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Donnerstag, 5. Mai

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Ich rufe Schorse an. Mein alter Freund Georg Martens ist Hauptkommissar bei der Lüneburger Kripo. Leider hat er keine Ahnung, was es mit den illegalen Abschüssen auf sich hat.

»Mensch Jens«, meint er lachend, »wenn wir von der Mordkommission uns auch noch um tote Viecher kümmern sollen, bräuchte ich zehn Schreibtische und täglich zwanzig Stunden Arbeitszeit! Nee, das machen die Kollegen. Ich kümmere mich um die tote Großmutter, aber nicht um den bösen Wolf – es sei denn, der hat sie gefressen.«

Schorse kichert ins Telefon.

Wer jemals in seinem Büro war, kann sich die Sache mit den Schreibtischen sofort bildhaft vorstellen. Seinen sieht man vor lauter Akten, Kartons und Papierstapeln schon nicht mehr. Auch wenn man es der lieblichen Lüneburger Heide nicht zutraut: Die zu überprüfenden Todesfälle in dieser Region sind überaus zahlreich. Bei fast dauerhafter Unterbesetzung der Kripo hat es Schorse manchmal schwer. Er hat sogar schon überlegt zu wechseln und schimpft vor allem auf die Politik, von der sich die Polizei oft im Stich gelassen fühlt.

»Kannst du mir denn einen Kontakt machen?«

»Klar. Ich spreche mit den Kollegen, kriege heraus, wer den Fall bearbeitet und melde mich. Okay?«

»Danke! Wir sollten mal wieder ein Bierchen trinken.«

»Oh Jens, das ist Musik in meinen Ohren!«

Etwa eine halbe Stunde später ruft mich eine Kollegin von Schorse an und gibt mir Namen und Durchwahl des Beamten, der die Sache mit den Wölfen bearbeitet. Ich rufe an. Der Beamte, ein Oberkommissar Hansen, ist nicht anwesend. Ich kann jedoch einen Termin für heute Nachmittag machen.

Gut, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, denke ich. Der Wonnemonat Mai präsentiert sich in den letzten Tagen, und besonders heute, gänzlich anti-wonnig. Ein Sturmtief aus Südwesten zieht über die Heide. Stark- und Dauerregen wechseln sich ab. Die Sonne versucht zwischendurch zwar zögernd, ein paar Strahlen auf die Erde zu schicken, die Löcher zwischen den Wolkenbergen zeigen in solchen Momenten auch blauen Himmel und versprechen Licht und Lebensfreude – es bleiben jedoch leere Versprechen.

Seit ich in Himmelstal wohne, habe ich das häusliche Arbeitszimmer von Oliver übernommen, Marens verstorbenem Ehemann. Es liegt mit dem Fenster nach Westen im Keller. Es ist schon ein bisschen komisch, in die Fußstapfen des ehemaligen Besitzers dieses gemütlichen und gut ausgestatteten Büros zu treten. Selbst einige seiner Bücher stehen noch in Schränken und Regalen. Maren hat ihren Mann geliebt. Es ist ihr Haus und ihr Keller, nicht meiner. Manchmal komme ich mir vor wie ein Kuckuck. Ich setze mich ins gemachte, fremde Nest. Maren tut ihr Bestes, mir bei der Aneignung dieses neuen Lebensraumes zu helfen. Doch auch im dritten Jahr fühle ich mich immer wieder etwas fremd und komme mir vor wie ein Schnorrer. Obwohl ich natürlich kräftig mithelfe, mein Reportergehalt einsetze und in Haus und Garten anpacke.

Für einen Moment reißt die Wolkendecke auf. Als könnte mich das flüchtige Blau des Himmels motivieren, nehme ich mir unsere To-Do-Liste vor.

Elske will mit den Interviews einiger Politiker beginnen und Kandidaten der SPD, CDU und der Grünen befragen. Sie wohnt in der Kreisstadt und wird die Vertreter dieser Parteien in ihren Büros besuchen. Die schwierigeren Bewerber um die Macht im Staate wollen wir uns dann zusammen vornehmen. Allemal den Spitzenkandidaten der DZP, der rechts außen für immer mehr Furore sorgenden Deutschen Zukunfts-Partei. Liest man das Parteiprogramm und hört man die Reden der meist männlichen Vertreter der DZP, weiß man, was sie am liebsten wollen: Zurück in die Zukunft eines vierten Reiches.

Besonders spannend oder bedrohlich, je nach Einstellung: Der Spitzenkandidat der DZP rechnet sich Chancen aus, in den Landtag zu kommen und dort sogar in eine regierende Koalition einzusteigen. Der Mann heißt Konstantin von Bering. Er ist erst 38 Jahre alt, sieht gut aus, ist klug und als charmanter Redner besonders bei den Frauen beliebt. Seine Familie lebt ganz in der Nähe unseres Dorfes auf einem großen Gutshof. Elske macht den Termin. Ich bin sehr gespannt, diesen politischen Senkrechtstarter kennenzulernen.

Ich habe es übernommen, einige Interviews wegen Himmelfahrt zu führen. Es wird ähnlich laufen wie ich es bei den anderen Feiertagen gemacht habe: Ein Fachgespräch mit unserem Pastor, Befragungen von jungen Leuten im christlichen Tagungshaus und von Gemeindegliedern. Natürlich wird es auch um den »Vatertag« gehen, um Bollerwagen, Saufen und Flugschau. Ansprechpartner dafür finde ich mehr als genug – und wenn mir doch noch jemand fehlt, interviewe ich meinen Kollegen Steini als Bollerwagenexperten.

Beginnen werde ich allerdings mit der Wolfsthematik. Da »brennt es« gewissermaßen.

Noch heute Morgen beim Bäcker war ich Zeuge einer Auseinandersetzung wegen einer Meldung im Radio. »Sie haben schon wieder einen Wolf geschossen!« meinte Axel, unser Sportwart. »Die sollte man umgehend einbuchten!« Jan, ein mir recht unsympathischer Feuerwehrkamerad, konterte: »Nee, denen sollte man einen Orden verleihen! Die sehen den Wolf und knallen ihn ab. So muss es sein. Der Wolf gehört hier nicht her!« Die brünette Bedienung schüttelte mit den Kopf. »Jan, was redest du da? Du kannst doch nicht alles abknallen, was hier nicht hergehört!« »Wieso denn nicht? Wenigstens vergrämen oder wie sie das nennen, ist doch angesagt. Das gilt für Flüchtlinge aus dem Süden genauso wie für Wölfe aus dem Osten.« »Du solltest dich bei Konstantin und seiner DZP bewerben, Jan. Kannst ihm den Koffer tragen und die Drecksarbeit machen.«

Wie das Gespräch ausging, habe ich nicht mehr mitgekriegt. Es begann, als ich schon an der Kasse stand und den Laden gerade verlassen wollte. Im Nachhinein war es falsch, dass ich ohne ein Wort gegangen bin. Sonst mische ich mich gerne ein – allemal, wenn es um derartige Themen geht. Das Thema »Wölfe« polarisiert zumindest hier in der Region jedenfalls genauso wie das Thema »Flüchtlinge«. Ich finde, es wird sogar noch kontroverser und aggressiver diskutiert. Flüchtlinge gibt es seit der Welle 2015 kaum bei uns auf den Dörfern. Wölfe umso mehr.

Die Fronten sind klar. Tierschützer, darunter auffällig viele Hundeliebhaber, freuen sich über die Rückkehr der Wölfe und wollen sie um jeden Preis schützen. Schafzüchter und andere Weidetierhalter verlieren durch Wölfe viele ihrer Tiere und haben durch Schutzmaßnahmen extrem hohe Kosten. Sie wollen die Wölfe loswerden. Auch ohne Interviews der verschiedenen Gruppen kenne ich inzwischen die Argumente. Einen Mittelweg lehnen viele kategorisch ab. Danach allerdings suchen die meisten Politiker und Bürger der Region. Mit Wölfen leben, deren Vermehrung jedoch kontrollieren und sie von Nutztieren und Menschen fernhalten – dass dies nicht gerade einfach ist, liegt auf der Hand. Inzwischen gibt es etwa 350 Wölfe in Niedersachsen. Das sind sieben bis acht auf tausend Quadratkilometer. In Kanada sind es nur sechs und in Russland nur ein einziger Wolf auf der gleichen Fläche.

Die Konflikte sind also vorprogrammiert und es wundert mich nicht, dass inzwischen bereits hunderte von Artikeln und Leserbriefen zu diesem Thema allein in unserer Kreiszeitung abgedruckt wurden.

Nun jedoch eskaliert die Sache: Wilderer dezimieren den Wolfsbestand, wie es aussieht, systematisch – oder sie setzen zumindest »Zeichen« für ihre Position. Die Gegenseite steht dem nicht nach. Militante Tierschützer fackeln Hochsitze ab und greifen Jäger an, wenn sie jemanden verdächtigen, die geschützten Wölfe zu schießen. Die Politik macht, was sie immer tut: Man redet, streitet und verhandelt.

Der strenge Schutz des Wolfes im Bundes- und EU-Recht macht den Umgang mit dem Raubtier besonders schwierig. Während sich bei uns in der Heide die Wölfe fröhlich vermehren und sich an den nur unzureichend geschützten Weidetierbüffets gütlich tun, spielt das Thema in der »großen Politik« kaum eine Rolle. Auf der »kleinen« politischen Bühne allerdings eskaliert der Streit vor Ort.

Ich recherchiere wie immer zunächst im Internet. Andere europäische Länder regulieren ihre Wolfspopulation. In Schweden werden 300, in Frankreich 500 erwachsene Tiere akzeptiert. Danach wird »entnommen«, also abgeschossen. Mir erscheint das logisch. Eine Zeit lang macht ein radikaler Schutz Sinn, dann nicht mehr. Es wird interessant, die Wahlkandidaten unserer Region zum Umgang mit dem Wolf zu befragen.

Für heute jedenfalls ist es genug.

Auf meinem Schreibtisch liegen diverse Zettel mit Stichworten und Zahlen zum Thema Wolf. Telefonisch treffe ich noch eine Verabredung mit einem Schäfer, der auch Gründungsmitglied von »wolfsfreie Dörfer« ist. Zu dieser als Verein organisierten Initiative gehören vor allem Weidetierhalter, aber auch Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten und Touristiker, die Angst haben, dass Gäste und Urlauber ausbleiben, weil sie sich nicht mehr in die Wälder trauen.

Jedenfalls gehe ich vorbereitet in die Gespräche und weiteren Recherchen.

*

Mein treuer Golf IV schnurrt über die Landstraße. Auch heute Nachmittag wütet das Sturmtief. Schauer und Wolkenlücken wechseln sich ab. Irgendwie hat das was. Die regennasse Asphaltdecke dampft unter plötzlich kräftigen Sonnenstrahlen. Kurz darauf prallen dicke Regentropfen auf den schwarzen Belag. Bevor sie sich in die abwärts fließenden Wasserströme einfügen, hüpfen sie noch einmal in die Höhe. Ich muss kurzzeitig langsamer fahren, um Aquaplaning zu vermeiden.

Rechts und links liegen Felder, weiter hinten Wald. Die Kartoffeln sind gepflanzt. In manchen der Furchen fließt das Wasser in kleinen, immer reißender werdenden Strömen gen Senke. Es ist hügelig. Manche Felder präsentieren sich in sattem Grün, andere sind noch braun, doch frisch gepflügt und gedrillt. Am Wegrand blühen Schlehen und Felsenbirne. Birken, Buchen, Erlen und andere Bäume und Büsche tragen helles Grün. Schwarz recken alte Eichen ihr noch winterliches Geäst in den Himmel. Das große zusammenhängende Waldgebiet im Hintergrund und jene Region, durch die jetzt fahre, heißt »Süsing«. Irgendwo dort hat man die erschossenen Wölfe gefunden. Ich durchfahre den kleinen Nachbarort und komme an den mit Maibäumen dekorierten Gebäuden eines beliebten Bekleidungs- und Schuhladens vorbei. Kurz darauf tauche ich ins Waldgebiet ein. Zu Beginn erinnert mich die Landschaft an den Schwarzwald: Hohe Nadelbäume, Hügel und Abbrüche, die man fast als Schluchten bezeichnen kann. Bis auf 110 m erheben sich hier eiszeitliche Verschiebungen. Später bleibt es hügelig, wirkt jedoch weniger schroff. Nadel- und Mischwald wechseln. Gelegentlich gibt es Weiden oder Äcker. Außer einer kleinen Straße nach rechts geht es über zwölf Kilometer geradeaus, immer durch Wald. Der Sturm ist hier weniger zu spüren. Allerdings liegen immer wieder kleinere Äste auf der Straße, teils mit frischen Blättern.

Nach knapp dreißig Minuten passiere ich das Zentrum von Lüneburg mit der St. Johanniskirche. Nördlich davon liegt das große Verwaltungsgebäude der Stadt, in dem auch die Polizei untergebracht ist. Ich frage mich durch. Schorses Büro würde ich inzwischen finden, das von Inspektor Hansen liegt in einem anderen Stockwerk. Irgendwo lese ich »Dezernat Einbruch, Diebstahl und Sachbeschädigung«. Vielleicht zählen auch Wölfe juristisch immer noch zu den Sachen und ein Abschuss fällt unter Sachbeschädigung. Mit fünf Minuten Verspätung klopfe ich an die Tür mit Hansens Namensschild.

»Herein.«

Das Büro vor mir ähnelt dem von Schorse. Der Ausblick auf die hohen Bäume am Flüsschen Ilmenau ist ähnlich. An den kräftig bewegten Trauerweiden und hin und her wankenden großen Buchen sieht man deutlich, wie die Sturmböen den Bäumen zusetzen. Anders sind Stil und Ordnung des Büros. Es ist aufgeräumt, wirkt strukturiert und organisiert. Auf dem Schreibtisch aus Nussbaum liegen neben einem Flachbildschirm und einer Tastatur nur drei oder vier Aktendeckel, zwei Stifte und eine FFP-Maske.

Der Inspektor begrüßt mich mit Handschlag. Er sehnt sich, wie die meisten von uns, offensichtlich zurück zu Zeiten von »vor Corona«. Ich weiß, das klingt seltsam, fast wie »vor Christus«.

»Kommen Sie herein«, meint der gemütlich wirkende Mittsechziger und platziert seinen zwar nicht dicken, aber gut genährten Körper in den gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er trägt ein helles Hemd unter einer braunen Strickjacke. »Sie können die Maske auch gerne abnehmen. Ich bin geimpft und bei Ihnen vermute ich das auch.«

Da hat er recht. Im letzten Jahr wurden alle, die es wollten, geimpft. Polizisten und auch Journalisten waren sogar schon recht früh dran. Im Sommer hat man dann das Virus halbwegs unter Kontrolle bekommen. Trotzdem werden Masken noch empfohlen und sind in manchen Bereichen weiterhin Vorschrift. Ich bin jedoch froh, dass ich meine jetzt wegstecken kann. Begegnungen Gesicht zu Gesicht sind mir wesentlich lieber als lediglich Hi in Auge.

Inspektor Hansen schenkt mir, ohne zu fragen, ein Glas Mineralwasser ein. Er wirkt auf mich sofort wie ein ehrlicher Beamter, der viel Erfahrung hat, aber sich selbst als Auslaufmodel einordnet. Neugierig schaut er mich an.

»Sorry«, meint er, »unser Kaffeeautomat streikt. Ich hoffe, ein Wasser tut es auch.«

Brav wie ich bin, bedanke ich mich.

»Was führt Sie zu mir? Mich wundert, dass nun auch unser Nachbarkreis an den Wölfen Interesse findet.«

»Immerhin wurden sie auf dem Gebiet unseres Landkreises gefunden und erschossen – oder?«

»Ja, stimmt schon. Aber wir haben den Fall übernommen, weil die ersten Meldungen hier eingingen und die Kollegen bei euch keine Kapazitäten frei hatten.« Er grinst, ohne überheblich zu wirken. »Verkehrsüberwachung, Vandalismus und Ordnungsdelikte scheinen alle ihre Kräfte zu binden.«

»Und Sie bearbeiten die Tötungen aller vier Wölfe?«

»Richtig. Ich bin für Wilderei genauso zuständig wie für Vergehen gegen den Naturschutz, also ist es mein Fall.«

»Ich habe gelesen, dass alle vier Wölfe mit derselben Waffe erschossen wurden. Stimmt das?«

Hansen lehnt sich zurück und nickt.

»Das stimmt. Welche Waffe genau benutzt wurde, wissen wir allerdings noch nicht. Es war ein Jagdgewehr mit Kaliber 9,3x62, ein Kaliber, das viele Modelle benutzen, aber es war immer dieselbe Waffe.«

»Also haben Sie die Kugeln untersucht?«

»Klar. Die Hülsen haben wir leider nicht gefunden. Der Schütze muss sie mitgenommen haben. Er ist jedenfalls clever. Auch andere Spuren gab es keine.«

Oder ihr habt sie nicht gefunden, denke ich.

»Hat er die Wölfe dann irgendwie angerührt, sich Trophäen abgeschnitten oder so etwas?«

Mein Gegenüber lacht.

»Sie sehen zu viel fern! Nein, hat er nicht. Die Tiere waren intakt, wenn auch teilweise bereits von Nagern, Vögeln oder Wildschweinen angefressen.« Sein Lachen ist sympathisch. »So ist das in der Natur. Fressen und gefressen werden! Der Stärkere siegt. Da dürfen auch die Wölfe für sich keine Ausnahme beanspruchen!«

»Allerdings war hier nicht der Wolf, sondern der Mensch der Stärkere!«

Wieder schmunzelt der Inspektor.

»Möglicherweise steckt in jedem von uns ja auch ein Wolf.«

»Haben Sie rekonstruieren können, von wo aus geschossen wurde?«

»Das war schwierig. In nur zwei von den vier Fällen haben wir es herausgekriegt. Der Jäger, äh der Wilderer, hat dort einen Hochsitz benutzt.«

»Er kannte also die Wege der Wölfe. Es war ein Jäger?«

»Guter Gedanke. Den hatten wir auch schon. Zumal in unserem Land nur Jäger ein geeignetes Gewehr führen dürfen.«

Das bezweifle ich und widerspreche deshalb.

»Wirklich? Darf nicht jeder mit einem entsprechenden Waffenschein auch ein Gewehr besitzen? Also auch Sportschützen, Soldaten und... Polizisten?«

Hansen stutzt und fummelt an seiner Lesebrille herum.

»Sie denken echt mit. Stimmt. Trotzdem gehen wir davon aus, dass die Wilderer zugleich auch Jäger sind.«

»Und Jäger, die außerdem die Gegend kennen, also Jäger aus der Region. Dann müssten Sie diese doch befragt haben, oder?«

Der Inspektor lacht.

»Natürlich – schön wär’s! Es sind ja auch nur ein paar hundert Personen, die theoretisch in Frage kommen! Der Süsing und umliegende Waldgebiete sind riesig. Da gibt es Unmengen an Jagdrevieren. Teilweise handelt es sich um Staatsforst, teilweise um Privatbesitz. Wir haben die Wölfe an sehr verschiedenen Orten gefunden.«

Also wurden die Jäger nicht befragt.

»Wir? Die Polizei hat die Wölfe gefunden?«

»Nein, natürlich nicht. Zweimal haben Forstarbeiter, einmal ein Förster und einmal ein Wanderer die Tiere entdeckt.«

»Und die Kadaver lagen offen da? Oder haben die Wilderer versucht, sie zu verbergen? Oder sind die Wölfe angeschossen worden und irgendwo im Wald verendet?«

»Wo sie’s sagen. Nein, die toten Wölfe lagen alle offen da, zwei sogar mittig auf einem Weg. Herr Jahnke, wieder eine kluge Frage! Vielleicht sollten wir Sie als Profiler engagieren, wie in den amerikanischen Filmen...!«

Hansen lacht. Er hat ein echt gutmütiges Gemüt, für einen Polizisten allerdings vielleicht etwas zu schlicht gestrickt.

»Sie haben also keine Verdächtigen?«

Er setzt sich die Brille auf die knollige Nase und blättert in einer der Akten.

»Herr Jahnke, und wenn, dürfte ich Ihnen das doch nicht sagen! Aber nein. Wir haben keine Verdächtigen außer jenen, die für so etwas sowieso in Frage kommen.«

»Wen meinen Sie da?«

»Ist doch klar: Die Weidetierhalter und Aktivisten von ›Wolfsfreie Dörfer‹ und solchen Initiativen. Die wollen die Wölfe jedenfalls loswerden. Und das versteht man ja auch.«

Sein letzter Satz kommt sichtbar von Herzen.

Am Ende des Gesprächs zeigt mir der Inspektor auf einer Karte die Fundorte und diverse Fotos, die nicht in der Zeitung waren. Ich darf die Karten fotografieren.

Wir stehen schon und haben uns verabschiedet, da fällt mir noch eine Frage ein.

»Inspektor, wie kommt es eigentlich, dass die Lüneburger Presse so schnell informiert war? Hätte der Pressesprecher Ihrer Dienststelle die Sache wie üblich weitergegeben, hätten doch auch wir sofort davon erfahren. Hören Ihre Medien etwa den Polizeifunk ab?«

Mir scheint fast, mein Gegenüber errötet. Er druckst ein bisschen herum, bleibt aber der ehrliche, harmlose Polizist.

»Tja, da bitte ich um Entschuldigung. Als im Januar die Meldung vom ersten toten Wolf hereinkam, war mein Schwager zufällig zu Besuch. Er ist Ihr Kollege beim Lüneburger Kreisblatt.«

So etwas habe ich mir schon gedacht.

»P.K. Hinter diesem Kürzel steckt also Ihr Schwager?«

»Ja. Es ist mir peinlich. Aber er wollte dann auch bei den nächsten Wölfen immer alles als Erster wissen. Patrik Ka-linowski heißt er.«

Wir wissen beide, dass Hansen sich damit kurz vor Ende seiner Dienstzeit keinen guten Dienst erwiesen hat. Das sage ich ihm auch, nehme ihm jedoch die Angst, diese Indiskretion zu melden. Im Gegenzug verspricht er mir, sich bei weiteren Vorfällen zuerst bei mir zu melden. So ist das Mediengeschäft: Wer zuerst an die Infos kommt, vermarktet sie. Unsere Fragen bezüglich der schnellen Pressemeldungen sind also geklärt. Die »gute Vernetzung« der Lüneburger besteht in diesem Fall schlicht in verwandtschaftlichen Kontakten zwischen Presse und Polizei und ich kann mir den geplanten Besuch bei der Konkurrenz und dem eifrigen Kollegen Kalinowski ersparen.

Als ich gehe, bin ich im Bild:

Die Ermittlungen wurden vermutlich ohne besonderen Eifer durchgeführt. DNA und Obduktion der Wölfe wurden dem Wolfsberater und dem Labor in Berlin überlassen. Die Polizei hat die Berichte abgeheftet, sie aber vermutlich nicht ausgewertet. Von Inspektor Hansen habe ich den Eindruck, dass auch er die Wölfe in unseren Wäldern und Kulturlandschaften für fehl am Platz hält. Vielleicht hat ihn auch das in seinem Eifer ausgebremst, abgesehen von seiner sinkenden Vorruhestandsmotivation.

Der oder die Täter waren klug und haben Hinweise wie leere Patronenhülsen und andere Spuren beseitigt oder vermieden. Sie haben die Wölfe allerdings nicht nur erschossen, sondern auch präsentiert. Was bedeutet: Die Tiere sollten gefunden und damit sollte folglich ein Zeichen gesetzt werden. Welches, ist klar: Keine Wölfe in der Heide. Abschuss frei!

Im Januar fand man den ersten erschossenen Kadaver, einen älteren Rüden. Ende Februar folgte eine trächtige Fähe, direkt nach Ostern ein junger Rüde. Das letzte »Zeichen« war dann ein Jährling. Ihn fand man vorgestern, kurz vor dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes. Ob das von Bedeutung ist? Vielleicht geht es auch um ein Zeichen an die Politik.

*

Auch als ich zurückfahre, regnet und stürmt es noch. Ich konzentriere mich auf die nasse Straße. Immer wieder jedoch gleitet mein Blick zum Waldrand. Hier leben Wölfe. Unsere Wälder sind nicht mehr so harmlos und ungefährlich wie vor Jahren noch.

Etwa 130 Rudel der Raubtiere sind in Deutschland registriert, 30 davon leben allein in der Heide. Ich versuche, die Bäume mit Blicken zu durchdringen. Irgendwo dort drinnen...

Viele der Tiere wurden bereits Opfer im Straßenverkehr. Auf dieser Straße fährt Maren fast täglich zur Arbeit. Im Schichtdienst als Krankenschwester muss sie oft auch nachts hier durch. Ich bin froh, dass sie bisher weder einen Wolfs- noch einen anderen Wildunfall hatte.

Ich fahre jetzt lieber etwas langsamer.

Eine Frage der Macht

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