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VORWORT
ОглавлениеIn Sachbüchern kommt das Wörtchen »ich« selten vor, auch in diesem. Aber da, wo es vorkommt, liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses Buches, auch seines Autors Hermann Scheer, der noch erleben musste, wie eine deutsche Regierung den Ausstieg aus dem Ausstieg probte, aber nicht mehr erleben konnte, wie – nach Fukushima – der Deutsche Bundestag im Konsens den beschleunigten Ausstieg beschloss.
Am Schluss der Einleitung zu diesem Buch, das er als »Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien« verstanden wissen will, bekennt Scheer:
»Mein Ausgangspunkt sind nicht die erneuerbaren Energien, sondern ist die Gesellschaft – aus der Erkenntnis, welche elementare Bedeutung der Energiewechsel für deren Zukunftsfähigkeit hat. Ich bin nicht von den erneuerbaren Energien zur Politik für diese gekommen, sondern aus meiner Problemsicht und von meinem Verständnis politischer Verantwortung zu den erneuerbaren Energien. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien hat eine zivilisationsgeschichtliche Bedeutung. Deshalb müssen wir wissen, wie wir ihn beschleunigen können. Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.« (S. 31f.)
Scheer hätte auch schreiben können: »Ich bin kein Fan einer neuen Technik, erst recht kein Technokrat. Ich bin ein durch und durch politischer Mensch, der sich Sorgen macht um seine Gesellschaft und ihre Zukunft. Deshalb ist dieses Buch auch einem sechsjährigen Kind gewidmet.«
Weil Hermann Scheer ein politischer Mensch war, fragte er, welche Interessen für und gegen den Umstieg auf erneuerbare Energien zu mobilisieren wären. Und er befand, dass eine dezentrale Erzeugung von Energie notwendig mit den Interessen – und der Macht – der Energieriesen zusammenprallen musste, die von wenigen Zentralen aus das Land mit Strom oder Öl versorgten. Er setzte daher von Anfang an auf die vielen wachen Bürgerinnen und Bürger, die täglich vom drohenden Klimawandel und alle paar Jahre von gescheiterten Klimakonferenzen erfuhren. Deshalb hatte er in einem Buch nach dem anderen für die Energie geworben, die direkt oder indirekt von der Sonne kommt. Deshalb hatte er der ersten rot-grünen Bundesregierung jenes Gesetz über die erneuerbaren Energien abgerungen, das inzwischen zum Exportschlager geworden ist, weil es nicht auf irgendwelche Behörden setzt, sondern auf die Häuslebauer, die sich ausrechnen können, was die Solaranlage auf dem Dach kostet und was sie einbringt. Und auf die Kommunen, die rasch begreifen, dass der Umstieg auf erneuerbare Energien ihnen endlich die Chance bietet, sich aus der Abhängigkeit von den Konzernen zu lösen.
Schließlich war Hermann Scheer auch Ökonom. Er hielt wenig von Eingriffen einer Bürokratie in das Marktgeschehen, aber sehr viel von der Pflicht des Staates, den Märkten den Rahmen zu zimmern, der einerseits den Marktteilnehmern volle Freiheit der Entscheidung lässt und garantiert, sie andererseits aber anhält, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Scheer hielt nichts von den Marktradikalen, die davon träumten, dass sich die Märkte selbst regulieren könnten, aber genauso wenig von denen, die meinten, ein Oberregierungsrat in einer Behörde wisse besser als ein Unternehmer, was und wie zu investieren sei. Der Gesetzgeber müsse nur den Vorrang der erneuerbaren Energien festschreiben – und das Gesetz über die erneuerbaren Energien ist genauso angelegt –, das Übrige sollten freie Bürgerinnen und Bürger selbst erledigen.
Daher ließ sich Hermann Scheer auch nie entmutigen vom Scheitern der Klimakonferenzen. Er war der Meinung, nahezu 200 Staaten hätten so verschiedene Interessen, dass sie sich niemals auf etwas einigen könnten, was der raschen Energiewende dient. Stattdessen setzte er auf den Wettbewerb der Staaten, auf solche, die vorpreschten und andere nachzogen. Er hielt auch nichts vom Handel mit Zertifikaten für den Ausstoß von Kohlendioxyd. Dieser führe nur zu einem Nullsummenspiel: Wenn ein Land Treibhausgas einspart, kann sich ein anderes die Erlaubnis kaufen, das Gegenteil zu tun. Es könnte durchaus sein, dass Historiker diese Methode des Klimaschutzes dereinst als Produkt einer extrem marktgläubigen Epoche einstufen.
Weil Hermann Scheer politisch dachte, warnte er vor dem, was er den »Scheinkonsens« nannte. Vielleicht hätte er auch das, was bald nach seinem Tod im Bundestag beschlossen wurde, so eingeordnet. Zumindest würde er auch jetzt warnen vor der »Allianz der Aufschieber«, vor denen, die vorgeben, jene »Brücken« zum Zeitalter der erneuerbaren Energien zu bauen, die er für überflüssig hielt. In dem Maße, wie die neuen Energieträger sich durchsetzen, so kalkulierte er, werden die alten überflüssig. Scheer wollte einen »Systemwechsel«, und das bedeutet 100 Prozent erneuerbare Energien. Dieses Ziel zu erreichen ist möglich, sagte er, auch ohne langwierige Großprojekte wie Desertec oder Off-shore-Windparks, die doch wieder zu einer zentral gesteuerten Energieversorgung führen.
Für Scheer mussten die erneuerbaren Energien auch der Wachstumsdebatte eine neue Richtung geben: »Wirtschaftliches Wachstum wird mit Umwelterhaltung und Naturwachstum verknüpft – und damit mit dem einzigen tatsächlichen Wachstumsvorgang auf der Erde: dem von der Sonne bewirkten.« (S. 205) Plötzlich bekommt der Begriff Wachstum einen neuen Sinn.
Als politischer Mensch dachte Scheer weit über die nationalen Grenzen hinaus – was ihm international mehr Anerkennung gebracht hat als im eigenen Land. Erneuerbare Energien waren für ihn die große Chance der Entwicklungsländer. »Ihre Energietragödie begann damit, dass die zentralisierte Struktur der Energieversorgung ... in die Entwicklungsländer implantiert wurde.« (S. 218) Zum einen mussten nun die meisten armen Länder ihre kostbaren Devisen für Ölimporte ausgeben. Außerdem erreichte die Energieversorgung nur die großen Städte, nicht die Mehrheit der Menschen auf dem Land. Mit erneuerbaren Energien lässt sich das flache Land sogar besser versorgen als die Megastädte. Man kann auf dem Land Werkstätten mit modernen Maschinen aufbauen.
Vom Desertec-Projekt sagt Scheer einmal, dieses Projekt sei technokratisch konzipiert, »unter Außerachtlassung aller soziologischen Faktoren.« (S. 150) Und auf diese »soziologischen Faktoren«, die für ihn eine eigene »Soziologik« bilden, kam es ihm an. Eine Gesellschaft, die auf dezentral gewonnene erneuerbare Energien angewiesen ist, sieht anders aus: freier, gleicher, gerechter und – weil sie gemeinsames Handeln, etwa in Genossenschaften braucht – auch solidarischer als eine, in der die Lobbyisten der Öl- und Elektrogiganten in den Wirtschaftsministerien ein- und ausgehen. Menschen werden selbständiger, selbstbewusster, aber auch bereit zur Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten und Gleichberechtigten. Die Gemeinden werden wichtiger, aktiver, verbinden sich untereinander. Aus einer »passiven Energiegesellschaft« (S. 170) wird eine aktive. Und das alles macht die Gesellschaft demokratischer. Scheer benutzte dabei sogar den Begriff der »Emanzipation« (S. 173). Und Emanzipationen geschehen nun einmal von unten nach oben, nicht umgekehrt. Die erneuerbaren Energien sind »Systembrecher«, und um ein System zu brechen, bedarf es einer »Revolution«. Daher fehlt auch dieser Begriff nicht.
Der Amerikaner Jeremy Rifkin hat 2011, ohne Scheer zu erwähnen, dessen Gedanken in einem Buch fortgeführt, dem er den Titel »Die dritte industrielle Revolution« gab. Dort ist zu lesen: »Die Demokratisierung von Energie hat tiefgreifende Implikationen für die Art und Weise, wie wir in diesem Jahrhundert unser Leben an sich orchestrieren.« (S. 135) Rifkin, der Deutschland und seine föderale Geschichte gut kennt, fügt hinzu: »Das dezentrale, kooperative Konzept der dritten industriellen Revolution passt in die deutsche Politik.« Man könnte anfügen: »Wo sie auch konzipiert wurde.«
Selten erreicht ein Politiker – sei es zu seiner Lebenszeit oder später – genau das, was er ursprünglich wollte. Dazu ist die Welt zu kompliziert, sind die politischen Kräfte zu vielfältig. So wird man in zwanzig Jahren auch nicht feststellen können: Es ist alles so gelaufen, wie Hermann Scheer es wollte. Aber eines wird man sicher sagen können: Ohne Hermann Scheer, ohne seine gedankliche Radikalität wären wir nicht so weit gekommen.
ERHARD EPPLER