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Kapitel 2: Der Bär wird gestellt

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Merlin drängte zum Aufbruch, solange die Euphorie keine klaren Gedanken zuließ. Eilig organisierte er den Zug. An die Spitze stellte er Hannibal, den Hirschen, setzte sich mit seiner Erlaubnis auf sein Geweih und feuerte die nachfolgende Menge an. Rudolf erhielt den Auftrag, zusammen mit zwei anderen Füchsen den Schluss zu bilden und darauf zu achten, dass keiner Knöchelverletzungen, Schwindelanfälle oder Herzrhythmusstörungen simulierte, um in den Büschen zu verschwinden.

"Notfalls droht ihr ihnen", hatte Merlin den Füchsen empfohlen.

Langsam näherte sich der Zug dem Standort der Bestie. Die Spannung stieg und Merlin bedeutete den Tieren, ruhig zu sein.

Die unnatürliche Stille hinter ihm zeigte Merlin, dass sie sich fürchteten. Er selber hatte Angst. Hannibal erklomm eine leichte Anhöhe. Dahinter musste der Bär sein.

"Bleib stehen", flüsterte Merlin Hannibal zu.

Er wandte sich zu den Waldbewohnern und deutete ihnen, ruhig zu bleiben.

"Ich checke die Lage", flüsterte er.

Alle nickten, auch wenn die meisten nicht verstanden hatten, was Merlin sagte. Merlin erhob sich in die Luft, schraubte sich schnell nach oben und überblickte die Lage.

Der Bär war noch da. Acht oder neun Bäume lagen wie gefallene Soldaten nach verlorener Schlacht auf der feuchten Erde. Er saß abseits auf einem Stein und schien erschöpft. Er atmete schnell und schwer.

"Gut so", dachte Merlin, "wenn er müde ist, ist er leichter ein zu schüchtern."

In einem lautlosen Bogen kehrte Merlin zu den anderen zurück.

"Er hockt nicht weit von hier. Er ist müde – kein Wunder nach der Raserei. Wir bilden jetzt eine Reihe und gehen dann nebeneinander auf ihn zu. Vergesst nicht: rechter Flügel schreien, linker Flügel Schnauze halten."

Schnell formierten sich die Tiere. Merlin sah, dass bei vielen Angst Trotz gewichen war. Man war entschlossen, gemeinsam den Wald zu schützen.

'Ist es nicht Trotz, der den Schwachen befähigt, undenkbare Dinge zu vollbringen?', philosophierte Merlin

"Gut so", murmelte er.

Stolz blickte er im Geweih Hannibals thronend auf die Entschlossenheit seiner Freunde. Hannibal sah das etwas anders: er hätte den vorlauten Merlin am liebsten abgeschüttelt – was plusterte der Kerl sich auf! Sogar bei den Menschen hieß es, der Hirsch sei der König des Waldes – nicht eine schläfrige Eule. Kein Jäger war stolz, eine Eule zu erlegen – aber den König des Waldes zu erwischen – das galt etwas. Das hatte leider auch seine Nachteile, wie Hannibal wusste. Sein Vater, ein kapitaler Vierzehnender hing jetzt in der Gaststube im Menschendorf. Teilweise wenigstens – und wurde zu Hannibals Ärger oft als Kleiderständer missbraucht – das hatte er einmal von Rudolf erfahren. 'Menschen haben keinen Anstand', dachte er verbittert.

Merlin hoffte, dass es funktionieren würde. Einigkeit kann bare Kraft und Stärke überwinden. Einigkeit ist aber auch ein zerbrechliches, feines Geflecht. Ihm war klar, dass die Waldleute in drei Tagen wieder miteinander streiten würden, aber im Augenblick traten sie als Einheit auf.

'Ich hoffe, es hält wenigstens so lange', überlegte Merlin, 'bis der Bär vertrieben ist.'

Die ersten Tiere erreichten die Kuppe und erschraken über den Zustand des Waldes. Der Bär hatte gewütet wie biertrunkene Holzarbeiter. Er saß mit dem Rücken zu ihnen. Schritt um Schritt näherten sie sich dem Untier. Erste, meist kleine Waldbewohner verließ der Mut und Rudolf musste hier eine Maus, da ein Eichhörnchen oder einen Hasen am Schwanz festhalten.

"Es funktioniert nur wenn alle bleiben", raunte er jedes Mal und ließ erst los, wenn die eingeschüchterten Tiere zaghaft nickten. Reichte gut zureden nicht, setzte er Merlins Vorschlag um und drohte mit gebleckten Zähnen und einem beiläufigen Hinweis auf seinen Hunger.

"Nah genug", zischelte Merlin Hannibal ins Ohr, "bleib stehen."

Der Bär war nur noch wenige Schritte entfernt. Was hatte sich die Natur nur dabei gedacht, ein solches Riesenvieh zu schaffen? Alleine was der zu essen vermochte, überstieg die Vorstellung der Waldbewohner. Merlin stieß den rechten Flügel in die Luft. Die Tiere schrien sich die Lungen aus dem Leib.

Der Bär zuckte zusammen, als ob er auf einen elektrischen Zaun gepinkelt hätte. Er sprang auf, stolperte über einen der Bäume, schlug der Länge nach hin, schlitterte einige Meter bäuchlings auf dem schlammigen Untergrund und krachte mit der Nase voran in einen quer liegenden Baumstamm.

Lacher mischten sich in das Gebrüll.

Was hatten sie sich vor diesem braunen Gesellen gefürchtet. Ungeschickt wie eine Vogelscheuche und etwa genauso gelenkig dachten sie und verstärkten das Geschrei.

Der Bär rappelte sich auf, stürzte weiter und drückte sich ängstlich an den Wurzelstock eines umgelegten Baumes. Mit großen, fragenden Augen beobachtete er zitternd den Aufstand. Er blinzelte unsicher. Er sah die vielen Tiere. Allen voran ein prächtiger Hirsch, in dessen Geweih eine alte Eule hockte.

Er hatte Erfahrungen mit Eulen. Auf seiner Wanderung war er vielen begegnet. Er mochte diese Wichtigtuer nicht, die sich als weiß-Gott-wie-gescheit verkauften.

Der Kerl auf dem Geweih war jedoch anders. Der Bär sah, wie er den linken Flügel hob und der Lärm sofort verstummte sofort.

'Das ist der Anführer des Aufruhrs', überlegte er.

Er beobachtete wie die Eule dem Hirsch etwas zuflüsterte. Dieser schüttelte den Kopf. Die Eule hob ab und landete vor dem Bären. Dieser meinte noch so etwas wie "… geweihtragender Feigling" zu hören.

Die Eule vor ihm auf dem Boden blickte ihn keck und entschlossen an.

"Was willst du hier?", forderte sie den Bären heraus.

"Verstehst du mich nicht? Was willst du hier!"

Der Bär bewunderte die Frechheit der Eule. Ein Prankenhieb und das Vögelchen taugte höchstens noch als Füllung für eine Duvetjacke. Ihre Dreistigkeit schüchterte ihn ein.

"Sag - schon: was - willst - du - hier?"

Die Eule betonte jedes Wort, als habe sie etwas Begriffsstutziges, geistig Behindertes vor sich. Sie hob wieder den rechten Flügel und die Tiere stimmten ihr Gebrüll und Gekreische wieder an. Der Bär presste sich noch dichter an die Wurzel. Was wollten die von ihm? Er war nur auf Durchreise und hatte etwas innere Unruhe abgebaut!

Die Eule flog zurück, tauschte ein paar Worte mit einer Häsin, die einen schweren Beutel um die Schulter geschlungen trug, und einem Eichhörnchen. Häsin und Eichhörnchen stützten etwas, das aussah wie eine Rolle Klopapier. Wollten sie, dass er hier sein Geschäft erledigte? Seltsame Sitten – vielleicht eine Art abstruser Religion, die sie hier praktizierten…

Der Lärm verstummte und die Eule kam zurück.

"Schau dir an, was du angestellt hast", rief sie vorwurfsvoll und deutete auf die Klorollengruppe.

"Du hast Herrn Specht beinahe umgebracht."

Der Bär erkannte einen Schnabel, der aus der Klorolle ragte. Er kapierte, dass die Klorolle ein einbandagierter Vogel war.

"Was, wie…", brummte er verwirrt.

"Dein Werk", tadelte die Eule und wagte es, noch näher zu kommen, "du hast Herrn Specht schwer verletzt. Saß auf einem der Bäume da. Was soll das? Sag schon!"

Die Eule blickte ihn kämpferisch an. Er bedauerte, den Specht verletzt zu haben.

"schuldigung…", murmelte er.

Die Eule deutete dem Hasen und dem Eichhörnchen, dass sie den Specht wieder zurückbringen sollten.

"Zum letzten Mal: was willst du hier – wir brauchen dich nicht."

Bevor der Bär eine Antwort geben konnte, brauste das Gebrüll wieder auf. Der Bär kauerte sich zusammen, legte seinen starken Arm schützend über sein Gesicht und drückte einen schäbigen Rucksack an sich. Er hatte Angst! Zufrieden erkannte Merlin, dass sein Plan funktionierte. Die Bestie wirkte nicht mehr Furcht erregend, sondern kauerte ängstlich zitternd an einen umgestürzten Baum gepresst. Jetzt glich sie einem alten, weg geworfenen, vergessenen Fellmantel – Größe XXL.

"Wir wollen, dass du hier verschwindest!", rief Merlin selbstsicher, "wir brauchen niemanden, der Bäume platt macht."

Die Ohren des Bären zuckten unregelmäßig. Über seinen Arm hinweg blickte er eingeschüchtert auf die Phalanx der Tiere.

Was wollten die? Warum konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Vor einer Stunde war alles noch in bester Ordnung gewesen! Dann überfiel ihn einer seiner Wutanfälle, die ihm schon oft Ärger eingebrockt hatten. Die Erinnerung, was während dieser Zeit passierte, war bruchstückhaft. Wenn er tobte erlebte er sich selber wie durch einen Schleier. Er wusste nicht woher die Wut kam und wohin sie verschwand. Er wusste nur, dass sie irgendwo tief in ihm steckte. Sie war sein unheimlicher, verhasster Begleiter, eine Klette, die sich nicht abschütteln ließ – ein Quälgeist im eigenen Kopf. In Momenten, wo er darüber nachdenken mochte kam er zum Schluss, dass sie ihm schadete. Dann drängte sie sich mit schmeichelnder Flüsterstimme in seinen Kopf.

'Ich mache dich stark, ich zeige, dass du lebst', raunte sie verschwörerisch, 'du brauchst mich – ohne mich wärst du ein Nichts, nur ein Bär wie andere auch. Einer unter vielen. ICH mach dich zu etwas Besonderem…'

Er ließ sich meistens von der Stimme einlullen und seine Gedanken verblassten – wie Nebelfetzen, wenn die Sonne rauskommt. Nach den Wutanfällen war er erschöpft und brauchte Ruhe. Er wünschte, die da drüben würden verschwinden, damit er sich selber vom Acker machen konnte. Er plante nicht, hier zu bleiben…

Er sah die Bäume, die er platt gemacht hatte. Sah, wie ihr Laub einen grünen Teppich auf dem Waldboden bildete, der sich unter den Hufen und Pfoten der Waldtiere in eine unappetitliche, grünlich-braune Masse verwandelte - den herausgewürgten Graskugeln der Katzen, wenn sie den Magen von den Haaren befreiten, nicht unähnlich. Kein Wunder waren sie sauer auf ihn.

'Warum gehen?', dachte er erschöpft, 'warum weiterziehen? Nur um sich ein paar Kilometer weiter oder ein paar Tage später andernorts in der gleichen Lage wieder zu finden?'

Er schloss die Augen. Eine trübe Traurigkeit übermannte ihn und er wollte nur noch schlafen. Schlafen und vergessen. Schlafen, aufwachen und erkennen, dass alles wieder gut war. Schlafen und hoffen, dass es seiner Wut zu langweilig wurde und sie sich ein anderes Opfer suchte.

Er zog die Beine an den Körper.

Er war doch nur auf der Suche nach Freunden und einem Platz, wo er bleiben konnte. Auf seiner langen Reise hatte er diesen Ort, dieses Zuhause, noch nicht finden können.

Gab es ein solches Zuhause für ihn? Wo war es? Wie sieht es aus? Ein Wald wie dieser? Ein Paradies, wo Honig statt Wasser in den Bächen floss? Der Bär träumte oft mit offenen Augen in den Himmel blickend von diesem Zuhause. Es würde sich gut anfühlen, glücklich zu sein. Es würde sich gut anfühlen, zu erwachen und die orange glühende Morgensonne mit einem Lächeln zu begrüßen. Es würde sich gut anfühlen, gleich um die Ecke Freunde zu haben und mit ihnen zu schwatzen. Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Freunde, mit denen man über das schlechte Wetter und Magenschmerzen reden konnte. Das war sein Traum.

Immer noch über seinen Arm blickend sah er die Eule und die anderen Tiere. Gespannt, ängstlich und neugierig zugleich, beobachteten alle schweigend die Eule und den Bären.

'Das könnten doch meine Freunde sein', schoss ein trotziger Gedanke durch den Kopf, 'die haben jetzt nur Angst, weil ich ein bisschen aufgeräumt habe. Aber ich kann ihnen zeigen, dass ich kein schlechter Kerl bin.' War das möglich? Würden sie ihm glauben, wenn er versprach, den Wald nicht mehr zu ramponieren. Würden sie ihm glauben, dass er im Grunde genommen ein lieber Kerl war – ein Kuschelteddy im Großformat? Einer, der nur Freunde und ein Zuhause suchte?

'Vergiss es', drängte sich die Stimme der Wut in die Gedanken, 'niemand ist so blöd, dich freiwillig in der Nähe zu haben – du bist gefährlich.'

'Bin ich nicht!', dachte er.

'Du bist schuld!', klagte eine andere Stimme im Kopf die Wut an. Es war die Stimme, die ihn oft tröstete und gut zusprach und von der er glaubte, es sei die Stimme seiner Mutter.

Wut gegen Fürsorge! Es war, als ob er Beobachter eines stummen Ringens war. Seltsam leer, gefühllos und passiv verfolgte er den Streit in seinem Kopf.

'Schau dir doch an, was der bis heute geleistet hat', höhnte die Wut mit falschem Lachen, 'eine einzige Folge von Katastrophen, Unfällen und Fehltritten. Überall schmeißen sie ihn raus oder quälen ihn, bis er selber abhaut.'

'Daran bist du schuld', empörte sich die Fürsorge, 'du hetzt ihn in solche Situationen.'

'Na und', meinte die Wut achselzuckend, 'ich sage ihm nur, wann es Zeit ist, eine bessere Umgebung zu suchen. Du weißt doch: wer rastet der rostet.'

Die Wut lachte gackernd.

'Wegen dir ist er dauernd auf der Flucht. Du hetzt ihn pausenlos auf und redest ihm Unsinn ein.'

'Unsinn?', höhnte die Wut, 'früher oder später wird er ausgenutzt – ich zeige ihm seine Stärke, ich lasse ihn fühlen, dass er sein eigener Herr ist. Mache ihm klar, dass er der Boss ist.'

'Der Boss bist du', protestierte die Fürsorge vorwurfsvoll, 'und du willst nicht, dass es ihm gut geht. Du hast nur Angst, dass es dich dann nicht mehr braucht.'

'Quatsch – ich bin das, was ihn ausmacht. Ich sage ihm, wenn es gilt, Problemen aus dem Weg zu gehen und noch eine Marke zu setzen.'

'Falsch! Du bist sein Problem und schuld daran, dass er keine Freunde hat.'

'Papperlapapp – ich sorge dafür, dass er nicht ausgenutzt wird. Wie damals im Zirkus.'

'Das ist lange vorbei – aber du, du treibst ihn immer weiter. Du lässt ihm keine Verschnaufpause. Du erlaubst es nicht, dass er zur Ruhe kommt.'

'Na und? Sieh ihn dir doch an: stark und mächtig ist er – furchtlos und mutig.'

'Furchtlos und mutig', zickte die Fürsorge, 'kauert sich ein großer Held zu einem zitternden Fellbündel zusammen, wenn er doch so furchtlos und so mutig ist? Nein: er hat genug, er will Ruhe und Friede und eine Chance, neu anfangen zu können.'

'Das schafft er nicht'

'Du wirst sehen! Ich glaube an ihn!'

Die Stimmen verstummten. Er bedauerte, dass nicht wenigstens die fürsorgliche Stimme blieb. Sie beruhigte und half ihm, klarer zu denken. Er atmete tief durch – er hatte sich entschieden. Er wollte nicht weiter. Das Paradies konnte irgendwo und nirgendwo sein. Dann, wie ein leises Echo aus der Vergangenheit, flüsterte die fürsorgliche Stimme: 'zuhause ist da, wo du dich zuhause fühlst'

Er hob den Kopf und blickte die Eule direkt an. Langsam schüttelte er den Kopf.

Merlin hatte den pelzigen Riesen vor sich beobachtet. Eine seltsame Stille lag über dem Wald. Er war überzeugt, dass vom Bären keine Gefahr ausging – im Moment. Merlin las in der Körperhaltung des Bären, was in ihm vorging. Die Ängstlichkeit war aus ihm gewichen – kein Blinzeln und Zweifel im Blick – und etwas seltsam Warmes floss aus dem Gesicht.

'Er muss trotzdem weg', durchschoss es Merlin, 'früher oder später wird er wieder ausrasten.'

"Du wartest hier", befahl er dem Bären.

Merlin wagte es, ihm den Rücken zu zukehren und ging zu seinen Freunden zurück.

"Wir haben ein Problem", eröffnete er seine Rede, "ich glaube, freiwillig geht der nicht weg."

"Wir wollen ihn aber nicht", ereiferte sich Hannibal, "niemand will ihn!"

"Ich weiß", sagte Merlin, "und darum brauchen wir Hilfe!"

"Woher willst du Hilfe holen?", wunderte sich Eichhörnchen.

"Die Menschen!"

Ein Gemurmel rauschte durch die Reihen der Waldleute. Klar – die Menschen: wenn es jemand schaffte, das Untier zu entfernen, dann die Menschen. Die hatten schon ganz andere Dinge zum Verschwinden gebracht. Den alten Froschteich zum Beispiel: in wenigen Tagen wurde dieser von Baggern und Traxen aus der Landschaft radiert – um ihn dann, ein Jahr später, fast an der gleichen Stelle wieder an zu legen. Die Tiere im Wald hatten bis heute nicht begriffen, was das sollte. Oder die mächtige Wettertanne: die Waldleute glaubten, dass dieser Baum schon immer da gewesen war und über den Wald wachte. Sie glaubten, er würde ewig da stehen. Ja, Stürme, Dürre und Blitze hatten Wunden geschlagen. Doch mit narbenbedecktem Stolz trotzte die Wettertanne den Naturgewalten. Dann kamen die Menschen und machten dieses Symbol der Kraft in einem einzigen Tag platt.

Mochten die Menschen noch so unklug sein: sie hatten Maschinen und Geräte, mit denen sich vieles machen ließ. Auch wenn dies meistens Unsinn war.

"Wozu die Menschen holen", protestierte Hannibal, "ich könnte ihm mein Geweih in den Wanst rammen – dann verschwindet er!"

Merlin unterbrach das anerkennende Tuscheln der Zuhörer mit einem lauten Lacher.

"Glaubst du wirklich, dass das was nutzen würde? So ein Bär benutzt dein Geweih als Einweg-Zahnstocher. Vergiss es!"

Hannibal war beleidigt.

"Wir brauchen die Menschen!", betonte Merlin.

Die Waldleute nickten. Hatte Merlin nicht schon Recht gehabt, dass sie gemeinsam den Bären in die Schranken weisen konnten? Also war sein Vorschlag, die Menschen zu rufen, auch richtig.

'Es muss schnell gehen', dachte Merlin.

"Wo ist Paul?", rief er.

Paul war Brieftaube und wusste genau, wer vom Dorf hier nützlich sein konnte.

"Wo ist Paul?", wiederholte er.

Tschoban drängte sich aus der Menge.

"So n'Scheiss, hat gesagt er geht auf Beobachterposten."

Tschoban deutete mit der Pfote in den Himmel. Alle blickten hoch. Außer Wolken war da nichts zu sehen.

"Bist du sicher?"

"Logo!"

"Ich hol ihn", drängte sich ein Spatz auf und verschwand in der Höhe.

Kurz darauf tauchten zwei schwarze Punkte unter den Wolken auf, die sich schnell näherten.

Paul plumpste Merlin vor die Füße, rappelte sich hoch und hüpfte flügelschlagend auf und ab. Eiskristalle säumten seinen Schnabel.

"Furchtbar kalt da oben. Ift nicht empfehlenfwert", lispelte er.

"Was hast du da oben gemacht?", grinste Merlin.

"Beobachtet. Ift wichtig, daff man den Überblick hat", rechtfertigte sich Paul.

"So hoch?", schmunzelte Merlin, "dass du Eiskristalle um den Schnabel hast? Über den Wolken?"

"Hab mich verfäpft", sagte Paul kleinlaut.

"Hast wahrscheinlich das Meer gesehen, so hoch oben wie du warst", frotzelte Eichhörnchen.

"Flieg zum Dorf und hol Feuerwehr, Polizei und was sonst noch notwendig ist, um den Bären von hier weg zu kriegen", sagte Merlin.

"Er will nicht gehen?", fragte Paul vorwurfsvoll.

"Nein, er trotzt!"

"Fo, fo – er tropft."

"So ähnlich", drängte Merlin ungeduldig, "mach schnell, solange er ruhig ist. Wir halten die Stellung."

"Ok!"

Merlin hoffte, dass Paul Hilfe heranschaffen konnte. Viele Tiere schauten Paul nach und bedauerten, nicht an seiner Stelle und in relativer Sicherheit zu sein.

"Wie geht es weiter?", riss Eichhörnchen Merlin aus seinen Gedanken.

"Wir müssen den Bären bewachen und dafür sorgen, dass er nicht abhaut!"

Geifer, ein verwilderter Rottweiler der vor Jahren im Wald eingezogen war, trat aus der Schar heraus. Geifer hatte damals erzählt, dass er die alternative Lebensweise suche und beschlossen habe, in der Wildnis zu leben. Er galt als Menschenexperte im Wald.

"Lass ihn doch abhauen, wenn er will."

"Gibst du mir die Garantie, dass er nicht mehr kommt? Und nächstes Mal kriegt vielleicht nicht nur Herr Specht etwas ab."

Die Verantwortung, welche die Waldleute stillschweigend auf Merlins Schultern gebürdet hatten, erdrückte ihn. Er wünschte sich in sein Astloch zurück, um den Rest des Tages in wohligem Dösen zu verbringen. Noch war die Lage nicht bereinigt. Merlin traute der Ruhe nicht. Der Bär war ein Fremder. Merlin wusste nicht, was und wie er dachte und blieb vorsichtig.

"Ich sage dir, Geifer, wir müssen wachsam bleiben und dürfen ihn nicht aus den Augen lassen."

"Und wenn die Menschen nicht kommen?"

Dieser Gedanke belastete auch Merlin. Sie mussten kommen! Er vertraute darauf, dass die Menschen alles, was stärker war als sie, vorsorglich massakrierten. Aber schnell mussten sie kommen. Andernfalls würde die Einigkeit unter den Waldleuten zerfallen. Sich verflüchtigen wie der Schaum in einem Schaumbad. Schnell würde jeder seiner eigenen Wege gehen. Jeder würde für sich Sicherheit suchen und hoffen, dass es einen anderen erwischte, wenn der Bär wieder loslegte.

"Du kennst doch Paul", lenkte Merlin ab, "der kann dermaßen übertreiben, dass den Menschen keine andere Wahl bleibt, als uns zu helfen."

"Hm?"

"Ich vertrau ihm", schloss Merlin.

Er blickte zu seinen Freunden. In die geschlossene Reihe war Unordnung gekommen und sie wirkte nicht mehr bedrohlich genug.

"Stellt euch wieder auf", ordnete er an.

Schweigend folgten die Tiere seinem Befehl. Er selber stellte sich wieder vor den Bären. Es galt, Entschlossenheit zu zeigen!

Merlin glaubte eine Ewigkeit und drei Tage hier gestanden zu haben, als Paul endlich zurückkehrte. Mit scheuem Blick auf den Bären und bereit, jeden Augenblick weg zu fliegen, berichtete er.

"Fie kommen. Polipfei, Feuerwehr, Gemeindepräfident, Tierarpft und fonft noch Leute. Von der Preffe auch und der Kindergarten wollte auch."

"Kindergarten?", raunte Merlin.

"Ja, Frau Föön wollte den Kindern daf Naturfaupfiel nicht vor enthalten. Aber der Polipfift hatte waf dagegen. Hat Frau Föön mit Ficherheipfverwahrung gedroht."

"Menschen!"

Merlin schüttelte den Kopf. Weit entfernt ertönten Sirenen – die Menschen waren auf dem Weg!

Kein Wunder, mussten sich die Menschen aus der Landwirtschaft ernähren. Mit dem Trari-Trara, das sie jedes Mal aufführten, war Jagt unmöglich. Menschen genügten den Herausforderungen des Lebens nicht. Keine Krallen, keine Fangzähne, kein Hackeschnäbel. Langsam und träg; konnten nicht fliegen, rennen, springen oder flugs auf Bäume klettern. Wie überlegen waren da die tierischen Jäger. Beute ins Auge fassen – anpirschen - zupacken. Das ist Evolution! Es war daher logisch, dass Menschen in Dörfern lebten. Im Wald wären sie bald verhungert. Oder selber Jagdbeute geworden.

Merlins Gedanken wurden von lauten Rufen unterbrochen. Eine erste Gruppe von Menschen stolperte den Abhang herab. Der Anblick des zusammengekauerten Bären stoppte sie – in sicherer Entfernung im Schutz der Tiere.

"Hol den Anführer", wies Merlin Paul an.

Paul kehrte kurz darauf mit zwei Männern zurück. Der eine war der Förster. Der Förster war in Ordnung, denn er liebte den Wald genauso wie die Waldleute. Den anderen kannte er nicht. Er trug ein unbequemes Kleid, blau mit glitzernden Knöpfen, und eine Art Helm.

"Daf find Förfter und Polipfeiwachführer Haldimann."

Beide standen mit ungläubigen Blick und offenen Mäulern da. Sie erinnerten Merlin an Gestalten, denen eben jegliche Intelligenz entwichen war. Merlin hatte sich Hilfe anders vorgestellt.

"Ein Bär", sagte der Polizeiwachführer mit heiserer Stimme.

Hatte Paul nicht erklärt, was im Wald los war?

"Ich wollte Paul nicht glauben", erwiderte der Förster, "ein Bär in meinem Wald."

"Ein Bär in UNSEREM Wald", machte sich Merlin mit lauter Stimme bemerkbar.

"In eurem Wald", korrigierte der Förster, "und jetzt?"

"Der muss weg, will aber nicht…", fasste Merlin die Situation so knapp wie möglich zusammen. Er wollte die Menschen nicht überfordern.

Unruhiges Gemurmel und vorwurfsvolle Rufe der Tiere lenkten die drei ab. Sie sahen, wie sich ein kleiner Mann rücksichtslos den Weg durch die Reihen bahnte. Er trug ein Gewehr und starrte fiebrig-irre auf den Bären. Hustend und schnaufend hielt er bei den drei an.

"Wunderbar", entfuhr es ihm.

Sein Blick strahlte etwas Wahnsinniges aus, fand Merlin, ähnlich wie bei den Joggern im Wald, die sich, obwohl offenkundig am Ende ihrer Kräfte und bar jeder Freude an dieser Tätigkeit, weiter vorwärts pushten.

"Ich knall ihn gleich hier und jetzt ab", geiferte er und hob seine Flinte.

Haldimann trat vor und griff sich die Waffe.

"Was soll das", bellte der Mann ungehalten.

"Hier wird nicht einfach los geknallt", bestimmte Haldimann.

"Und deine Fliegenklatsche wird ihn vermutlich nur verletzen, aber nicht töten", mischte sich der Förster ein, "was jagst du sonst damit? Enten? Mäuse?"

Der Mann blickte den Förster verärgert an.

"Angeschossene Raubtiere werden zu Bestien!"

"Pha!"

Der kleine Mann spie auf den Boden. Gelblichgrüner Schleim landete knapp neben den Stiefeln von Haldimann. Der kleine Irre schielte auf den Bären. Eine leichte Beute. Eine wunderbare Trophäe. Der Kleine stellte sich vor, wie er als Vorstand des örtlichen Jagdvereins in die Annalen eingehen würde. In hundert Jahren noch würden sie seinen Namen ehrfurchtsvoll zitieren. Der Bärentöter! Der einzige, der einen Bärenabschuss vorzeigen konnte. Die Chance, berühmt zu werden!

Von Beruf war er Tierpräparator. Das Ausstopfen des Riesenteddys würde ihn glatt zwei, drei Monate beschäftigen. Was für eine Herausforderung an seine berufliche Fähigkeit! Mal was anderes als altersschwache Hunde oder überfahrene Hauskatzen. Hauskatzen präparierte er nicht gerne – er war allergisch und konnte diese Viecher nur präparieren, wenn er vorher Medikamente einnahm.

Hasserfüllt fixierte er Haldimann.

'Der will den Abschuss nur für sich selber beanspruchen, nutzt seine Position schamlos aus', dachte er zerknirscht.

"Hier wird nicht einfach drauf los geknallt", wiederholte Haldimann gereizt.

Er wandte sich an den Förster.

"Nimm Gugger mit und hol den Tierarzt!"

Der Förster nickte, fasste Gugger am Oberarm und zerrte ihn weg. Gugger blickte sehnsüchtig zurück.

'Der hätte mich berühmt gemacht…', dachte er wehmütig.

"War er immer so ruhig?"

Merlin schreckte hoch. Er war vom Auftritt Guggers abgelenkt. Der Kerl hatte schon öfter im Wald auf Eichhörnchen oder Hasen nachgestellt. Getroffen hatte er noch nie, weil sein ständiger Husten sämtliche Bewohner im Wald früh genug vor ihm warnte. Einzig eine Stockente im Schwimmteich hatte er mal erwischt. Man munkelte im Wald, dass das Zufall gewesen sei, denn gezielt habe er auf Konrad, den Dachs.

"War er immer so ruhig?", bohrte Haldimann nach.

Merlin schüttelte den Kopf: was für eine Frage! Ruhige Bären reißen Bäume nieder und fetzen Büsche zu Konfetti – natürlich! Nur ein Mensch konnte eine solch dumme Frage stellen.

Haldimann interpretierte das Kopfschütteln als Antwort.

"Und wie habt ihr es geschafft, ihn zu beruhigen?"

"Mit Zucker – er war nur unterzuckert", maulte Merlin ironisch.

"Echt?"

"Nein, wir haben ihm alle zusammen gezeigt, dass er nicht willkommen ist: wir - alle – zusammen!"

Haldimann nickte anerkennend.

"Mutig!", lobte er.

Die Waldtiere bildeten eine Gasse und der Förster kam mit zwei Männern zurück.

"Hab Feuerwehrkommandant Widmer und den Tierarzt mit gebracht", erklärte der Förster.

Die Männer berieten. Merlin blieb unbeachtet. Er drängte sich nicht auf, weil er offen gestanden froh war, dass die Verantwortung auf andere überging. Er harrte nur weiter aus, damit die Menschen nicht vergaßen, dass es die Waldleute gewesen waren, die den Bären gestoppt hatten.

"Ist das ein Vieh", staunte der Tierarzt und maß den Bären mit professionellem Blick ab.

Merlin flatterte hoch und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.

"Ja, das ist ein Vieh! Ein riesig großes und gefährliches dazu! Wir möchten, dass ihr uns helft, es wieder los zu werden."

Der Tierarzt zuckte zusammen. Er hatte Merlin nicht bemerkt. Er war ganz auf den zusammengekauerten Bären konzentriert gewesen. Mit einer Eule hatte er nicht gerechnet. Die letzte Eule hatte er an der Uni gesehen – auf dem Seziertisch.

"Ihr habt unglaublich interessante Halsgelenke und die Blutversorgung eures Kopfes ist einzigartig im Tierreich. Sonst würdet ihr jedes Mal in Ohnmacht fallen, wenn ihr den Kopf voll dreht", entfuhr es ihn.

Merlin war verwirrt.

"Was hat das mit unserem Problem zu tun?"

"Können Sie den Bären betäuben?", mischte sich Haldimann ein.

'zwei-, dreihundert – etwa, hm – hm - jaja - passt', murmelte der Tierarzt.

"Ja, das sollte gehen. Der Stier vom Bauer Schawalder letztes Jahr war schwerer. Ihr wisst noch, der Stier, der durchdrehte und die Gärten im Dorf verwüstete…?"

"Was hat das mit dem Bären zu tun?", fuhr der Feuerwehrkommandant dazwischen.

"Wegen der Dosis", belehrte ihn der Tierarzt, "wenn's für den Stier gereicht hat, reicht es auch für den Bären."

"Das heißt also ja", schlussfolgerte Haldimann.

"Ja – vermutlich"

"Und wie schafft ihr ihn hier weg?", wollte Merlin wissen.

Der Feuerwehrkommandant trat einen Schritt vor.

"Das schaffen wir: Bagger – Bär krallen – Bär auf Lastwagen – fertig!"

Widmer drückte sich im Dienst immer knapp und verständlich aus. Klare Anweisungen, so hatte er gelernt, verhinderten Fehler und erhöhten die Effizienz. Er plante nicht, sein ganzes Leben nur Kommandant einer Dorffeuerwehr zu bleiben. Er träumte von einem Führungsposten in der Stadt. Die Menschen nickten einander zu.

"Ihr haltet ihn weiterhin in Schach", befahl Haldimann Merlin, "wir kümmern uns um Betäubung und Transport."

Merlin nickte erleichtert. Bald wäre der Albtraum im Wald vorüber. Bald würde wieder Ruhe einkehren. Sie würden wieder streiten und schlecht voneinander reden – wie normal.

Die Männer gingen zurück.

"Was ist? Hauen sie ab?", fragte Eichhörnchen verdutzt.

"Nein", sagte Merlin erleichtert, "sie besorgen sich nur die Mittel, um den Bär zu betäuben und weg zu schaffen."

"Hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns im Stich gelassen hätten", knurrte Eichhörnchen.

Es setzte sich neben Merlin, der tapfer die Stellung hielt.

"Ich bleibe hier!"

"Gut!"

Oben am Abhang ordneten Haldimann und Widmer den wirren Haufen. Befehle erklangen. Haldimann erklärte einer Gruppe von Männern, die genauso unpraktisch gekleidet waren wie er, das Vorgehen. Gemeinsam drängten sie die Gaffer zurück. Die Dorfleute protestierten lautstark, weil sie die Attraktion live miterleben wollten.

Auf dem Land lechzen die Leute nach Abwechslung – egal wie blutig sie ist.

Wortfetzen wie "Sicherheit", "Sicherheitsabstand", "Bestie", "Ordnung" oder "Gesetz" waren zu hören. Endlich schafften es die Leute von Haldimann, die murrende Menge zurück zu drängen. Die Menschen verschwanden aus dem Blickfeld von Merlin und Eichhörnchen. Die Stimmen verklangen und bald war es wieder so still wie vor dem Eintreffen der Menschen.

"Hoffentlich haben sie dich nicht angeschmiert."

"Nein, ich glaube nicht", sagte Merlin müde.

Das Astloch und ein verdöster Nachmittag schienen ihm nach wie vor das Beste, was der Tag bringen konnte.

"Ahnt er, was gleich passieren wird?", raunte Eichhörnchen.

Merlin zuckte mit den Schultern.

Der Bär hatte sich nicht bewegt. Ungerührt hatte er den Auftritt der Menschen verfolgt. Er hatte verstanden, was sie vorhatten. Es war ihm egal. Er mochte nicht mehr – wenn sie ihn in diesem Wald nicht wollten, wo sonst? Für ihn gab es kein Zuhause. Seine Hoffnung, sein Leben ändern zu können, war verflogen. Tiefe Traurigkeit bohrte sich in sein Herz. Er fühlte sich wie verdorrtes Laub, das noch sinnlos am Ast hängt.

'Ich hab's doch gesagt', stachelte die Wut, 'steh auf und hau ab – JETZT!'

Der Aufschrei perlte an ihm ab.

'Sollen sie doch mit mir machen, was ihnen gefällt', dachte er entmutigt.

Dabei sahen das Eichhörnchen und die Eule nett aus. Er hatte gedacht, dass die beiden klug waren und dass er ihnen erklären konnte, was er wünschte. Die hätten ihn verstanden. Vor allem die Eule. Wenn er sie auf seine Seite hätte ziehen können, sie hätte überzeugen können, würde sie ein gutes Wort für ihn eingelegen und die anderen würden ihr zuhören. Aber durch die Ankunft der Menschen war alles anders geworden. Menschen hatten keine Seele. Menschen hatten keine Ahnung davon, was es heißt, alleine und verzweifelt zu sein. Sie spulten ihre immer gleichen, öden Tage ab, stolzierten herum, fuhren mit Autos, zerkratzten Papier oder hockten vor Bildautomaten, setzten sich abends vor andere Bildautomaten und schlüpften am Schluss in ihre Betten. Und am nächsten Tag machten sie wieder dasselbe. Auf seiner Wanderung hatte er die Menschen oft beobachtet und versucht zu verstehen, was sie tun. Er vermutete, dass sie es selber nicht wussten. Die meisten Menschen waren harmlos und langweilig.

Schlimm waren nur die Menschen, die gemein waren. Auch solche hatte er kennen gelernt. Mehr als ihm lieb waren. Die gemeinen Menschen waren der Grund, warum er ruhelos unterwegs war. Leute wie dieser Gugger – seltsame Namen hatten die Menschen – die Unheil und Ärger stifteten, wohin sie auch kamen.

Oben am Abhang entstand Bewegung. Menschen kehrten zurück. Der eine, der vorhin schon ganz nah war, hatte ein Gewehr mit.

'Deine letzte Chance', brüllte die Wut in ihm auf, 'siehst du nicht, was sie vorhaben? HAU AB!'

Seltsam, dachte der Bär, die Wut scheint mehr Angst zu haben als ich.

Er setzte sich auf. Das Eichhörnchen und die Eule wichen erschrocken zurück. Er lehnte sich an die Wurzel und beobachtete teilnahmslos, wie der Tierarzt mit einem Gewehr und der Kerl in Uniform zurückkamen. Der mit der Uniform erinnerte ihn an einen Billetkontrolleur im Zirkus. Oben am Hang entstand wieder Tumult, weil die Menschen nach vorne drängten und sehen wollten, was weiter passierte. Die Ordnungskräfte schafften es nicht, sie zurück zu halten.

Desinteressiert verfolgte der Bär die Schritte der Männer. Der Tierarzt sagte etwas zum Uniformierten was sich anhörte wie "doppelte Dosis – zur Sicherheit". In respektvollen Abstand stellte sich der Mann mit dem Gewehr vor ihn und zielte. Dem Bären war es egal.

'Du bist ein Idiot', raste die Wut.

Verwundert hörte er ein Plopp und sah etwas bunt Schimmerndes auf sich zu fliegen. Ein Stich in der rechten Schulter. Das bunte Etwas steckte da.

'Glauben die, dass sie mir mit Wurfpfeilen etwas anhaben können?'

Er wollte auflachen. Doch plötzlich fühlte sich sein Kopf an, als ob ein schwarzer, schwerer Vorhang vorgezogen wurde. Der Wald vor ihm begann zu schwanken. Er sackte zusammen und bevor die Bewusstlosigkeit eintrat sah er enttäuscht, wie erleichtert die Eule und das Eichhörnchen blickten.


Der Eindringling

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