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Kapitel 3: Dorfgespräch
ОглавлениеNiemand erinnerte sich, wann der Dorfplatz das letzte Mal so bevölkert war. Höchstens der Geschichtsinteressierte wusste, dass das über hundert Jahre her war. Damals, als der Messer-Mörder Alex öffentlich an der Dorflinde gehenkt wurde. An einem Sonntag nach dem Kirchgang, weil die Leute vom Land dann ohnehin nichts anderes zu tun hatten und niemandem das Schauspiel vorenthalten werden sollte.
Messer-Mörder Alex war der einzige Einheimische, der es über die Dorfgrenzen hinaus zu Bekanntheit gebracht hatte. Eine Tatsache, von der die Dörfler nicht wussten, ob sie gut oder schlecht war. Wenigstens hatten sie eine bekannte Persönlichkeit auf zu weisen. Einer, der es in die Geschichtsbücher geschafft hatte – nicht wie die vom Nachbardorf. Die waren so was von Durchschnitt, dass sie nicht einmal einen Mörder vorzeigen konnten.
Alte und junge standen in Gruppen beisammen und tuschelten über den Vorfall im Wald. Die Erzählungen wurden je länger je blutiger. So ging bald die Mär, der Bär habe alle Tiere, nachdem er das Nachbardorf verwüstet hatte, im Alleingang erledigt. Das wiederum gab der Hoffnung Vorschub, dass man jetzt, wo der Wald entvölkert war, endlich die schon lange geplante, überregionale Wald-Sportstätte samt den umsatzbringenden Nebengebäuden, die Gemeindepräsident Koller schon lange versprochen hatte, bauen konnte. Pläne für dieses zukunftsorientierte Projekt existierten schon lange. Den Froschteich hatten sie schon weggeräumt, als die Wollsocken-Ökos vom Nachbardorf verlangten, diesen wieder an zu legen. Dieser Störfaktor schien nach dem Stand der Dinge nunmehr eliminiert zu sein, weil die da drüben jetzt andere Sorgen hatten.
Eichhörnchen und Merlin saßen auf einem Ast der Dorflinde. Im Dorf behauptete man, dass die Spuren des Strickes, der den Messer-Mörder Alex vom Leben in den Tod beförderte, am Ast noch zu erkennen waren. Das war ein Gerücht, denn sämtliche Äste des alten Baumes waren in tadellosem Zustand. Nur den Stamm verunzierten ungeschickt geschnittene Gravuren, die Herzen und Buchstaben darstellen sollten. Die Jahrzehnte hatten die Wunden heilen, aber nicht verschwinden lassen. Selbst ein mächtiger Baum wie die Linde schaffte es nicht, die Spuren der Verwüstung, welche Menschen hinterließen, ganz zu überwinden.
Die beiden staunten über die Betriebsamkeit unten auf dem Platz. Eichhörnchen zupfte Merlin am Flügel und wies auf einen aufgeregten Mann mit hochrotem Kopf. Dieser sprach laut und händeringend auf die Leute in seiner Umgebung ein.
"… sicher einer dieser Amok laufenden Karpatenbären, die dauernd auf Drogen sind. Ernähren sich von Eukalyptus und Bambus und inhalieren Abgase von Pharmafirmen."
Seine Stimme war schrill und erregt. Ein glatzköpfiger, dicker Mann mit blutverschmierter Schürze lachte auf.
"In den Karpaten wachsen weder Eukalyptus noch Bambus."
"Dann fressen sie Fliegenpilze und Tollkirschen und schnüffeln an Tanksäulen – jede Wette!"
Ein junger Kerl mit einer übergroßen, runden Brille auf der Nase mischte sich ein: "In den Karpaten gibt es auch keine Bären!"
Er unterstrich seine Aussage, in dem er die Brille mit dem Finger auf der Nase zurechtrückte. Einfach so tun, als ob man den Durchblick hätte. Der Rotgesichtige ließ sich von der erneuten Korrektur nicht aus dem Konzept bringen.
"Kein Wunder", donnerte er, "sind ja auch alle hier."
Eine andere Gruppe, die sich um Gugger scharrte, unterstützte den Plan, den Bären umgehend zu häuten und aus zu stopfen. Uneins waren sie nur in dem Punkt, ob das häuten vor oder nach dem Erschießen erfolgen sollte. Gugger argumentierte, dass ein Loch im Pelz wertmindernd sei. Er schlug den Vorschlag, das Loch mit einer Werbeplakette seines Betriebes abzudecken, in den Wind. Obwohl die Idee nicht ganz ohne war. Frau Schön, die Kindergärtnerin, unterstützte das Anliegen unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die Kinder zuschauen durften. Sie vertrat vehement die Meinung, dass den Kindern nicht vorenthalten werden durfte, dass Wohlstand und Überfluss auch unschöne Seiten haben.
"Wenn die Kinder sehen, wie hässlich zum Beispiel das Schlachten von Tieren ist, dann gehen sie später verantwortungsvoller mit der Nahrung 'Fleisch' um", schloss sie nervös.
Sie überhörte die ironische Bemerkung eines kräftigen Bauern, dass die Kinder beim Zusehen nichts lernen, sondern sich nur erbrechen würden.
Einige sprachen vom Zoo oder vom Zirkus als Möglichkeit, den Bären zu resozialisieren. Andere widersprachen, dass das Vieh sei bereits zu alt sei, als dass es sich bändigen lassen würde. Festgefahrene Abnormitäten im Verhaltensmuster ließen sich im Alter nicht mehr eliminieren – das könne man bei den Teilnehmern von politischen Debatten sehen, argumentierten sie. Eine henna-rothaarige Frau mit weitem Rock sann mit weicher, verträumter Stimme darüber nach, ob es denn nicht Heime für schwierige Bären gab. Worauf ein schlaksiger Bursche spöttelnd meinte, dass schwierige Bären es nie bis zum Heim schafften – weil sie vorher abgeschossen wurden.
Gemeindeschreiber Amman, der seit zwei Jahren im Dorf lebte und dem viele misstrauten, weil er freiwillig aus der interessanten Stadt in die langweilige Idylle des Dorfes gewechselt hatte, versicherte einigen Umstehenden, dass ein Bär vermutlich auch ohne Ausweise ausgeschafft werden konnte. Eine hohe Frauenstimme unterbrach die Ausführungen von Amman.
"Es geht als doch – das ohne Papiere. Warum geht das bei Bären und Menschen nicht…?"
"Ich meine auch, dass wir ihn dahin zurückschicken sollten, woher er gekommen ist – wenn wir nicht klare Spielregeln setzen, schlagen wir uns schon bald mit hunderten von Bären herum", unterstützte sie ihr Ehemann.
"Die Behörden finden bestimmt einen guten Weg", beruhigte Amman.
"Ist dir auch schon aufgefallen", bemerkte Merlin, "dass die Menschen jedes Mal von den 'Behörden' sprechen, wenn sie nicht mehr weiterwissen? In den Behörden müssen unglaublich gescheite Menschen arbeiten."
Beide kicherten.
Am anderen Ende des Platzes wurden Stimmen laut. Eichhörnchen kletterte höher und sah, dass Gemeindepräsident Koller in Begleitung von Haldimann und dem Förster eingetroffen war. Leute redeten heftig auf sie ein. Dem leeren Lächeln von Koller war an zu sehen, dass er weder verstand, was die Menge um ihn schrie, sich noch darum scherte, was sie wollten. Haldimann und der Förster gestikulierten beschwichtigend und versuchten, mit Koller, der wie ein Eisbrecher über den Platz pflügte, Schritt zu halten. Der Lärm auf dem Platz wurde aufgeregter und alle wandten sich der Gruppe zu. Gleich würden sie erfahren, was Sache war! Gleich würden Mutmaßungen und Unsicherheit durch Informationen und klare Entscheide ersetzt werden. Die drei hatten sich sicherlich im 'zerzausten Löwen', der Schenke gleich gegenüber dem Gemeindehaus, beraten und kamen jetzt, um ihre Beschlüsse zu verkünden. Der Lärm unter der Linde war ohrenbetäubend. Jeder beharrte offenbar darauf, persönlich durch den Gemeindepräsidenten informiert zu werden. Das war ihr gutes Recht, denn schließlich hatten sie ihn auch gewählt.
Merlin landete neben Eichhörnchen.
"Keine Disziplin, die Menschen", beschwerte er sich, "jeder schreit, jeder jammert. In dem Geschrei hört man nichts, selbst wenn der Koller noch etwas sagen würde."
"Du meinst, er sagt nichts?", wunderte sich Eichhörnchen.
"Würde mich erstaunen."
Die beiden beobachteten, wie die Gruppe das Ende des Platzes erreichte, den kleinen Garten vor dem Gemeindehaus durchschritten und wortlos im Gemeindehaus verschwanden.
"Na!", schnippte Merlin, "kein Wort – wie ich vermutet habe. Koller sagt immer erst etwas, wenn er sicher ist, dass er die Mehrheitsmeinung getroffen hat. Er argumentiert gerne mit der Mehrheit und mag keinen Widerspruch. Wenn nötig manipuliert er auch ein bisschen an dem rum, was seinem Gutdünken nach Mehrheitsmeinung sein sollte. Oft führt er Selbstgespräche. Ich weiß es, weil er nachts manchmal in der Amtsstube herum tigert und das Fenster offenstehen lässt."
Er unterbrach seinen Redefluss.
"Wenn im Wald wer so denken würde wie Koller, wir würden ihn sofort bei Gnogörok einweisen…"
Die Aufregung auf dem Platz steigerte sich zum Tumult und Eichhörnchen sah, dass zornig einige Fäuste in der Luft fuchtelten.
"Wo steckt eigentlich der Bär?"
"Ich glaube, die haben ihn in der Krypta der kleinen Kapelle eingesperrt", sagte Merlin.
"Warum auch nicht – die ist sicher!"
Vor dem Dorf stand seit jeher eine alte Kapelle. Darunter lag eine Krypta, ein Keller mit dicken Mauern. Es rankten sich viele Gerüchte und Schauergeschichten um sie. Vor hundert Jahren, während der Gerichtsverhandlung des Messer-Mörders Alex, wurden dicke Eisengitter eingebaut, um Alex sicher zu verwahren. Man munkelte, Alex' gottverlassener Geist wimmere noch da unten.
Früher endete die Osterprozession des Dorfes bei der Kapelle. Doch seit der Ministrant, der das große Kreuz tragen durfte, gleich neben der Kapelle in Ohnmacht fiel, war jeder überzeugt, dass Alex diesen Ort entweiht hatte. Die Tatsache, dass der Ministrant die Nacht vor der Prozession mit seinen Kumpeln alkoholtriefend Geburtstag gefeiert hatte, wurde ignoriert. Die Dorfbewohner nutzten die Kapelle seither nicht mehr. Eine Zeitlang führten die jungen Burschen im Dorf im Verlies die Mutprobe durch. Um dazu gehören zu dürfen, musste jeder im Alter von sechzehn eine Nacht alleine in der Krypta verbringen. Doch auch diese Tradition erlosch. Nicht, weil es den Knaben zu unheimlich und zu düster, sondern weil der Handy-Empfang viel zu schlecht war. Und das war wirklich unheimlich.
Zuerst meinte er, er träume. Die Umgebung war schummerig und klamm – und seltsam still. Wo war er? Wo waren der Wald, die Tiere, die Menschen? Diesen Ort kannte er nicht. Rundum ahnte er mehr als er sehen konnte starke Mauern. Mühsam rappelte er sich hoch. Er wankte zu einer dieser Wände.
'Menschenwände', brummte er und stemmte sich dagegen. Sie war stabil und es schien sinnlos, seine Kraft und sein Glück an den anderen Wänden zu versuchen. Außerdem schwirrte der Kopf und die Muskeln fühlten sich an wie Pudding. Der Wurfpfeil fiel ihm ein. Er prüfte seine Brust, doch das lästige Spielzeug war weg. Seine Augen gewöhnten sich an die knappen Lichtverhältnisse. In der gegenüber liegenden Wand erkannte er ein dunkles Loch. Mit schwankenden Schritten tapste er hinüber. Das Loch war ein Durchbruch in der Wand. Dahinter strebte eine steile, gewundene Steintreppe nach oben. Nach sechs, sieben Stufen verschwand sie hinter dem Bogen. Die Treppe war noch dunkler als der Raum, in welchem er steckte. Der Durchgang war mit einem dicken Eisengitter verschlossen. Ohne große Hoffnung rüttelte er daran. Das Gitter widerstand seiner Kraft problemlos. Nur eine funkelnde Stahlkette, die mit einem neuen, schweren Schloss abgesperrt war, rasselte leise. Einige Augenblicke schaute der Bär müde und traurig auf die Stufen, die in die Freiheit führten.
Er wandte sich um und inspizierte den Raum. Vier massive Wände, zwei massiv, eine mit dem Durchgang zur Treppe eine andere mit einem kleinen Durchlass nach draußen. Der Durchlass lag hoch oben und war eng. Selbst wenn er sich mit Schmieröl eingerieben hätte, die schmale Spalte war für seinen big-size Körper unpassierbar. Sehnsüchtig blickte er hoch und war froh, dass durch diesen Schacht wenigstens ein bisschen Licht herein drang. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er ein kleines Stück Himmel sehen. Sogar die düsteren Wolken draußen waren besser als die stummen, grauen Wände dieses Gefängnisses.
'Gefangen – die haben mich eingelocht!'
Es gab nichts Schrecklicheres, als gefangen zu sein. Das war schlimmer als hungrig, durstig oder müde zu sein. Schlimmer als alleine, traurig oder krank zu sein.
Gefangen!
Aus seiner Kehle drang ein verzweifeltes Wimmern, welches man einem kleinen, verschüchterten Kind, aber nicht einem Bären zugetraut hätte.
Gefangen!
'Die hätten mich besser erschossen', dachte er verzweifelt.
Der Abend brach herein. Im Gemeindehaus ging im Büro des Gemeindepräsidenten das Licht an. Die Versammlung auf dem Platz murrte und schimpfte jetzt nicht nur über den Bären, sondern auch über den Gemeindepräsidenten. Beide, Bär und Gemeindepräsident, benahmen sich wie Elefanten im Porzellanladen und der einzige Unterschied zwischen den beiden war, dass Koller einen Computer bedienen konnte – oder dies zumindest vorgab.
Zuerst verließen nur einzelne, dann kleine Gruppen und dann ganze Scharen den Platz. Sie kannten ihren Gemeindepräsidenten. Vor morgen würde er keinen Entscheid mitteilen. Einzig der Wirt des 'zerzausten Löwen' hatte seine helle Freude, denn sein Lokal war seit Stunden gerammelt voll. Der Wirt wünschte sich, dass der Bär noch lange Gesprächsthema bliebe und hoffte, dass Koller den Entscheid bedächtig reifen ließe.
Mittlerweile waren der Tierarzt und eine ältere, ruhig wirkende Frau aus der Stadt angekommen und zusammen mit Amman in der Amtsstube von Koller verschwunden. Das würde eine lange Nacht werden, freute sich der Wirt. Er kannte die Politik: je mehr Leute zusammen ein Problem besprachen, desto länger dauerte die Besprechung und umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass eine Lösung gefunden wurde. Von ihm aus hätten noch mehr Gesprächspartner in der Amtsstube des Gemeindepräsidenten sein können.
"Ich glaube, hier passiert nichts mehr", vermutete Eichhörnchen.
Merlin, der sich aufgeplustert hatte und vor sich hindöste, schrak hoch und nickte.
"Ich geh jetzt", sagte Eichhörnchen.
Es beneidete Merlin um dessen wärmendes Gefieder. Es selber war klatschnass und sein buschiger Schwanz, auf den es so stolz war, sah aus wie eine Zahnbürste, die schon viel zu lange im Gebrauch war.
"Du hast recht", stimmte Merlin zu.
Merlin schüttelte sich. Der Tag hatte ihn mitgenommen. Das Beste daran war, dass das Problem jetzt bei den Menschen lag und dass sie im Wald zur Normalität zurückkehren konnten.
"Nacht", nuschelte er.
Eichhörnchen ärgerte sich, weil Merlin nach dem knappen Gruß in die Dämmerung flog.
'Hätte mich wenigstens nach Hause begleiten können', ärgerte es sich.
Es eilte auf dem Feldweg zum Wald zurück. Der Nieselregen machte Pause und ein blasser Halbmond guckte verwundert zwischen den ziehenden Wolken hindurch. Der Feldweg lag leer und verlassen da. Keine Biker mit verzerrten Gesichtern und überhöhter, von überspanntem Ehrgeiz gepeitschter Geschwindigkeit oder fröhliche, halb blinde Rentner auf E-Bikes. Biker und Rentner waren eine Art Nahtoderfahrung für unvorsichtige Kleintiere!
Der Weg führte über den kleinen Hügel vor dem Dorf, an der Kapelle vorbei und dann in gewundenen Kurven in den Wald hinein. Auf halber Höhe vernahm es ein Geräusch, als ob starker Herbstwind durch einen Holzstapel fegte. Ein hohes, nerviges Summen, das wie eine Welle lauter und leiser wurde. Eichhörnchen stoppte seinen Lauf.
'Seltsam, es ist doch windstill.'
Lauschend verharrte es. Jetzt war es wieder ruhig und Eichhörnchen setzte sich erneut in Bewegung. Es erreichte den Hügel und sah den Wald, der in seiner stummen Dunkelheit Sicherheit und Ruhe versprach. Einige Wolken, die es sehr eilig hatten, schoben sich vor den Mond und tiefe Dunkelheit breitete sich über der Landschaft aus. Eichhörnchen hatte keine Lust, in die regennassen Gräser zu geraten und ging vorsichtig weiter, bemüht auf dem einigermaßen trockenen Feldweg zu bleiben. Ein Schatten strebte neben ihm in die Höhe.
"Schon bei der Kapelle', dachte Eichhörnchen erleichtert, 'ist nicht mehr weit.'
Es war bereits an der Kapelle vorbei, als das Geräusch wiedereinsetzte. Es war, als ob die Erde wimmerte. Eichhörnchen fürchtete sich nicht vor Geräuschen! Trotzdem kauerte es sich dicht an den Boden und spitzte die Ohren. Das Geräusch kam nicht aus dem Boden, sondern aus der Kapelle. Jetzt rasselte es, als ob eiserne Ketten aneinandergeschlagen würden.
'Alex' Stimme!'
Eichhörnchen kannte die Gerüchte über die Kapelle. Es wusste, dass irgend so ein Kerl hier eingesperrt war, bis man ihn hängte. Alex hieß er. Und man erzählte, dass seine Seele im Verlies unter der Kapelle herumgeisterte und jammerte, weil er in der Hölle schmoren musste. Eichhörnchen schüttelte trotzig den Kopf.
"Menschengeschwätz. So etwas wie Geister gibt es nicht!"
Plötzlich fiel ihm ein, dass der Bär hier eingesperrt war.
'Kann ein Bär, so ein riesiges Ding, solch jämmerliche Töne von sich geben? Oder wird er von Alex gequält? Der soll ja ziemlich handgreiflich gewesen sein, wie man so sagt.'
Der Mond hatte wieder eine Lücke zwischen den Wolken erobert und beleuchtete das alte Bauwerk. Eichhörnchen erkannte den Turm und das verwitterte Dach der Kapelle. Vorsichtig näherte es sich. Das Jammern kam aus dem vergitterten Loch, das seitlich an der Mauer zu sehen war. Es wirkte wie ein schwarzer, gieriger Schlund.
'Dürfte wohl der Lichtschacht der Krypta sein.'
Das Wimmern kam ohne Zweifel aus dem Schacht. Argwöhnisch spähte es in die Dunkelheit hinab. Wenn da ein Geist wäre, dann würde es ihn sehen. Geister, so wusste es, sahen aus wie leuchtender Nebel. Aber da war kein Nebel und erst recht kein Leuchtender. Es war stockdunkel. Eichhörnchen hielt sich am Gitter fest und beugte sich in die Schwärze. Lange starrte es in die Dunkelheit, bis es im fahlen Licht des Mondes eine Bewegung unter sich erkannte. Der große, wimmernde Schatten war der Bär. Eichhörnchen hatte genug gesehen und kletterte zurück. Langsam machte es sich auf den Weg nach Hause. Der Mitleid erregende Zustand des Großen da unten machte ihm trotz allem zu schaffen. Es lachte grob auf: 'Jetzt weiß ich, was "er-Bär-mlich" bedeutet: es hockt da unten in der Krypta.'
Sein Lächeln gefror im Gesicht. Es war falsch, Witze über die verzweifelte Gestalt da unten im Loch zu reißen. Verzweifelt - und einsam.
Die sanfte Morgensonne drang durch den Luftschacht und warf einen hellen, scharfen Fleck an die Wand. Das Licht gab ihm die Zuversicht zurück. Er musste irgendwie hier rauskommen. Er schluchzte noch ein paar Mal auf und erkundete den Raum erneut. Vielleicht war ihm am Vorabend etwas entgangen. Ein Riss, eine Geheimtür oder sonst etwas in der Art. Er tastete die Wände ab, drückte mal hier, mal dort, rüttelte am Gitter. Er fand keinen Weg aus dem Gefängnis. Der einzige Weg nach draußen führte durch das eiserne Tor und über die Treppe. Sein Magen verlangte knurrend nach einem Frühstück. Wo war sein Rucksack? Da waren zwei Kräcker drin und er konnte sich mit seinem Fotoalbum trösten. Achtmal durchschritt er mit scharfem Blick den Kellerraum. Der Rucksack war nicht da. Nur Müll: Plastikflaschen, Papierfetzen, Zigarettenstummel – aber kein Rucksack.
'Wäre ich ein Mülleimer, ich hätte genug zu futtern…'
Verbittert hockte er sich in die Ecke und starrte auf den Durchgang. Er ordnete den letzten Tag in seinem Kopf. Irgendwann würde sicher jemand vorbeikommen. Das hoffte er wenigstens.
Eichhörnchen hatte schlecht geschlafen. Ob vor Aufregung oder weil ihm der verzweifelte Bär nicht aus dem Kopf ging, wusste es nicht. Müde grübelnd knabberte es ein paar Nüsse. Der Himmel war immer noch düster, aber es regnete nicht mehr. Unschlüssig zwinkerte es in den Himmel. Der Bär – die Menschenmenge gestern Abend – Merlin – der Bär – immer wieder der Bär. Eichhörnchen war fasziniert von der kraftstrotzenden Gestalt des Riesen. Da steckte nicht nur ein Bäume killender Rabauke drin. Da war es sich sicher. Unvermittelt war es auf dem Weg zur alten Kapelle
Völlig außer Atem erreichte es die Kapelle. Nach Luft ringend schlich es sich zum vergitterten Lichtschacht. Aufgeregt lauschte es. Kein Laut war zu hören. War der Bär weg? Hatte ihn in der Nacht jemand weggeschafft? Vorsichtig spähte es durch den Lichtschacht. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sich die Augen an die Düsterkeit in der Krypta gewohnt hatten. Es erblickte ein paar braunbepelzte, riesige Füße. Der Bär lehnte offenbar an der Wand gegenüber dem Ausgang. Eichhörnchen raffte allen Mut zusammen und kletterte zum Rand des Lichtschachtes. Jetzt sah es den Bären in voller Gestalt. Er hockte an der Wand und starrte unbeirrt auf das Eisengitter.
"Pst"
Der Bär reagierte nicht.
"Pst"
Eichhörnchen war beleidigt. So klein, dass der Bär es nicht hören konnte, war es nicht.
"Hey, Bär", rief es laut.
Der Zottlige wandte den Kopf und starrte hoch. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen – weder Erstaunen, noch Ärger noch sonst irgendetwas. Eichhörnchen räusperte sich.
"Geht es dir gut?"
-
"Ich bin Eichhörnchen"
-
"Wie heißt du?"
-
"Woher kommst du?"
Der Bär starrte immer noch. Seine Schnauze blieb verschlossen, als ob sie verklebt wäre. Eichhörnchen schauderte. Es erinnerte sich an den Kaugummi, den es einmal im Wald gefunden hatte. Da die Menschen das Zeug offenbar sehr mochten, wollte es wissen, wie es schmeckt. Der Kaugummi klebte ihm sein Maul zu und es wäre verhungert, wenn nicht Herr Specht die klebrige Masse heraus gepuhlt hätte. Die Erfahrung blieb Eichhörnchen in schlechter Erinnerung: wer mag es schon, wenn ein Vogel mit seinem Schnabel einem im Mund herumstochert? Merlin hatte sich damals an Eichhörnchens Missgeschick ergötzt und lakonisch bemerkt, dass er jetzt endlich eine Möglichkeit entdeckt habe, es mundtot zu machen.
"Ich wohne drüben im Wald. Wir haben uns gestern schon gesehen. Weißt du noch?"
"Hm"
Zumindest schien der Bär zu verstehen.
"Du hast uns ganz schön erschreckt!"
-
"Sagst du mir jetzt, wie du heißt?"
Der Bär drehte Eichhörnchen den Rücken zu. Lass mich in Ruhe, sollte das wohl bedeuten. Eichhörnchen sprang vom Mauerabsatz und landete mitten in der Krypta.
'Ich bin verrückt!', schoss es ihm durch den Kopf.
Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Der einzige Fluchtweg führte durch das Eisengitter zur Treppe hinaus. Eichhörnchen schätzte ab, wie schnell so ein Bär sein konnte. Es traute sich zu, im Gang in Sicherheit zu sein, bevor der Bär sich auch nur bewegte. Zwei, drei Sprünge bis zur Treppe – leicht zu schaffen!
Der Bär war überrascht, dass das kleine, freche Ding wagte, ihm so nahe zu kommen. Langsam wandte er sich um und nahm das Eichhörnchen in Augenschein. Wenn er sich nicht irrte, war es dasselbe, welches er gestern gesehen hatte. Es war einer der beiden Klorollenträger. Er staunte, wie viel Mut in einen so kleinen Körper passte.
"Ich will dir nichts tun!", fuhr das Eichhörnchen fort.
Er konnte nicht anders: er brüllte auf vor Lachen – was erzählte der Zwerg da: er wolle ihm nichts tun.
Eichhörnchen flitzte durch das Eisentor und blickte zitternd von der Treppe zurück. Der Bär hatte es angreifen wollen! Mit pochendem Herzen verfluchte es seine Neugier und die unbedachte Waghalsigkeit, in die Krypta zu hopsen. Gleich würde der Bär aufspringen, zum Gitter rennen und daran rütteln. Der Bär blieb aber sitzen und, und…
"Der lacht ja", murmelte Eichhörnchen erstaunt.
Der Bär wischte sich Tränen aus den Augen und beruhigte sich langsam. Dann winkte er Eichhörnchen zu sich.
'Jemand der lacht, will einen nicht gleich auffressen", dachte es und kroch unter dem Gitter durch.
"Tschuldigung", japste dieser, "war lustig!"
Eichhörnchen konnte sich keinen Reim darauf machen, was denn so lustig gewesen sein sollte.
"Magst du jetzt mit mir reden?"
Der Bär zuckte die Schultern.
"Wie heißt du?"
"Buddlibär"
Buddlibär – so heißt doch niemand, dachte Eichhörnchen.
"Du nimmst mich wohl auf den Arm!"
Der Bär schüttelte den Kopf
"Buddlibär – so heiße ich. Buddlibär."
"Und woher kommst du?"
-
"Weißt du nicht, wo du herkommst?", bohrte Eichhörnchen nach.
Langsam schüttelte der Bär seinen Kopf.
"Nein", sagte er mit brüchiger, trauriger Stimme.
"Das gibt’s doch nicht!"
-
"Und was machst du hier?"
-
"Warum hast du uns gestern so erschreckt?"
-
Der Bär hing seinen Gedanken nach. Er nahm nicht wahr, dass er Gesellschaft in seinem Verlies hatte.
"Was ist los mit dir?"
-
Eichhörnchen sah ein, dass der Bär keine Lust für eine Unterhaltung hatte.
"Der hat echt ein Problem. Typischer Fall für Gnogörok", schimpfte es halblaut, "ich gehe dann wieder. Tschüss!"
Eichhörnchen schlüpfte unter dem Gitter durch und sprang die Treppen hoch.
"Der Rucksack – hast du meinen Rucksack gesehen?"
Eichhörnchen hielt inne.
"Was?"
"Ich vermisse meinen Rucksack."
"Ich erinnere mich", sagte Eichhörnchen stirnrunzelnd, "bei der Wurzel, wo wir – die Menschen meine ich – dich erwischt haben."
"Genau den – ich brauche ihn."
"Wozu? Hast du eine Feile da drin?"
Der Bär ließ sich nicht aufmuntern.
"Ich brauch ihn einfach – ist alles was ich habe", nuschelte er.
Eichhörnchen überlegte einen Augenblick.
"Ok, ich geh ihn suchen."
"Danke", murmelte der Bär.
Eichhörnchen blickte über die Schulter zurück. Der Bär war wieder in diesem Dämmerzustand, vor sich hinstarrend und stumm. Es eilte die Stufen hoch und schlüpfte aus der Kapelle.
'Buddlibär – der verulkt mich doch'
Es eilte zum Wald zurück.
Die Lichtung sah nicht ordentlicher aus, als am Abend zuvor. Die gefällten Bäume und das von unzähligen Füssen, Pfoten und Hufen vermanschte Laub erzählten von der Geschichte, die hier stattgefunden hatte. Keine Seele war zu sehen. Eichhörnchen hüpfte zur Wurzel, wo sie den Bären erwischt hatten und blickte sich um. Vom Rucksack war keine Spur zu sehen.
"Der war hier, genau hier", spornte es sich an.
Eichhörnchen umkreiste die Wurzel, blickte unter die Äste, schnupperte an Spuren.
"Vielleicht war es ein anderer umgestürzter Baum"
Es suchte die anderen Wurzelstöcke ab. Nein, es hatte sich nicht geirrt. Bei allen anderen war der Boden noch unberührt. Nur bei dem einen waren Spuren zu sehen. Es ging zurück.
"Aber er muss doch da sei…"
Hatten die Menschen den Rucksack mitgenommen? Möglich war es. Sie ließen zwar alles Mögliche im Wald liegen, aber nie Wertsachen.
"Einer hat sicher den Rucksack mitgehen lassen", empörte sich Eichhörnchen.
Es wollte zu Merlin zu gehen, um die Sache zu besprechen, als es verdächtige Spuren sah. Es hatte während der Nacht geregnet. Die Spuren vom Vortag waren verwischt und undeutlich. Quer über diese entdeckte Eichhörnchen frische Spuren.
"Dachs!"
Es untersuchte weiter.
"Kleiner Dachs – Kleiner Dachs mit Übergewicht - Kuno!"
Kuno war offenbar war heute Morgen hier gewesen. Eichhörnchen schätzte ihn sofort als potentiellen Rucksackdieb ein.
"Sähe ihm ähnlich", dachte es verärgert.
Ohne Umschweife machte es sich auf den Weg zum Dachsbau.
'Der wird was von mir hören!', dachte es grimmig.
Der Dachsbau, den Kuno mit seinen Eltern bewohnte, lag gut geschützt unter einem riesigen Findling. Die Menschen nutzten diesen Stein gerne für ihre Picknicks. Kuno freute sich darüber, denn Menschen ließen alles liegen – auch Essbares. Kuno liebte die Kräcker, Chips, Süßigkeiten – einfach alles, was mit gesunder Nahrung nichts zu tun hatte. Waren die Besucher endlich weg, durchwühlte er das Gras und stopfte alles was er fand in sich hinein. Diese Fressorgien sah man Kuno an: sein Bauch war rund und sein Gesicht hatte stets den Ausdruck, der zufriedenen Schleckmäulern zu eigen ist. Wenn er wegen seiner Fülle geneckt wurde, erwiderte er schnodderig, dass er nicht dick, sondern dass er das Winterfell nicht abstoßen könne und das Ganze eine Art optischer Täuschung sei.
Der Dachsbau wurde auch von Knack, einem stets übellaunigen Fuchs, beansprucht. Er behauptete, dass die Dachse den Bau hinterhältig seinem Großvater abgeschwatzt hätten. Er, Knack, sei der rechtmäßige Besitzer dieser Höhle. Dachsens hielten dagegen, dass das nicht stimme: der Findling hieß 'der Dachsstein', was Beweis sei, dass die Höhle schon seit jeher Dachsbesitz war. Knack konterte, dass es früher 'Fuchsstieg' genannt wurde, woran sich im Wald jedoch niemand erinnern konnte. Er vermutete eine hinterhältige, waldumfassende Verschwörung, um ihn von seinem Eigentum fern zu halten. Eine kleingeistige Revolution, die von den Vegetariern, diesen eigennützigen Grünzeugfressern, angezettelt war, weil er konsequent gegen den Vertrag votierte, wann immer er danach gefragt wurde. Da alle seine aktuelle Bleibe kannten wunderte es niemanden, dass er alles tat, um an was Besseres zu kommen. Er wohnte ihn einem verbeulten, rostigen Fass bei der alten Müllhalde, wo die Menschen jahrelang ihren Abfall abgelegt hatten. Vor einigen Jahren buddelten sie den Dreck aus und transportierten ihn weg – wohl in einen anderen Wald, vermutete Eichhörnchen. Doch eine ganze Menge von dem blieb Kram liegen oder war in der Erde versickert. Wenn es lange warm war, stank die Gegend schlimmer als der Mundgeruch von Rabulan, einem längst verstorbenen Kaninchen mit Karies. Bei den Waldleuten hieß der Ort darum 'Rabulans Atem'. Nach langem Regenfall glänzte das Bächlein in der Nähe in allen Farben des Regenbogens. Tiere, die nachts unterwegs waren, berichteten, dass das Wasser leuchte.
Knack behauptete, dass Wolfsblut in ihm fließe. Das erzählte er jedem, der es wissen wollte und auch jedem, der es nicht wissen wollte. Merlin meinte, dass es nicht das Wolfsblut sei, das Knack so unausstehlich machte, sondern die Substanzen aus der alten Müllhalde. Er hatte Knack schon geraten, sich einen neuen Fuchsbau zu graben. Knack lehnte den Vorschlag hochnäsig mit der Bemerkung ab, dass sich das mit seiner Wolfsehre nicht vereinbaren lasse.
Eichhörnchen erreichte den Dachsbau. Die Spuren, denen es gefolgt war, liefen am Bau vorbei. Eichhörnchen schlich um den Findling. Daran angelehnt und gierig im Rucksack wühlend, entdeckte Eichhörnchen den Dachs.
"Hab dich!"
Eichhörnchen sprang vor Kuno. Er stieß einen spitzen Schrei aus und ließ den Rucksack fallen.
"Was fällt dir ein!", donnerte Eichhörnchen.
Es wusste, dass man diesen Flegel nicht zu Wort kommen lassen durfte. Es galt Druck zu machen und diesen aufrecht zu erhalten.
"Ich – ich…?"
"Wer sonst! Warum hast du den Rucksack des Bären geklaut – gib her!"
"Der braucht ihn doch nicht mehr", verteidigte sich Kuno.
"Los mach – her damit!"
Verdutzt schob der Dachs den Rucksack dem zornigen Eichhörnchen zu.
Eichhörnchen setzte sich auf den zerlumpten Rucksack.
"Was hast du da raus genommen", bohrte es nach.
"Nichts – nur…"
"Was nur!"
"Da war ein Riegel drin – sonst nichts", wiegelte Kuno ab.
"Wo ist der Riegel?"
Kuno grinst und tippte auf seinen Bauch.
"Fresssack", tadelte Eichhörnchen.
Es öffnete die Lasche. Kuno hatte mit seiner Wühlerei ein wüstes Durcheinander angerichtet. Eichhörnchen zog eine kleine Holzschachtel und ein Buch heraus.
"Da ist nichts drin", sagte Kuno, "nur Kram."
"Kram?"
"Nichts zum Futtern!"
Eichhörnchen öffnete die Holzschachtel. In einer Plastiktüte geschützt sah er einen Prospekt, ein zerbrochenes Kunststoffstück und ein zerrissenes Blatt Papier. Der Prospekt war in einer Sprache verfasst, die Eichhörnchen nicht kannte. Auf der Vorderseite waren ein Zelt, einige Tiere und ein Jongleur abgebildet.
"Vermutlich was mit Zirkus", brummte es.
Es packte die Plastiktüte in die Holzschachtel zurück und verstaute diese im Rucksack. Böse blickte es Kuno an.
"Das hättest du nicht machen dürfen. Du schnappst jetzt den Rucksack und kommst mir – verstanden?"
"Wohin?"
"Ver – stan - den?"
Kuno knickte ein und schnallte sich den Rucksack um.
"Hab eh nichts Besseres zu tun."
Kuno folgte dem Eichhörnchen bis zu Merlins Baum.
"Du wartest hier!"
Eichhörnchen kletterte den Stamm hoch und schaute in die Wohnung von Merlin. Dieser kauerte aufgeplustert in der Ecke und schien zu schlafen.
"Bist du wach?", flüsterte Eichhörnchen leise.
Die Eule reagierte nicht.
"Bist du wach", rief Eichhörnchen laut.
Merlin kippte wie eine Porzellanfigur vornüber und landete unsanft auf dem Schnabel.
"Wer, was…", stotterte er verwirrt.
"Gut, dass du wach bist", sagte Eichhörnchen ungerührt, "ich befürchtete schon, du schläfst."
Merlin rappelte sich hoch und blickte Eichhörnchen zornig an. Er hatte geträumt, dass die Schleiereulin vom Tobelwald, ein wunderbares Geschöpf, mit ihm zusammen auf der Jagd war und…
"Ich glaube, wir haben ein Problem", fuhr Eichhörnchen fort.
"Das Problem haben jetzt die Menschen", murrte Merlin schlaftrunken.
"Du weißt genau, dass die Menschen nicht in der Lage sind, Probleme zu lösen – sie schaffen sie nur."
"Da kann ich dir nicht widersprechen."
"Ich war beim Bären und…"
"Du warst WO?"
"Beim Bären, unten in der Krypta."
"Bist du verrückt?"
Eichhörnchen schüttelte den Kopf.
"Er ist sehr traurig."
Merlin schaute neugierig.
"Und er hat mich gebeten, seinen Rucksack zu bringen."
"Der liegt wahrscheinlich immer noch dort, wo sie ihn erwischten."
"Nein, Kuno hat ihn geschnappt und alles Essbare darin verputzt. Aber da lagen noch andere Dinge drin."
"Was denn so?"
Merlin war neugierig geworden.
"Das möchte ich dir gerne zeigen und deine Meinung dazu hören."
Eichhörnchen schlüpfte aus dem Eulenloch. Merlin schüttelte sich und folgte seinem Freund. Kuno zuckte zusammen, als Merlin neben ihm landete. Hoffentlich sagte sein Lehrer nichts wegen des Aufsatzes, den er noch nicht abgegeben hatte.
"Schlechtes Gewissen?", grinste Merlin.
"Schlecht geschlafen…"
"Gib den Rucksack her", forderte Eichhörnchen.
Der Reihe nach sortierte es die Habseligkeiten des Bären neben dem Rucksack.
"Was meinst du", fragte Eichhörnchen neugierig.
Merlin studierte die Dinge, die vor ihm ausgebreitet auf dem Waldboden lagen.
"Was ist da drin?"
Er deutete auf das Buch.
"Fotos – kein einziges von ihm. Er heißt übrigens Buddlibär."
"Niemand heißt so doof", murmelte Merlin abwesend und blätterte im Album. Eichhörnchen hatte Recht. Da waren Bilder von anderen Tieren, einem Zirkuszelt, seltsam geformten Gebäuden und Landschaften, die Merlin in dieser Art nicht kannte. Und er war schon eine ganze Ecke herumgekommen.
"Was ist das?"
"Ein Papierschnipsel. Sieht aus wie ein zerrissener Brief."
Merlin begann zu lesen:
Liebes Kind,
unendlich s
mein Herz, w
von mir
Ich w
Li
Der C
dass wir
"Wirst du daraus schlau?"
"Nein", gab Merlin zu.
"Darf ich mal sehen", mischte sich Kuno ein.
Merlin warf ihm einen zornigen Blick zu.
"Du hast jetzt Pause!"
Unzufrieden trollte sich Kuno. Warum konnte Merlin das nicht einmal während der Schule sagen.
"Was meinst du?"
"Und du sagst, der Bär ist sehr traurig?"
Eichhörnchen nickte. Merlin ordnete seine Gedanken.
"Wenn ich mir das so ansehe", begann er nachdenklich, "dann kommt der eindeutig nicht aus der Gegend. Ich meine, dass die Bilder etwas mit seiner Herkunft zu tun haben. Schau dir nur die Gebäude an: so etwas findest du bei uns nicht. Dann ist mir aufgefallen, dass die Schriftzeichen, die auf einigen Fotos zu sehen sind, fremd sind."
"Wie die vom Prospekt", unterbrach Eichhörnchen aufgeregt.
"Genau! Weiterhin fällt mir auf, dass er auf keinem Bild zu sehen ist. Als ob er keine Familie hat."
"Vielleicht ist er ein Findelbär und sucht seine Familie."
"Das habe ich mir auch überlegt. Das passt allerdings nicht zu den Fotos aus dem Zirkus. Fast die Hälfte der Fotos wurde da gemacht. Möglich, dass er ein Zirkusbär war."
"Und sucht jetzt den Zirkus? Vielleicht vom Wagen gefallen, als der Zirkus umzog."
"Möglich, möglich. Aber wie kommt er zu uns? Er muss unglaublich weit gelaufen sein. Vielleicht ist er auf der Flucht. Weg vom Zirkus. Hat vielleicht einen Clown gefressen oder so", sinnierend in die Weite blickend unterbrach er seine Gedanken, "wie Clowns wohl schmecken mögen? Ich meine wegen der Farbe im Gesicht?"
"Und was sucht er in unserer Gegend?", ignorierte Eichhörnchen Merlins Gedankengang.
"Keine Ahnung", gab Merlin zu, "vielleicht ist er nur auf Durchreise. Vielleicht hat er gar kein Ziel. Vielleicht ist er nur ein zu groß geratener Lemming – und am Schluss stürzt er sich ins Meer."
Eichhörnchen verstand nicht. Manchmal drückte sich Merlin seltsam aus.
"Meinst du, dass er gefährlich ist?"
"Hm – eher nein. Aber er hat so seine Phasen, wie wir seit gestern wissen. Und dann ist er gefährlich!"
"Vielleicht war das Wetter schuld. Du weißt schon – wochenlanger Regen schlägt aufs Gemüt."
"Warum verteidigst du ihn?", fragte Merlin verwundert.
Eichhörnchen zögerte.
"Ich glaube, dass es ihm schlecht geht, weil er alleine ist. Vielleicht hat er Burnout. Ich möchte ihm helfen. Ich glaube nicht, dass er gefährlich ist."
"Schon möglich. Aber du kennst ihn kaum."
"Was ist n' Bärout? Ist das ansteckend", mischte sich Kuno ein. Die verärgerten Blicke von Eichhörnchen und Merlin ließen ihn verstummen.
"Hattest du gestern auch nur einmal das Gefühl, dass er uns schaden wollte?", fuhr Eichhörnchen fort.
"Nein."
"Also!"
"Das ist doch kein Beweis. Er war müde vom Baumkillen und erstaunt, ja erschrocken, dass wir uns ihm entgegenstellten."
"Ich hatte in der Krypta den Eindruck, dass er Freunde sucht. Dass er alleine ist und dass er alles dafür tun würde, um irgendwo dazu zu gehören. Wenn man ihn nur eine Chance gäbe."
"Ich kann dir nicht widersprechen", sagte Merlin langsam, "so ähnliche Gedanken spukten gestern auch in meinem Kopf herum. Er schien so gemeinschaftssüchtig, dass ich dachte, dass, wenn er in einen Anzug passen würde, er sogar für eine Freikirche missionieren ginge."
Eichhörnchen packte die Habseligkeiten zurück in den Rucksack und winkte Kuno her.
"Du schleppst den für mich", ordnete es an.
Kuno warf sich den Rucksack über die Schulter.
"Wohin geht’s?", rief er fröhlich.
"Zur Krypta!"
"Wohin?"
"Zum Bären – Rucksack zurückbringen. Los!"
Kuno wurde ganz aufgeregt: er würde den Bären sehen – von ganz nah. Das war besser als eine abgeschriebene Bestnote in Naturkunde.
Kuno löcherte Eichhörnchen mit Fragen und wollte über jede Einzelheit Bescheid wissen. Eichhörnchen kam der Weg zur Kapelle noch nie so lang vor und seufzte vor Erleichterung, als das Gebäude endlich auftauchte. Durch ein zerbrochenes Fenster an der Rückseite drangen sie in die Kapelle ein und stiegen die Stufen zur Krypta hinab. Es war unheimlich hier unten. Wenigstens war Kuno still. Seine Großmäuligkeit hatte den Einstieg durch das Fenster offensichtlich nicht geschafft. War wahrscheinlich an einer gezackten Scherbe des zerbrochenen Fensters hängen geblieben. Zögerlich und mit bangem Blick schritt er hinter Eichhörnchen. Vor dem Eisentor blieben sie stehen.
"Hey, pst – ich bin's, Eichhörnchen."
Kuno sah einen riesigen Schatten aus der Krypta auf sie zukommen. Ängstlich wich er zurück, stolperte über die unterste Stufe und klatschte mit dem Hintern auf die Treppe.
"Pass auf", sagte der Bär, "sonst geht noch was kaputt."
"Gib ihm schon seinen Rucksack", drängte Eichhörnchen.
Ohne den Riesen aus den Augen zu lassen, streifte Kuno den Rucksack von den Schultern und rutschte in kleinen Schritten, die Habseligkeiten des Bären mit ausgestreckten Arm haltend, auf das Eisengitter zu. Der Bär griff durch die Stangen und schnappte sich seinen Rucksack.
"Danke", murmelte er.
Er öffnete seinen Beutel und kramte.
"Dachte, da sei noch ein Riegel drin."
"Muss wohl rausgefallen sein?", sagte Kuno, der wieder hinten bei der Treppe stand.
Der Bär grinste.
"Hat hoffentlich geschmeckt."
Kuno schluckte und nickte.
"Ich bin froh, dass ich meine Sachen wieder habe", sagte Buddlibär mit dankbarem Blick.
Eichhörnchen schlüpfte unter dem Gitter durch. Kuno stockte der Atem.
"Vielleicht kann ich noch mehr für dich tun."
"Was denn noch? Ich habe jetzt alles was ich besitze wieder."
"Ich könnte dir helfen, dass du hier fair behandelt wirst."
"Das wäre schön."
Eichhörnchen winkte ab.
"Erwarte nicht zu viel. Ich möchte nur verhindern, dass die Menschen unfair sind. Du hast das nicht verdient."
"Danke", brummte der Bär.