Читать книгу Das Montags-Manifest - Hermann Christen - Страница 8
AUFTRITT
ОглавлениеMirko umfasste den Knauf des Stockes. Das leise 'tock, tock' war sein Herold, der ihn ankündigte. Köpfe schwenkten zum Eingang.
"Schön, dass du es geschafft hast", eine Sekunde schien Fred zu zögern, dann winkte er Mirko mit jovialer Geste auf die Bühne, "wir wollten eben mit der Reflektion beginnen."
Mirko winkte lässig zurück und ging weiter. Nicht zu langsam, das erweckt den Eindruck von unpässlicher Überlegenheit, nicht zu schnell, das erweckt den Eindruck von schlechtem Gewissen. Im Vorbeigehen checkte er die Stimmung der Zuhörer. Er war zufrieden. Da war genau die Portion reaktionärer Ungeduld, die leicht gezündelt werden konnte. Ungeduld, die Fred durch seine langatmigen Reden und seinem strukturierten Nichthandeln selber verursacht hatte. Viele realisierten, dass er ein Schwätzer mit ausgeprägtem Hang zur Untätigkeit war. Die Geduld der Leute war ausgeschöpft. Selbst Gerda ließ vor zwei Wochen nach dem Colloquium die Bemerkung fallen, dass mal die Zusammensetzung der Diskutanten thematisiert werden sollte. Wenn Fred seine endlosen Reden schwang und ausufernd über menschenverachtende Regierung schimpfte, scharrten die Zuhörer unruhig mit den Füssen, seufzten und verdrehten die Augen.
Fred würde dasselbe erstarrte Prozedere abziehen wie immer, gelangweilte Mienen ignorieren und penibel darauf achten eine gute Figur ab zu geben. Die 'Reflektion' bildete den Auftakt. Beweihräucherung von Nicht-Aktionen, wie Mirko sie insgeheim nannte. Diese Bemerkung bestand den Belastungstest im Feld, als er sie kürzlich nach dem Disput fallen ließ, um die Wirkung zu testen. Es gefiel ihm, dass niemand widersprach und Gerda hinter dem aufsteigenden Rauch ihrer Zigarette leicht nickte. Interessant war, dass viele im Montags-Manifest die geschlungenen Schals nach Freds Vorbild abgelegt hatten. Das Nerv tötende Drumherumgerede, welches Fred und Max Woche für Woche zelebrierten, hatte die Leute mürbe gemacht.
Nach der Reflektion würde Fred das Thema des Abends, manchmal die Ausarbeitung seiner Sandkastenspiele, manchmal den Vorschlag für die nächste Aktion, vorgeben. Nur die ständigen Mitglieder waren im Voraus informiert, was Thema war. Diesen Vorsprung spielte Fred mit Genuss aus, weil er sich mit Argumenten bewaffnen, Gegenargumente durchdenken und diese anschließend auf der Bühne zerfetzte konnte. Das war Freds Methode, seinen Status als Führer zu zementieren.
Doch heute würde es nicht soweit kommen. Heute sollte Freds trügerische Fassade bereits während des Disputes vom Gesicht geätzt werden.
Gerda steckte die Selbstgedrehte an. Durch den aufsteigenden Rauch, der im grellen Licht des Spots aufglühte, schielte sie zum Eingang. Tock – tock: Mirko war im Anmarsch. Mirko war wie diese Rauchschwaden: unfassbar, undurchschaubar, flüchtig. Sie war sich sicher, dass er der Schatten, den sie draußen unter dem großen Baum erahnt hatte, gewesen war. Sie beobachtete ihn seit Längerem, erkannte, wie er sich überall anbändelte. Er brachte Schwung in die paralysierend hölzernen Gespräche hinein. Mit präzis platzierten Provokationen verstand er es, eine Diskussion in eine neue Richtung zu lenken. Die Meinungsmacher griff er nie frontal an, sondern sammelte deren Zustimmung wie andere Leute Rabattmarken. Er verfolgte ein Ziel, das er mit dem voll geklebten Rabattmarkenheft einlösen wollte. Sie ahnte welches.
Anfangs glaubte sie, er sei einer von denen, die zwei, drei Mal am Montag-Manifest teilnahmen, mehr oder weniger kräftig auf den Putz hauten und wie Sommernebel gleich wieder spurlos verschwanden. Doch er blieb. Er vermittelte nicht den Anschein hier Karriere machen oder die Gemeinde umkrempeln zu wollen. Doch wenn sie genau hin sah, tat er genau dieses. Umsichtig, Schritt für Schritt. Wie ein kleines Raubtier, das zögerlich um die große, erschöpfte Beute schlich, ahnend, dass diese noch Kraft hatte, ihm zu schaden. Sie bewahrte Distanz zu ihm, verzichtete auf die kollegiale Nähe und Vertrautheit, die sie sonst mit allen pflegte. Sie ging auf Distanz, um ihn besser beobachten zu können. Insgeheim bewunderte sie sein geduldiges Vorgehen, die Treffsicherheit, wie er die wichtigen Leute identifizierte und für sich gewann ohne dass diese seine Schachzüge bemerkten. Es amüsierte sie, dass er die Menschen katalogisierte und sorgfältig in sauber beschriftete Schubladen ablegte. Schubladen, die für bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen standen.
Sie erkannte, wie er innerlich bebte, wenn er sich mit Dummschwätzern und Warmluftgebläsen herumschlagen musste. Boxer und ähnlichen Leuten hingegen brachte er uneingeschränktes Vertrauen entgegen.
Ganz anders Fred. Er redete und agierte immer schwammiger. Hinter der großartigen Fassade, den wohlformulierten Worten und Argumenten lag ein Nichts, das sogar dem Weltall gräulichen Schrecken einjagte. Großmäulige Pläne die nie umgesetzt wurden. Und seit einiger Zeit repetierte er sich selber, als ob sein Arsenal an Schlagwörtern und Worthülsen erschöpft sei.
Sie vermutete, dass er Mirkos Ziel war. Nicht mal darum, weil er auf diesen Job aus war. Es schien eher eine Art Spiel für ihn. Sie unternahm nichts, warnte Fred nicht. Nicht nur, weil sie seit einiger Zeit nicht mehr zusammen waren, es war ihr Entscheid gewesen, sondern weil sie sehen wollte, ob Fred so stark war, wie er sich selber sah. Das Montags-Manifest würde in dieser Form ohnehin nicht mehr lange Bestand haben. Die Unruhe in der Gruppe wegen Freds Unverbindlichkeit ließ sich kaum noch verbergen.
Sie verhielt sich vorerst neutral. Immerhin ließ Fred sie gewähren, denn er hatte erkannt, dass sie den Kristallisationskeim der Gruppe bildete, dass sie eine Wortführerin war. Es war ihm wichtig, Gerda auf seiner Seite zu wissen und die anderen glauben zu lassen, dass sie ihn unterstützte.
Die Wandlung in der Gruppe war im vollen Gange. Mirko war nicht die Ursache, sondern nur der Katalysator. Fred war nicht mehr der unumstrittene Leader. Noch opponierte niemand öffentlich. Fred war der einzige der ganzen Gruppe, der nichts bemerkte oder es nichts bemerken wollte.
Mirko war zu clever, Fred direkt an zu greifen. Er machte Vorschläge, wie man noch effizienter Nadeln und Messer in den aufgedunsenen Leib der drögen Gesellschaft stecken konnte, damit diese sich endlich bewegte. 'Es ist wie Akupunktur', sagte er letzte Woche zum Schluss, 'wenn man weiß, wohin man die Nadeln stecken muss, dann gesundet der Körper…' Was für ein Schwachsinn! Aber sie hatte erkannt, dass Mirko die Herzen und das Interesse eines Großteiles der Gruppe auf seiner Seite hatte. Zur Zeit wenigstens.
Doch Fred hatte es nach wie vor selber in der Hand, die Sache wieder in den Griff zu kriegen. Viele in der Gruppe sahen in ihm nach wie vor den Leader, der gerade einen kleinen Durchhänger hatte aber bald wieder zur alten Größe auflaufen würde.
Gerda ahnte, dass Mirko heute dort anknüpfen würde, wo er geendet hatte. Sie war gespannt, was heute abgehen würde. Die Ausgangslage war interessant, denn sie hatte Fred überredet, heute eine Aktion zu präsentieren, die 'enormes Provokationspotential' barg und eine 'neue Epoche des Montags-Manifests einläuten' würde. Er hatte verstanden, dass die Gruppe nach all den kleinen Tätigkeiten erwartete, dass er die nächste Phase eingeläutete. 'Wir haben genug geübt und wissen, wie man auch was Größeres durchziehen kann', spornte sie ihn an. Schließlich ging Fred auf ihren Vorschlag ein.
Sie nickte Mirko gelangweilt zu, als er auf die kleine Bühne stieg und Fred lächelnd die Hand gab. Gerda meinte, die dreißig Silberlinge in seiner Tasche klimpern zu hören.
Fred posierte lässig auf seinem Stuhl und beobachtete Mirko, der sich katzenhaft der Bühne näherte. Er mochte ihn nicht aber hatte erkannt, dass Mirko Einfluss auf das Montags-Manifest ausübte. Dass er dabei nie gegen ihn opponierte, interpretierte er als Zustimmung. Mirko wusste offensichtlich, wer hier das Sagen hatte.
Er konnte ihn nicht einordnen. Wie eine Milchglasscheibe, die nicht erkennen lässt, was hinter ihr steckt. In Freds Plan für den heutigen Vorstoß spielte Mirko jedoch eine wichtige Rolle: hatte dieser nicht wiederholt durchblicken lassen, dass es Zeit sei, stärkere Zeichen zu setzen? Die Anliegen der Gruppe ins Bewusstsein der gelähmten Gesellschaft zu tragen? Sein Vorschlag, den er heute bekannt geben würde, zielte exakt in diese Richtung. Er spürte, dass dies der vorläufige Höhepunkt des Montags-Manifestes war. Mirko würde ihm folgen, würde ihm folgen müssen – wie die andern auch. Mirko würde sich in die Gefolgschaft einfügen und seinen Plan unterstützen.
Er hatte die Idee mit Gerda diskutiert und vorbesprochen. Beiden war klar, dass der Vorschlag einigen aus der Gruppe zu weit gehen würde.
"Scheiss drauf", meinte Gerda, "die, welche nicht wollen, haben im Montags-Manifest nichts verloren. Wir brauchen Leute mit Rückgrat. Um die anderen ist es nicht schade."
Widerwillig hatte er ihr zugestimmt: es konnte sein, dass die Gruppe dadurch zerfiel. Doch er fühlte selber, dass es notwendig war, einen Gang höher zu schalten, aus dem Schatten des Untergrundes und der Heimlichtuerei auf zu tauchen und sichtbar zu werden.
"Wollen wir Max einweihen?"
"Scheiss auf Max", fauchte Gerda, "der ist in der Lage und zerredet deine Idee, bevor du den Mund aufmachst. Er ist ein Technokrat und Bremsklotz. Lass es."
Fred willigte ein, Max außen vor zu lassen. Obwohl dies gegen die Regeln ging. Aber wie Gerda treffend formuliert hatte: 'scheiss drauf'!