Читать книгу Das Montags-Manifest - Hermann Christen - Страница 7
KAISERMORD
ОглавлениеSeit einigen Minuten war niemand mehr gekommen. Mirko grinste. Es war erstaunlich, wie zeitig diese 'Revolutionäre' waren. Spießbürger durch und durch. Leute die unruhig auf den Stühlen rutschten, wenn der Disput um 22 Uhr nicht beendet war.
Von einer nahen Kirche hallte der Viertelstundenschlag herüber. Mirko rückte vom Stamm ab. Mitten in der Bewegung verharrte er und schüttelte missbilligend den Kopf.
Erschreckend, wie sehr der Mensch darauf konditioniert ist, sich nach den Rufen der Institutionen zu richten. Jahrzehnte, Jahrhunderte lange Gehirnwäsche war mittlerweile im Genom verankert.
Wer zuckte nicht zusammen, wenn eine Polizeisirene heulte? Wer fühlte nicht innere Rührung, wenn die eigene Nationalhymne zu Ehren des Siegers erschallte? Wer bedachte den Autofahrer, der das Rotsignal ignorierte nicht mit einem bürgerlich-strafenden Blick?
Die Institutionen brennen ihre Insignien mit schweren, glühenden Eisen in unsere Köpfe, dachte Mirko, und es ist schwer, sich davon zu befreien. Nicht mit ihm! Er wartete noch einige Minuten. Nicht die Kirchenglocke, er selber bestimmte den Zeitpunkt.
Bevor er das schützende Dunkel seines Versteckes verließ, prüfte er mit schnellen Blicken die Sackgasse. Der schlecht beleuchtete Weg war frei. Er hatte keine Eile und überschlug, während er hinüber schlenderte, sein Vorhaben nochmals im Kopf.
Seine ursprüngliche Idee, die Gruppe mit gezielter Polemik und verwegenen Vorschlägen aufzumischen, hatte sich gewandelt. Jetzt wollte er am Stuhl von Fred sägen und das geschwächte Stuhlbein mit einem gezielten Tritt selbst zertrümmern.
Fred nervte seit dem ersten Abend. Seine Unfähigkeit, den Laden zu führen statt nur zu managen war noch verzeihlich. Bürokratisches Managen war Mode und fand Rückhalt und Auftrieb durch den verschworenen Druidenkreis des weltweiten Topmanagements. Krankhafte Management-Methoden, die an teuren Wochenend-Management-Workshops vertieft und verfeinert und via die Universitäten in die Köpfe des Nachwuchses geprügelt wurden. Kein Grund, sich darüber zu echauffieren. Das würde sich wieder geben. Das Zeitalter der Erbsenzähler und Technokraten würde verschwinden, wie all die anderen Modelle, die der Mensch schon ausprobiert hatte.
Es war auch nicht der Führungsstil, der Fred in Mirkos Schussfeld brachte. Fred machte auf Obermacker. Seine zur Schau getragene Ernsthaftigkeit, wenn er mit gerunzelter Stirn zuhörte und anerkennend nickte, vermittelte den Leuten den Eindruck, dass er sie für voll nahm.
Diese Art erinnerte Mirko an die Sozialarbeiterin, die ihn betreut hatte. Damals befand das Jungendamt, dass er professionelle Unterstützung brauchte, weil er in der Schule durch Gewalt an Mitschülern auffiel. Die Säcke hatten es verdient - einer wie der andere. Was konnte er dafür, dass seine Mutter soff? Das hatte er ihnen auf seine Weise klar gemacht. Dafür hatte er anschließend die Sozialarbeiterin am Hals.
Ihr künstliches, erleichtertes Lachen, wenn er in ihrem Sinne redete, klang ihm noch heute störend in den Ohren. Ihre Schulterklopfer, wenn sie ihn gütig lobte: 'guter Junge, du bist auf dem richtigem Weg'. Ihrem Weg. Ihre zurechtweisende Mimik und das fahrig-entsetzte Zurückstreichen der Haarsträhnen hinter die Ohren, wenn er sich nicht in ihrem Sinne benahm. Das würdevolle, verantwortungstriefende Zureden 'guter Junge, DAS ist nicht GUT…", mit dem sie ihn zurück in die Spur zwang. Zwingen wollte.
Er hasste diese aufdringliche Zugewandtheit, die in Wahrheit nur Fassade war. Dahinter verbarg sich ein ichbezogener, beifallsheischender Charakter. Für sie war er nur eine Akte, die unbedingt mit Erfolg abgeschlossen werden musste. Hätte es seinem Vater nicht geschadet, er hätte ihr bei jedem Meeting die Zähne ausgeschlagen.
Leute wie sie und Fred in Führungspositionen sind ärgerlich aber unschädlich, solange ihre Untergebenen an ihnen vorbei agieren. Und selbst Freds schwer zu ertragende Schönschwatzerei, die Mirko eher erheiterte als störte, war verzeihlich. Der Soll-Ist Vergleich von Freds großmündigen Ankündigungen waren genialer Stoff für abendfüllende Satireprogramme. Fred konnte ohne Erröten oder Anstieg der Atemfrequenz von 'betont präzisen Akzenten' sprechen, wenn er berichtete, wie eine Aktionsgruppe des Montags-Manifestes auf der Rückwand eines abgelegenen Schuppens ein verschüchtert kleines Plakätchen mit dem Text 'NIEDER MIT DEN WIRTSCHAFTS-POPULISTEN' auftackerte und sich danach wie ein Hühnerdieb schleunigst aus dem Staub machte. Generell erreichte jede Aktion des Montags-Manifestes maximal das Niveau eines harmlosen Lausbubenstreiches.
Das alles nervte, doch der wahre Grund für Mikros Absicht lag wo anders.
Freds elementarster Fehler war, dass er sich nicht nur als Anführer aufspielte, sondern darauf bestand, dass ihm dafür ein gerüttelt Maß an Wertschätzung gebühre. Er wurde nie müde, diese Wertschätzung mehr oder weniger offensichtlich einzufordern. Der ganze Montags-Disput war darauf ausgelegt, den Zuhörern die Möglichkeit zu bieten, Fred zu huldigen.
Mirko kannte Kerle, die Bezeichnung 'Anführer' verdienten. Leute, welche Ordnung durch setzten und die anderen klarmachten, wo ihre Positionen waren. Aufrechte Burschen, die Gewalt und Bestrafung als bewährte Mittel einsetzten, um eine Gruppe straff zu führen und auf Vordermann zu bringen.
Fred fehlten sämtliche Attribute, die einen Anführer auszeichneten. Fred schwor auf Kooperation und Konsens. Fred huldigte dem Intellekt und der Kraft des Wortes. Fred baute darauf, dass sich die Gruppe an die Regeln, seine Regeln, hielt und tadelte nachsichtig höchstens hie und da ein bisschen. Dass er sich so lange gehalten hatte und unantastbar schien, war nicht sein Verdienst. Es lag an den Weicheiern, die er um sich raffte. Vielleicht war das seine einzige herausragende Fähigkeit. Sein unheimliches Gespür für devote Versager. Zielgenau holte er sich Kopfnicker und Spontanklatscher ins Manifest und sorgte dafür, dass diejenigen mit Willen für Veränderungen klar in der Unterzahl blieben.
Mirko zuckte mit den Schultern: so machte man heute Demokratie.
Traf Fred auf Widerspruch und kam er mit seinen verschlagworteten Argumenten nicht weiter, mutierte er zu einem enervierenden Paragrafenreiter. Er nahm den Umweg über die 'bewährten Regeln und Umgangsformen des Montags-Manifestes', um die Person, die nicht in seinem Sinne performte, bloß zu stellen und brachte den Aufrührer dazu, die Klappe zu halten.
Fred mochte keine Widerrede. Widerrede war hemmend. Fred erwartete von den Disputanten Stellungsnahmen, die seine eigenen Aussagen befürwortend akzentuierten und ihnen ehrfürchtig applaudierten.
Ein Anführer, so Mirkos Überzeugung, hörte auf seine Leute, wog ab und entschied. Seine Leute nicht an zu hören zeugte von Dummheit, Ignoranz und herrischer Eingebildetheit. Es war Zeit, Fred zu Fall zu bringen. Er hatte es nicht verdient, diese oder irgendeine andere Gruppe zu führen. Er hielt die Wenigen, die zu Taten bereit waren vom Handeln ab. Er war der Bremsklotz, der das konspirative Potential der Gruppe hemmte.
Heute würde er ihm die Maske vom Gesicht reißen. Den Leuten vor Augen führen, dass Fred nicht der Mann war, dem man folgen sollte. Die Früchte an Freds Baum des Versagens hingen tief und schrien danach, gepflückt zu werden.
Es würde gelingen, davon war Mirko überzeugt. Sein eigenes Image im Montags-Manifest war sorgfältig konstruiert, nachhaltig modelliert und gefestigt. Einige sahen in ihm den Heiland, der sich noch ziert, sich zu offenbaren. Andere sahen in ihm eine erfrischende Bereicherung gegen die angestaubten Rituale und beklatschten seine gescheiten Äußerungen. Wirkliche Gegner hatte er sich keine geschaffen.
Er hatte sich Zeit genommen, nichts überstürzt. Lebte sich in die Kommune ein, gab gescheite Kommentare bei den Colloquien ab, mimte Interesse bei den persönlichen Gesprächen. Er musterte diejenigen aus, die man unter stillem Beifall bloß stellen oder argumentativ mundtot machen konnte und setzte sein Wissen um. Er konnte zweimal als Ad-hoc Diskutant unter Beweis stellen, dass er voll auf der Linie der Gruppe war. Mit diesem Halt im Rücken brachte er sich vorsichtig als möglicher Zeitdiskutant ins Gespräch. Vor drei Wochen wurde er gewählt. Er wusste, dass viele der Zuhörer an seinen Lippen hängen würden.
Es verspürte eine elektrisierende Aufregung, als er die Hand an den Türgriff legte. Gerne hätte er sich eine Zigarette angesteckt, doch hier er machte auf ehemaliger Raucher. Willensstärke demonstrieren. Ehemalige Raucher besaßen den anerkennenden Neid der Raucher und die wohlwollende Unterstützung der militanten Nichtraucher. Der Kampf Raucher gegen Nichtraucher war auch hier Thema. Die Nichtraucher waren in der Überzahl und die Raucher verteidigten ihre Bastion mit exzessivem Kettenrauchen.
Vor zwei Wochen mischte er sich in einen lautstarken Streit zwischen Gerda und Max, einem grün-alternativen Lackel der Wirtschaft studiert hatte, ein. Wirtschaft und Ökologie ist wie Teufel und Weihwasser. Wirtschaftswachstum geht immer zu Lasten der Ökologie. Ökologie bedeutet Balance, aber Eingriffe des Menschen durch Rohstoffförderung zerstörten jedes Gleichgewicht. Jeder, der etwas anderes erzählte war ein ignoranter Lügner oder hatte an einer Management Hochschule promoviert.
Anrüchig amüsant fand Mirko, das Leute wie Max gegen die Dogmen der katholischen Kirche aufbegehrten, diese als veraltet, engstirnig und freiheitsberaubend verurteilten und zeitgleich die neuen Dogmen der Wirtschaftslehre ehrfurchtsvoll rezitierten. Die Kirche hätte kein Imageproblem, wenn sie rechtzeitig von Latein auf Englisch umgeschwenkt hätte, mit Abkürzungen arbeiten würde und die Predigten mit Powerpoint visualisierte. Und das Nachwuchsproblem wäre gelöst, wenn statt Pfarrer neu Business Unit Manager ernannt würden.
Für seinen Plan brauchte er Max auf seiner Seite. Er belegte eine wichtige Rolle in Mirkos Plan. Er war für die Position des konsensorientierten Beruhigers mit Hang zur Unterstützung der stärksten Meinung vorgesehen. Diese Rolle war entscheidend, denn konsensorientierte Beruhiger verstärkten eine Bewegung, wenn sie Oberwasser hat. Vor zwei Wochen bot sich die Gelegenheit, Max für sich zu gewinnen.
"Blas mir den Rauch nicht dauernd ins Gesicht", maulte Max und wedelte demonstrativ mit einer Serviette.
"Ist ein freies Land", raunzte Gerda angefressen, "Wenn du bei einem Tabakkonzern arbeiten würdest wärst du der erste, der eine Tabakwerbekampagne losträte, wenn die Umsatzzahlen nicht mehr stimmten."
"Das berechtigt dich aber nicht dazu, mir den Rauch ins Gesicht zu pusten!"
Gerda grinste schief und blies noch mehr Rauch in seine Richtung.
"Jetzt reicht's aber! Du als Nichtraucher solltest mich unterstützen", wandte er sich an Mirko, der sich eben dazu gestellt hatte.
"Lass sie. Sucht ist Schwäche."
Max nickte schief grienend. Gerda wischte eine Franse aus dem Gesicht und stierte Mirko an: "Woher willst du das wissen?"
"Hab selber geraucht. Viel sogar. Nikotin ist ein Indiz für Willensschwäche. Habe darum aufgehört. Zack."
Gerda lachte auf: "Aus welchem Lungenliga-Prospekt hast du den Unsinn?"
"Wenn nicht, warum hörst du nicht auf?", nahm Max Mirkos Zuspiel auf, "Reine Willenssache. Es gibt keinen vernünftigen Grund, zu rauchen und permanent Leute, die gesund leben wollen, zu belästigen."
"Weil ich Spaß daran habe?"
"Leute zu belästigen?"
Sie steckte die Nächste an. Max konnte sie mal.
"Entweder bist du willensschwach oder ein Menschenhasser", beschwerte er sich und wedelte wieder mit der Serviette vor ihrem Gesicht herum.
"Nikotin ist darüber hinaus auch der Hinterausgang", fuhr Mirko ungerührt fort, "wenn jemand an intellektuelle Grenzen stößt."
"Da hörst du's."
Gerda wandte sich verärgert ab und ging. Mirko war ein schleimiger Idiot!
Mirko blickte ihr nach. Gewiss war sie jetzt sauer auf ihn. Er traute ihr jedoch zu, über persönlichen Vorbehalten zu stehen, wenn es um die Sache ging. Bei Max war er sich nicht sicher und musste darum im Vorfeld dessen Unterstützung sicherstellen.
Er war gespannt, wer heute als Ad Hoc Diskutant teilnehmen würde.
"Hoffentlich nicht Arthur."
Arthur war der Ursumpf aller unqualifizierten Aussagen. Arthur war das personifizierte Fettnäpfchen. Seine Methode war, jeder Meinung konsequent zu widersprechen. Er widersprach auch, wenn ihm wer Recht gab. Schnell erreichte seine Ausdrucksweise den Hassprediger-Level. Er wetterte pausenlos über die verlogene Politik und das gierige Topmanagement. Er trieb alle Gesprächspartner in die Flucht und beendete den Abend meist alleine in einer Ecke und trank sein schal gewordenes Bier. Sein Leistungsausweis war, dass er es als einziger der Gruppe in die Zeitung geschafft hatte. Wegen irgendeiner Bagatelle, die im Regionalteil nur erschien, weil an jenem Wochenende keine Viehschau stattfand und die Story des örtlichen Handauflegers, der ein Schamanentreffen in Honolulu besuchte, zu wenig hergab – selbst für den Regionalteil.
Mirko drückte die Tür auf.
Der Versammlungsraum lag in einer ausgeräumten Fabrikhalle im Osten der Stadt. Einst produzierten sie hier Uhrwerke, bis der Betrieb Konkurs ging. Der Ort triefte vor Sinnbildlichkeit: Versager richteten sich im Gerippe eines anderen Versagers am Ende einer Sackgasse ein. Er trat ein.
Die Geräusche aus dem Innern des Versammlungsraumen klangen gedämpft. Ein paar Stimmen, Stühle, die über den löchrigen Betonboden gezogen wurden, Räuspern und Husten. Irgendwer hustet immer, egal wo. Er hörte Fred rufen. Er betrat die niedrige Halle und das Halbdunkel umfing ihn. Zwei Spots beleuchteten die Bühne, wo sich die Diskutanten bereits eingefunden hatten. Zufrieden stellte Mirko fest, dass Arthur fehlte. Eigentlich war Arthur noch nie auf der Bühne, erinnerte er sich. Nicht aus zu schließen, dass Fred oder Max seinen Namen nicht in den Topf legten, aus dem die beiden AdHoc Diskutanten ermittelt wurden. Gerda drehte gelangweilt eine Zigarette, Max tuschelte mit Boxer. Heute waren Karl und Ray als AdHoc Diskutanten mit von der Partie.
Karl fühlte sich unwohl und nagte auf seinen Fingernägeln. Ray posierte vor Max und schwatzte gestenreich. Ray war ein Selbstdarsteller mit Minderwertigkeitskomplex. Bankangestellter der niedrigsten Kaste, Schalterdienst, zu Freundlichkeit verpflichtet. Besonders schwer für jemanden wie ihn, der grundsätzlich jedem mit abschätzigem Misstrauen begegnete. Leute wie ihn gab es viele. Leute, die mit der Diskrepanz zwischen Eigenwahrnehmung und Status im realen Leben nicht klar kamen. Ray war einer der Typen, die früher, wahrscheinlich zu Recht, auf dem Schulweg verprügelt wurden. Einer jener Typen, bei denen zu Hause das Care-Team der Schule schon fast festen Wohnsitz hatte.
Das Montags-Manifest war Rays Ventil.
Ray passte wunderbar in die Rolle des selbstinszenierenden Windbeutels. Er war frei von eigenen Meinungen. Selbstinszenierende Windbeutel haben ein untrügliches Gespür für die Stimmungslage bei kontroversen Diskussionen. Mit beängstigender Präzision witterten sie, wohin der Wind dreht und nahmen diesen Trend umgehend als ihre eigene, von ihnen schon immer vertretene Meinung auf. Gut möglich, dass Ray und Max sein Vorhaben in einer Art sich selbstverstärkenden, positiven Spirale ungewollt pushten.
Ray wies darüber hinaus noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Pluspunkt auf, den Mirko zu nutzen gedachte. Ray war sauer auf Fred, weil dieser vor einem Jahr Max als neuen Gewählten unterstützte. Rays Ansicht war, dass er schon länger beim Montagsdisput dabei war und deshalb Max' Wahl 'unanständig, hinterhältig und verwerflich' war.
Ray war ein fantasieloser Technokrat, für den hinter der Welt der zahlenbasierten Fakten nur Abgrund und tiefschwarze Leere existierte.
Mirko war zufrieden der Zusammensetzung des Disputes. Karl würde nichts sagen. Ray war leicht zu steuern. Hätte er die Wahl manipulieren können, wäre sie in etwa so herausgekommen. Was hier oben zusammensaß war wie ein gegen Fred gepfiffener Elfmeter.
Es hätte schlimmer kommen können. Claude zum Beispiel, ein soziophober Nerd, der immer Pommelmütze trug. Mirko schauderte bei der Vorstellung an die mannigfaltigen Bakterienstämme, die sich in den verstaubten, verfilzten Fasern der Mütze eine Heimat aufgebaut hatten. Endete Rays Welt bei den Zahlen, so gab es bei Claude keine Wirklichkeit diesseits des Bildschirmes. Er behauptete sämtliche Probleme dieser Welt wären gelöst, wenn erst das Internet gründlich gehackt und unterwandert sei. Er verortete sämtliche Konflikte damit, dass im Internet zu viel Überwachung und zu wenig Freiheit existierten. Er ignorierte standhaft, dass das Internet erst seit knapp zwei Dekaden existierte. Die Probleme der Gesellschaft bildeten sich jedoch in dem Augenblick, als sich zum ersten Mal drei Menschen zusammentaten, um etwas zu unternehmen. Claude hielt sich in den Diskussionen die anderen jeweils vom Leib, indem er zu laut und zu schnell sprach und andauernd mit den Armen um sich schlenkerte, als ob er damit seine Komfortzone verteidigen wollte. Dabei überschüttete er seine Zuhörer mit einem Wortschwall, der nahe an Water-Boarding herankam.
Ray war besser. Mit Ray würde er klar kommen.
Ray, eigentlich Raymund, bestätigte Mirkos Namenklatur. Raymunds, Marcs, Kais, Jörgs oder Daniels fallen nicht auf. Es gelingt ihnen nicht, gute Ausgangslagen zu nutzen und die Hierarchieleiter nach oben zu klettern. Es gelingt ihnen nicht, bemerkt zu werden. Sie verheddern sich zwischen dem, was sie sein könnten und dem, wozu sie sich nicht trauen. Die Raymunds dieser Welt waren an ihre Position gekettet. Wie das übergewichtige Kind, das auf der Rutsche ins Paradies stecken bleibt.
Von anderem Kaliber waren die Sebastiane, Balthasare oder Maximiliame. Verwurzelt mit der high society, vermögensgesteuerte Bübchen ohne Bezug zur Realität, aufgepäppelt in geschützter Umgebung, sich vom Neid der Minderklassigen nährend. Im tiefsten Inneren wussten sie, dass sie keinen Namen, sondern ein Mal trugen, einen strahlend hellen Stern mitten auf der Stirn. Ein Warnlicht für alle, sich gebührlich zu benehmen. Sebastiane, Balthasare oder Maximiliane lachte man nicht aus. Man förderte und bevorzugte sie über die Köpfe besser Qualifizierter, über die Köpfe der Raymunds, Marcs, Kais, Jörgs oder Daniels hinweg.
Sein Vertrauen hatten die Thomasse, Herberts oder Walters; Kollegen mit solchen Namen stammen aus dem gut-bürgerlichen, konservativen Sumpf, aus dem sie es nie heraus schaffen. Diese Leute betätigen sich freiwillig und halten den Laden der Gesellschaft in Schuss, werden Feuerwehrmann oder Sozialarbeiter. Herberte standen zu ihrem Wort und brillierten durch Zuverlässigkeit.
Jacos, Toms, Joes und Chris' bildeten die freien Elektronen der Masse. Sie waren überall gerne gesehen und akzeptiert. Schulterklopfende Biertrinker, die um den Grill stehen und Blondinenwitze erzählen. Ungetrübte Seelen, wo die Reflektion des letzten Fußballspieles wichtiger war, als alle Probleme der Welt. Ein Tom ohne Grill war wie ein Vogel ohne Flügel. Einen Jaco brauchte man nicht zu überreden, weil er gleich mitanpackte.
Es gab Ausnahmen, Mutationen, denen wahrscheinlich die Ozonbelastung in den Städten zugesetzt hatte. Ein Joe hatte Schwielen an den Händen. Der Josef hingegen war das dämonenhafte Joe-Zwitterwesen, welches furchteinflößend war. Ein Josef trägt einen streberischen Scheitel und spreizt seinen kleinen Finger beim Teetrinken ab.
Seltsamerweise funktionierte die Namenklatur bei Frauennamen nicht. Frauennamen waren entweder neutral oder eine Diagnose. Mirko verstand nicht, was ein zur Vernunft fähiges Wesen dazu trieb, sich 'Babsie' rufen zu lassen. Oder Chrisy. Oder Candy. Und sich anschließend darüber zu ärgern, dass sie nicht für voll genommen wurden.
Boxer gehörte in die Jaco-Tom-Joe Kategorie. Er mochte ihn.