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Kapitel 1: Ankunft
ОглавлениеRudolf lag auf dem Laub in seiner Fuchshöhle und gähnte den Schwermut des verregneten Sommertages weg.
Solche Wetterlagen waren die Gelegenheit für Großmütter und Großväter ihren wehrlosen Enkeln Gruselgeschichten oder, noch schlimmer, Geschichten aus der Vergangenheit, von damals, als alles noch viel, viel besser war, zu erzählen. Gnogörok, der Waldpsychologe, begrüßte das Genua-Tief jeweils überschwänglich. Die Wochen danach war die Praxis des alten Fasans bestens belegt, weil er Kindern die eingeredeten Ängste und Verhaltensauffälligkeiten wieder weg zu therapieren hatte.
Gnogörok verstand die Bohne was von Psychologie aber die anderen fanden, dass er aufgrund seiner Schwerhörigkeit bestens für diese Arbeit qualifiziert sei. Und die meisten Störungen brauchten zur Behebung oft nur ein bisschen gesunden Menschen- oder Tierverstand.
Rudolf war Lehrer der Waldschule und gab sich alle Mühe so klug zu wirken, wie die anderen es von ihm vermuteten. Er beobachtete die Schnecken, hörte das protestierende Gezwitscher eines Spatzes, wenn dieser ausfliegen musste, um Würmer für den Nachwuchs zu besorgen. Das gleichmäßige Rauschen des Regens und das Trommeln der Tropfen auf den Blättern machten schläfrig. Seine Lider wurden schwer und er rutschte in die seltsame Welt zwischen Wirklichkeit und Traum ab, in welcher alles möglich war.
Eben sah er sich als Retter der Weltordnung, weil er dem lernresistenten Tschoban das große Ein-mal-Eins nachhaltig beigebracht hatte, als er aufschreckte.
Ein lautes Geräusch störte jäh seinen Triumph. Ein seltsames Geräusch. Noch seltsamer als die Geräusche, die Vater und Mutter Dachs machten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Mit aufgerichteten Ohren lauschte er.
"War wohl Einbildung", beruhigte er sich und legte den Kopf zurück auf die Pfoten.
Da, schon wieder! Er schnellte hoch.
Das Geräusch erinnerte ihn an eine Sache im Menschen-Dorf, die er bei einem seiner Streifzüge, den menschenkundlichen Feldstudien, wie er das nannte, mitbekommen hatte. Das war, als der Zahnarzt im Ort einen gesunden statt den kranken Backenzahn zog. Später hörte er zufällig, dass der Zahnarzt darauf spezialisiert sei, gesunde Zähne zu ziehen. Man munkelte, dass er eine unheimliche, nicht durchschaubare Vergangenheit habe. Es ging das Gerücht er sei Verhörspezialist beim Geheimdienst gewesen. So geriet jedes Mal unter Verdacht wenn Haustiere verschwanden. Dann unterstellte man ihm, dass er an diesen Objekten übe, um die mühsam erworbenen Fertigkeiten als Folterknecht zu bewahren. Rudolf wusste es besser: die Haustiere verschwanden, weil die Fleischfresser sich am Überangebot von Katzen, Ratten und Freiland-Hühnern bedienten. Selbst die Vegetarier im Wald wussten das und veranstalteten jeden Vollmond eine Prozession zum Gedenken an diese 'Märtyrer des Heiligen Paktes'. Rudolf schüttelte den Kopf. Es war schwierig zu entscheiden, wer nun verrückter war: Vegetarier oder Menschen. Er kannte beide Spezies bestens. Auf seinen Expeditionen bekam Rudolf eine ganze Menge von dem mit, was im Dorf so vor sich ging. Menschen glaubten offenbar, dass man in der Nacht nicht nur nichts sah, sondern auch nichts hörte. Es war leicht Dinge in Erfahrung zu bringen, mit denen jeder durchschnittlich begabte Erpresser ein Vermögen gemacht hätte.
Er legte sich wieder hin.
'Menschen sind seltsamer', entschied er. Die Tiere konnten froh sein, dass die Menschen schon vor langer Zeit die Wildnis verlassen hatten und ihre eigenen Höhlen draußen auf dem Land bauten.
Dafür brachten sie ihre Abfälle in den Wald zurück und vergruben sie dort. Den tieferen, eventuell religiösen Sinn dieses Tuns vermochte Rudolf bis heute nicht ergründen. Das blieb ein offener Punkt auf seiner to-do-Liste. Menschen - er hatte während seiner Studien eine Menge von ihren seltsamen und absurden Denkmustern mitbekommen.
Er starrte wieder in den Regen.
"Sind sicher Menschen, die mit ihren Maschinen rum albern", murmelte er.
Er hatte das Geräusch, das ihn aufgeschreckt hatte, bereits vergessen und stellte im Halbschlaf enttäuscht fest, dass Tschoban wieder alles verlernt hatte, als es ihn erneut aufscheuchte. Lauter und bedrohlicher! Es war ohnehin Zeit die Blase zu leeren und Rudolf beschloss, das Notwendige mit der Neugier zu kombinieren.
"Nass werde ich ohnehin", murmelte er.
Er steuerte in die Richtung aus der er das Geräusch kam und schnupperte. Keine Menschen, denn Maschinen rochen anders!
Er erleichterte sich und stapfte weiter. Jetzt hörte er einen dumpfen Schlag, ein unterdrücktes Stöhnen, ein Krachen und dann den Lärm eines fallenden Baumes.
Warum fielen Bäume, wenn weder Mensch noch Sturm am Werk war? Es ging etwas vor im Wald! Etwas, was er nicht kannte…
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und schlich zur Quelle des Lärms. Erschreckt blieb er vor drei Bäumen stehen, die übereinander am Boden lagen. Er sprang in Deckung und versuchte zu erkennen, was diese Bäume so zugerichtet hatte. Das Geräusch war jetzt einer spannungsgeladenen Stille gewichen, die noch unheimlicher war. Es war, als ob der Himmel den Atem anhielt. Das einzige was Rudolf hörte, war sein rasend schneller Pulsschlag.
Geduckt tastete er sich weiter vor. Seitlich von ihm, den Abhang hinunter, stöhnte etwas. Ängstlich und vorsichtig hob er seinen Kopf. Ein braunes Irgendetwas, riesig und offensichtlich in übler Laune stemmte sich gegen einen Baum, prügelte auf den Stamm, rüttelte daran und drückte ihn ächzend zur Seite. Der Baum knirschte protestierend, aber das Irgendetwas ließ nicht locker. Schließlich splitterte das Holz. Der Baum fiel und krachte dicht neben Rudolf hart auf dem Boden auf. Er sprang zur Seite. Aus den Blättern des Baumes rollte ein bunt schimmerndes Paket direkt vor seine Pfoten. Rudolf erkannte Herrn Specht, der in diesem Baum offenbar Schutz vor dem Regen gesucht hatte. Rudolf stupste ihn mit der Pfote an. Das schnelle Heben und Senken des Brustkorbes zeigte, dass der Specht noch lebte. Einige Sekundenbruchteile lang war Rudolf unschlüssig, ob er sich diesen kleinen Snack gönnen oder sich an den Vertrag halten sollte.
'Charakter ist, wenn niemand hinsieht', murmelte er resigniert und nahm den Specht vorsichtig in sein Maul und eilte zu Merlin.
Merlin, die Eule, galt als der klügste Kopf im Wald. Eulen gelten überall als klug. Wahrscheinlich deshalb, weil sie nichts sagen, wenn sie nichts zu sagen haben. Eigentlich sagen Eulen selten etwas. Dabei reden sie sich geschickt damit heraus, dass sie nachts unterwegs seien und tagsüber, wenn alle anderen wach sind, schlafen sollten. Werden sie während des Tages angesprochen, plustern sie sich verärgert auf, murmeln gereizt von Melatoninüberschuss, blinzeln kurzsichtig und warten, bis dem Fragesteller die Antwort selbst einfällt. Es war dieses überleg-doch-selber-Blinzeln, welches die Fragesteller genug einschüchterte und ihnen die Lösung zufliegen ließ. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden dann freudetrunken den Eulen zugeschrieben. In Wahrheit blinzeln Eulen nur, weil das Licht blendete und sie tagsüber blind sind wie Maulwürfe bei Neumond. Aber Eulen sind zumindest klug genug, die gute Meinung über sie nicht zu korrigieren.
Merlin litt an Schlafstörungen und fand den erholsamen Tagschlaf nicht. Er war auch tagsüber ansprechbar – wenn er Lust dazu hatte.
In der Waldschule unterrichtete er Sprache, Naturkunde und Geschichte. Geschichte interessierte ihn: war er doch als junges Küken dabei gewesen, als der Vertrag in Kraft gesetzt wurde.
Rudolf erreichte Merlins Baum. Vorsichtig legte er den Specht ab, der wenigstens wieder stöhnte.
'Geht ihm schon viel besser', dachte er erleichtert und griff den Ruf-Stock. Wenn es unten klopfte, wusste Merlin, dass wer was von ihm wollte.
Beim dritten Klopfen zeigte gereiztes Schuhuen, dass Merlin ansprechbar war – oder zumindest wach.
Sein gefiederter Kopf erschien im Astloch und blinzelte verärgert.
"Was'ss?"
"Etwas Riesiges, Komisches im Wald", japste Rudolf.
"Riesiges? Komisches?"
Merlin gähnte.
"Genau!"
Merlin schüttelte den Schlaf aus seinen Gliedern.
"Und es killt Bäume und jagt Spechte", Rudolf tänzelte vor Aufregung hin und her.
"Killt Bäume und Spechte?", wiederholte Merlin gelangweilt.
"Genau!"
Rudolf wies auf das bunte Bündel neben sich. Merlin hatte es vorher nicht beachtet. Er kannte Rudolfs seltsame Art, Müll zu sammeln und im Unterricht zu verwenden. Rudolf behauptete, es handle sich hierbei um Beweise und Anschauungsmaterial, wie übel die Menschen mit dem Wald umgingen.
Merlin schaute genauer hin und erkannte, dass das bunte Bündel Herr Specht war. In diesem Zustand befand sich Herr Specht sonst nur im Herbst. Herr Specht liebte gärendes Fallobst. Nach dem Genuss desselben sang er wie eine Nachtigall, verlor jedoch die Zielsicherheit beim Fliegen. Oft knallte er dann in Bäume, trudelte zur Erde und blieb bewusstlos liegen. Herr Specht behauptete jeweils, dass die Bäume ihm völlig unerwartet vor den Schnabel gesprungen seien – aber außer den Jüngsten im Wald und Buran nahm ihm das niemand ab. Zum Glück sind Spechte hart im Nehmen.
Merlin wusste, dass gärendes Fallobst diesmal nicht der Grund für den Zustand von Herrn Specht sein konnte – es war Sommer. Er breitete die Flügel aus und schwebte zu Rudolf hinab.
Interessiert umkreiste er den Specht.
"KO!", meinte er nach einiger Zeit, "wie kam das?"
"Sagte ich doch schon!", Rudolf verdrehte die Augen, "das Dingsda hat ihn gejagt. Wäre ich nicht zur Stelle gewesen, wer weiß was Herrn Specht sonst noch passiert wäre!"
Rudolf gefiel, wie die Geschichte klang. So verhielten sich doch typische Helden?! Selbstlose Geschöpfe, die sich für andere ins Zeug legten - möglicherweise war er jetzt selber ein verdienstvoller Held. Vielleicht lag sogar der Waldorden drin – die Auszeichnung, die Tieren für außerordentliche Verdienste zustand. Rudolf wähnte den Orden bereits an einem Ehrenplatz in seinem Fuchsbau: Eichel am Zweig! Allerdings durfte er dann nie mehr Eichhörnchen zu sich nach Hause einladen. Die hatten die schlechte Eigenschaft Eicheln zu essen oder zu vergraben. Es hieß, dass Opa Dachs seinen sauer verdienten Eichelorden genau auf diese Weise verloren hatte. Er hatte nie mehr mit den Eichhörnchen gesprochen.
"Wie kam das?"
"Da waren Geräusche. Ich wollte wissen, was da vorgeht und habe nachgeschaut."
"Geräusche?"
"Bersten, Krachen und Stöhnen", betonte Rudolf.
"Stöhnen? Vielleicht…"
"Nein, nein", unterbrach Rudolf, "das war weit weg vom Dachsbau."
Merlin dachte nach.
"Und das riesige, komische Ding: wie sah das aus?"
"So was habe ich vorher noch nie gesehen", berichtete Rudolf mit belegter Stimme, "wie ein übergroßer Mensch mit Fell. Schmutzig, braun, übelriechend!"
"Übelriechend? Du warst so nahe dran?", staunte Merlin.
Rudolf schwieg. Merlin beugte sich über Herrn Specht.
"Den hat's übel erwischt", meinte er, "wird wohl kaum in der Lage sein, etwas zu erzählen."
"Was soll er denn erzählen?"
"Wonach das riesige, komische Ding gerochen hat. Beispielsweise. Oder wer ihn so vollgesabbert hat."
"Trag du mal etwas im Maul, während du durch den Wald rennst", verteidigte sich Rudolf beleidigt.
Merlin lächelte wissend. Er richtete sich auf und lauschte gespannt.
"Ich höre nichts, was da nicht sein sollte", murmelte er.
"Es ist da. Vielleicht macht es nur Pause", protestierte Rudolf.
"Wir sollten Madame Bea rufen", entschied Merlin, "Herr Specht gefällt mir nicht."
Madame Bea war die waldeigene Pflegeinstanz und kannte die Geheimnisse des Heilens. Sie kannte die Kräuter, die Linderung brachten. Sie kannte die Kuren, die Leiden heilten. Sie kannte die Griffe, Verletzungen zu richten. Es hieß, man sollte es mit ihr nicht versauen, denn auch in Sachen Gifte wurde ihr ein fundiertes Fachwissen nachsagt.
Ein Knacken unterbrach Merlins Gedanken.
"Da!", rief Rudolf aufgeregt.
"Ich habe es auch gehört", bestätigte Merlin.
Er war genauso erschrocken wie Rudolf und sein Herz pochte schnell und laut.
'Nicht gut in meinem Alter', dachte er.
Rudolf hatte also nicht einfach schlecht geträumt, wie Merlin vermutet hatte, sondern war tatsächlich einer seltsamen Sache auf der Spur.
"Ich flieg mal hin und schaue nach."
"Ist gefährlich", warnte Rudolf.
"Kann das Ding auch fliegen?", gab Merlin schnippisch zurück und flog davon. Rudolf bewunderte den Mut der Eule und hoffte, dass ihm als Erstentdecker die Ehre des Eichelordens bleiben würde.
"Wo, wo, wo…."
Rudolf fuhr zusammen. Herr Specht war aus seiner Ohnmacht aufgewacht und blickte verwirrt.
"Hab sie gerettet."
"Isses weg?"
Herrn Spechts Augen bewegten sich ängstlich und hastig.
"Sie haben es auch gesehen? Haben sie erkannt, was es war?"
Herr Specht schüttelte den Kopf.
"Vermutlich ein Bagger mit Fell."
Herr Specht war offensichtlich hochgradig verwirrt.
"Warum packt man einen Bagger in ein Fell – die haben doch Heizung", brabbelte er weiter.
"Hat es übel gerochen", bohrte Rudolf nach.
Herr Specht überlegte.
"Nein, glaube nicht."
"Hat es irgendetwas gesagt?"
"Nur, nur...", Herr Specht suchte nach Worten.
"Gesagt nicht. Nur gegrunzt – oder so ähnlich – wie ein zu groß geratenes Wildschwein."
Rudolf nickte zustimmend. Genauso hatte er dieses unheimliche Geräusch auch in Erinnerung.
Herr Specht betrachtete sein Gefieder.
"Vollgesabbert hat es mich auch", maulte er und rieb angewidert sein Gefieder ab.
Rudolf war die Situation peinlich. Wo Merlin nur blieb?
Endlich kehrte Merlin zurück. Die beiden sahen ihn gespannt an.
"Ein Bär", platzte es aus ihm heraus, "in unserem Wald tobt ein Bär!"
"Blödsinn", erwiderte Rudolf ungläubig, "die gibt’s nur im Museum und auf Tauschbildern."
Langsam schüttelte Merlin seinen Kopf.
"Da ist jeder Zweifel ausgeschlossen – ein Bär. Und er ist dabei, Bäume platt zu machen. Wo der wohl herkommt?"
"Bär? Kein Schwein? Ein Übergroßes? Ein Sabberndes?"
Herr Specht glaubte an einen schlechten Scherz, den Merlin sich da erlaubte.
"Wenn ich es sage", betonte Merlin ungeduldig, "und wenn wir nichts dagegen unternehmen, reißt der uns noch den ganzen Wald nieder."
"Früher oder später machen die Dorfleute den Wald ohnehin kaputt", jammerte Herr Specht, "ich hatte nur gehofft, dass das erst nach meinem Ableben sei…"
"Was kann man gegen Bären machen", fragte Rudolf ängstlich.
"Verscheuchen!"
Merlins grimmiger Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel offen, dass er das ernst meinte.
"Hast du was genommen? Wie willst du das Untier verscheuchen", lachte Rudolf verzweifelt auf, "der ist so stark wie alle Waldtiere zusammen. Mindestens!"
"Stark ist er, zweifelsohne", sinnierte Merlin, " vor allem stark verwirrt. Durchlebt vielleicht eine kindliche Zerstörungsphase, wer weiß…
"Ja, ja, die präpubertäre Destruktionsphase", warf Rudolf ein, um Herrn Specht mit seiner Klugheit zu beeindrucken.
Merlin fuhr unbeirrt fort:
"…Ich meine aber, dass er nicht auf Killen aus ist."
"Wie kommen sie darauf?", unterbrach Herr Specht, der tatsächlich von Rudolfs klugen Worten beeindruckt war.
"Ich bin zweimal direkt vor seiner Nase vorbei geflogen..."
Herr Specht und Rudolf stockte der Atem: welch ein Heldenmut!
"… und er ist jedes Mal zurückgezuckt. Ich glaube darum nicht, dass er jemanden verletzen möchte."
"Und was ist mit mir!", empörte sich Herr Specht.
"Das war ein Unfall. Eine Art Kollateralschaden. Hätte er gewusst, dass sie da oben stecken, hätte er sich einen anderen Baum gesucht."
"Sicher? Bist du sicher?"
"Ziemlich sicher", betonte Merlin, "ruft die Waldtiere zusammen. Sofort. Wenn wir ihm entschlossen entgegentreten, dann – so vermute ich – wird er einlenken."
"Und wenn er es nicht tut", fragte Rudolf, "was dann?"
"Die meisten von uns sind schneller oder können sich in Erdlöchern verkriechen, falls er bösartig ist. Sicher wissen wir das nur, wenn wir ihn stellen", schloss Merlin das Gespräch.
Sein Tonfall unterband jeden Widerspruch. Nach einem kurzen Gedankenaustausch eilten Merlin, Rudolf und Herr Specht in verschiedene Richtungen davon und riefen die Tiere des Waldes zusammen. Merlin hatte die Lichtung beim Froschteich als Treffpunkt bestimmt. Der Froschteich war sicher, weil er auf der gegenüber liegenden Seite des Waldes lag. Weit weg vom Bären. Merlin drängte Madame Bea, ihren Notfallkoffer mit zu nehmen – für alle Fälle.
Nach und nach trafen die Tiere ein. Die Nachricht, dass ein Bär im Wald war, hatte bereits die Runde gemacht und es herrschte lautes Durcheinander. Niemand hatte je einen Bären gesehen, aber jeder gab vor, Bärenexperte zu sein. Ahnungslosigkeit ist der ideale Nährboden für Gerüchte und Übertreibungen. Bald galt der Bär als baumhoch, feuerspeiend und konnte fliegen. Es solle sich mit Vorliebe von Tierkindern ernähren und das eine Dorf in der Nähe des Waldes bereits dem Erdboden gleich gemacht haben.
Merlin hatte eine Idee und wies Madame Bea an, Herrn Specht dick ein zu bandagieren. Sollte er mit seiner Vermutung Recht haben, dann würde es dem Rabauken leidtun, Herrn Specht verletzt zu haben.
Merlin wartete geduldig. Rudolf, der als Entdecker der Bestie galt, sah sich von seinen Schülern umringt und mit Fragen bedrängt.
"Ja, er wirft Bäume um…"
"Nein, er kann nicht fliegen…"
"Nein, er will nicht Verstecken spielen…"
"Nein, Bären jagen nicht nur Streber…"
"Nein, er kennt unsere Vereinbarung nicht…"
"Ja, Bären sind Fleischfresser…"
Letztere Aussage beruhigte Junghirsch Buran, Rudolfs zweiten Problemschüler. Buran hatte befürchtet, dass dieses baumhohe, fliegende Wesen das frische Gras von der Wiese vor dem Wald fressen oder mit seinem Feueratem abfackeln würde. Aber als Fleischfresser würde dem Riesen das saftige Gras egal sein.
Alle waren da!
Merlin schuhute, um sich Gehör zu verschaffen. Der Lärm war zu laut.
"Vielleicht verschwindet er nur schon wegen dem Krach", dachte er verärgert, "kein Tier hält das lange aus..."
Er wandte sich an Herrn Specht.
"Könnten Sie auf den Baum hämmern?"
"Sicher nicht", empörte sich Madame Bea, "sonst verrutscht die Bandage!"
Merlin bewunderte die kunstvolle Arbeit von Madame Bea - Herr Specht glich jetzt einer Mumie mit Flügeln.
"Ich mach das", rief Eichhörnchen, schnappte sich einen Ast und kletterte den Baum hoch. Mit aller Kraft klopfte es an den Stamm. Langsam verstummten die Gespräche und die Augen richteten sich auf Eichhörnchen und Merlin, der neben seinem Freund Platz genommen hatte.
"Hört mich jeder?", rief Merlin.
Die Tiere schauten gespannt und ängstlich zugleich auf. Merlin würde sicher wissen, was zu tun war.
"Rudolf hat heute einen Bären im Wald entdeckt und ich habe euch zusammengerufen, damit wir beraten können, was wir unternehmen wollen."
Ein Raunen lief durch die Reihen der Waldtiere.
"Wir dachten, du weißt was zu tun ist", rief eine verzweifelte Stimme.
"Mag sein", meinte Merlin geheimnisvoll, "aber vorher will ich wissen, ob schon wer Erfahrung mit dem Vertreiben von Bären hat."
Er blickte auf die schweigende Menge. Er erwartete keine Wortmeldung. Die Augen aller klebten auf Merlin.
'Die erwarten wohl gleich eine Offenbarung von mir', dachte er.
"Ja, ich habe einen Plan", sagte er laut und langsam, "der funktioniert jedoch nur, wenn wir alle zusammenhalten, keiner zurück bleibt. Wir müssen dem Bären zeigen, dass wir der Boss im Wald sind."
Merlin ließ seine Worte wirken. Er las Unglaube und Zweifel in den Gesichtern. Und trotzdem würden sie tun, was er ihnen vorschlug, weil niemand sonst eine Idee zur Lösung des Problems hatte.
"Wie willst du das anstellen", meldete sich ein Hase schüchtern.
Merlin plusterte sich etwas auf.
"Ich habe festgestellt", sagte er gewichtig jedes Wort betonend, "dass der Bär nur ein bisschen rum tobt. Es hat nichts gegen uns. Er reagiert sich nur etwas ab. Hat wohl vom Regen die Nase voll – irgendwie kann ich ihn verstehen…"
"Er soll wieder verduften", rief ein anderer Hase.
Auf die Entfernung konnte Merlin nicht feststellen, welcher der Hasen es war – vermutlich Hopp-Sing.
'Vielleicht würde der Bär etwas gegen die Hasenüberbevölkerung im Wald unternehmen. Hasen sollen sich vorzüglich als Kopfkissen für Bären eignen. Oder als Wegwerf-Taschentuch. Es könnte sich durchaus lohnen, den Bären etwas später zu vertreiben…'
Er schob seine ungehobelten Gedanken bei Seite.
"Genau – er soll wieder Leine ziehen", bestätigte Merlin.
"Wer von uns geht", rief Lazarus, der Siebenschläfer, "und erklärt das dem Bären?"
Lazarus hieß in Wirklichkeit anders, aber keiner im Wald erinnerte sich noch an seinen richtigen Namen. Einmal erwachte er erst im August aus dem Winterschlaf. Als alle schon dachten, er habe den Winter nicht überlebt, tauchte er plötzlich wieder auf und erzählte vergnügt, dass er sich endlich wieder einmal so richtig ausgeschlafen fühle. Seit damals nannten ihn alle Lazarus.
"Niemand geht ", sagte Merlin bestimmt, "wir gehen zusammen!"
Er sah ihre Furcht.
"Er wird eingeschüchtert sein, wenn wir ihm alle gemeinsam gegenübertreten. Glaubt mir!"
Lautes, protestierendes Geplapper unterbrach Merlin.
"Hast du Erfahrung mit Bären?", wunderte sich Eichhörnchen.
"Nicht die Bohne", gab Merlin zu, "aber ich glaube, dass ich richtigliege."
"Hoffentlich", zweifelte Eichhörnchen.
Das Geschnatter ebbte ab als Eichhörnchen erneut den Ast an den Baum schlug.
"Ihr habt also verstanden", sagte Merlin, "dass funktioniert nur, wenn wir zusammenhalten, ja?"
Viele Tiere nickten, andere zweifelten und blickten besorgt. Einige Tiermütter legten schützend die Pfoten um ihren Nachwuchs.
"Hier mein Plan: ich werde für euch sprechen und wenn ich den rechten Flügel hebe, dann macht ihr so viel Lärm wie möglich. Hebe ich den Linken, schweigt ihr. Das wird den Bären einschüchtern."
"Wirklich?", fiepte eine dünne Stimme.
"Wirklich!", bestätigte Merlin.
"Merlin hat Recht", rief Eichhörnchen, "wenn wir zusammenhalten, wird er Leine ziehen."
Merlin gurrte leise und dankbar.
"Vertraut ihm!", schrie Eichhörnchen.
Es sprang zwei Äste höher und breitete theatralisch die Arme aus: "wollen wir zusammenstehen?"
Merlin verdrehte die Augen. Was Eichhörnchen da abzog war hinterstes Landtheater. Aber es funktionierte. Die Versammlung kreischte "Jaaaaaa" und schrie sich gegenseitig Mut zu. Rufe wie "nieder mit dem Bären", "Bettvorleger aus Bären" oder "Bären raus!" waren aus dem tumultartigen Geschrei heraus zu hören. Merlin und Eichhörnchen sahen sich in die Augen.
"Ich hoffe nur, es klappt", meinte Eichhörnchen.
Merlin zuckte mit den Schultern.
"Wenn wir nichts tun, dann wird sich der Bär möglicherweise hier ein nisten und wir werden alle leiden. Wir müssen es wagen!"
Eichhörnchen nickte.