren. Er ist Einkäufer und wir brauchten Nachschub für die Gruppe, die morgen anreist. Er hat Dari am Busbahnhof abgesetzt.«
Mehr weiß Kevin nicht. Ich sollte also Andreas noch befragen, der allerdings hat heute frei und ist nicht hier.
Mir fällt auf, dass Anna noch nichts gesagt hat, aber irgendwie besonders betroffen zu sein scheint. Vielleicht weiß sie mehr. Allerdings werde ich sie lieber separat befragen, noch vor Andreas, wenn möglich.
»Willst du einen Kaffee mit uns trinken? Und ein Stück von Saskias Nusskuchen probieren?«
Kevin hält mir schon eine leere Tasse hin.
Ich schaue auf die Uhr. Für heute reicht es, Schatz hin und Schatz her! Ich habe noch viel zu tun und wollte eigentlich längst auf dem Weg in den Südkreis sein. Mein Kollege Stein ist in Quarantäne. Er ist unser Sportreporter und hat einen Fußballtrainer interviewt, dessen Zöglinge eisern den letzten Platz in der 3. Kreisliga verteidigen. Der Trainer wurde am Tag nach dem Interview positiv auf Corona getestet und Steini, wie wir unseren Kollegen liebevoll nennen, muss nun für vierzehn Tage in Quarantäne. Wie es kam, dass der Verein ohne seinen Trainer am Sonntag im Spiel gegen den führenden Club der Liga drei Punkte gemacht hat, soll ich nun herausfinden. Ich vermute, es wird eine lustige Story: Ohne Trainer spielt sich’s besser!
Ich verabschiede mich also von diesen sympathischen jungen Menschen, stibitze noch ein paar Weintrauben und mache mich auf den Weg zu neuen Herausforderungen.