Читать книгу Der energethische Imperativ - Hermann Scheer - Страница 8
1. KEINE ALTERNATIVE ZU ERNEUERBAREN ENERGIEN: Der lange verdrängte naturgesetzliche Imperativ
ОглавлениеWie konnte es zu der dramatischen Zuspitzung auf eine Entscheidungssituation kommen, in der der Wechsel zu erneuerbaren Energien unter einem existenziellen Zeitdruck steht? Warum wurden erneuerbare Energien so lange negiert oder gering geschätzt? Diese Fragen müssen gestellt werden, trotz des Satzes von Albert Einstein: »Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.« Um jedoch auf das richtige Zukunftsgleis zu kommen, ist das Diktum des Philosophen Sören Kierkegaard zu beachten: »Leben muss man das Leben vorwärts, verstehen kann man es nur rückwärts.« Der Rückblick hilft, die geistigen und strukturellen Widerstände, die der Zukunftsentwicklung im Wege stehen, klar genug zu erfassen. Jede Vergangenheit hinterlässt ihre gedanklichen, realen und psychologischen Spuren, ob sie uns bewusst sind oder nicht. Bemerkenswert ist nicht die in den letzten Jahren sprunghaft gewachsene Erkenntnis des grundlegenden Stellenwerts der erneuerbaren Energien, sondern vielmehr, wie lange dieser Erkenntnisprozess gedauert hat und dass es nicht längst viel mehr erprobte Technologien und konkrete Initiativen dafür gibt.
Naturgesetzlich war immer schon vorgegeben, dass die Nutzung fossiler Energien nur ein Übergangsstadium sein konnte. Kristallklar und unwiderlegbar hat Wilhelm Ostwald, der 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, in seinem 1912 publizierten Buch »Der energetische Imperativ« darauf hingewiesen, dass die »unverhoffte Erbschaft der fossilen Brennmaterialien« dazu verführt, »die Grundsätze einer dauerhaften Wirtschaft vorläufig aus dem Auge zu verlieren und in den Tag hinein zu leben«. Da sich diese Brennmaterialien unweigerlich aufbrauchen würden, ergebe sich daraus zwingend die Erkenntnis, dass eine »dauerhafte Wirtschaft ausschließlich auf die regelmäßige Energiezufuhr der Sonnenstrahlung gegründet werden kann.« So kam er zu seinem Imperativ: »Vergeude keine Energie, verwerte sie.« Mit Vergeudung meinte er die Verbrennung der fossilen Energien, die ein zerstörender Vorgang ist, weil die verwendeten Ressourcen dadurch für den Energieeinsatz unwiederbringlich verloren sind. Dagegen setzt er die Verwertung der immer vorhandenen Energie, die wir heute erneuerbare Energie nennen und die in Dänemark treffender »bleibende Energie« genannt wird. Dem »energetischen Imperativ« räumt Ostwald einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert ein als dem »kategorischen Imperativ« des Philosophen Immanuel Kant: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«[3]
Einfacher ausgedrückt, in einem alten Sprichwort: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem andern zu.« Jeder will in sauberer Luft leben, weshalb auch keiner die Luft anderer verschmutzen dürfte. Jeder Mensch braucht Energieressourcen, weshalb keiner so viel Energie beanspruchen darf, dass für andere nichts mehr übrig bleibt. Fest steht: Schon bisher reichte die fossile und die atomare Energie nicht aus, um die Energiebedürfnisse der gesamten Menschheit zu befriedigen. In naher Zukunft wird dies, angesichts der sich erschöpfenden Reserven bei gleichzeitig wachsendem Energiebedarf, immer weniger möglich sein. Ostwald sieht in Kants Imperativ ein Sittengesetz, während sein Imperativ naturgesetzlich ist. Ob ein Sittengesetz beachtet wird oder nicht, ist eine moralische Frage. Sie entscheidet über die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein Naturgesetz lässt uns dagegen keine Wahl. Seine Nichtbeachtung hat für die Gesellschaft so schwerwiegende Folgen, dass sie auch eine Verwirklichung der ethischen Grundsätze Kants letztlich unmöglich machen würde.
Ostwalds elementare Warnungen wurden überhört, obwohl er zu den weltweit anerkannten Wissenschaftlern seiner Zeit zählte. Dabei war der Energieverbrauch am Beginn des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise gering. Es gab nur 1,5 Milliarden Menschen auf der Erde statt 6,5 wie heute. Die Elektrifizierung steckte noch in den Anfängen, ebenso der Automobilverkehr. Es gab noch keinen Flugverkehr und ein deutlich geringeres Handels- und damit Transportvolumen, nur wenige energieverbrauchende Haushaltsgeräte und weder Radio noch Fernsehen. Die elementaren Warnungen Ostwalds kamen, je nach Blickwinkel, zu früh oder zu spät. Zu früh, weil das Problem noch nicht unter den Nägeln brannte. Und zu spät, weil die fossile Energiewirtschaft schon fest etabliert war und auf die Politik, die Industrieunternehmen und nicht zuletzt auf die technologische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausübte.
Die fossile Energiewirtschaft hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine über hundert Jahre lange Geschichte, beginnend mit einer technologischen Revolution: der Dampfmaschine von James Watt. 1769 patentiert, wurde sie anfangs mit Holzkohle und dann mehr und mehr mit Steinkohle befeuert. Sie wurde zum Motor der industriellen Revolution, eingesetzt in der Industrieproduktion, dann in der Dampfschifffahrt und in Dampflokomotiven für die aufkommenden Eisenbahnen, und schließlich in Dampfkraftwerken, die noch heute die Technologie der meisten Großkraftwerke darstellen, von Kohle- bis zu Atomkraftwerken. Die Dampfmaschine begründete das Entstehen der modernen Energiewirtschaft, die zunächst eine Kohlewirtschaft war und sich dann zu einer Öl- und Gaswirtschaft ausweitete: zu einer Energieverbrennungswirtschaft. Nur eine zweite energietechnische Entwicklung hatte eine ebenso tief greifende Bedeutung: der Verbrennungsmotor, mit dem die Automobil-Revolution ausgelöst und der Flugverkehr möglich wurde. Aber auch diese Revolution richtete sich in ihrer technologischen Ausformung und Spezialisierung an den fossilen Energien aus, die bereits das Energieangebot stellten, was der fossilen Energiewirtschaft einen noch größeren Auftrieb gab. So gesehen hat eine Technologie für nunmehr zwei Jahrhunderte die Weichen gestellt, zufällig und in bester Absicht, jedoch mit unvorhergesehenen Kettenwirkungen.
Die Büchse der Pandora war geöffnet. Die Figur der Pandora symbolisiert in der griechischen Mythologie zusammen mit Prometheus das Energiedrama der Menschheit. Prometheus steht für einen neuen Energieentwurf oder die Suche danach, als derjenige, der das Feuer vom Himmel stahl und die Menschen lehrte, es zu gebrauchen. Der Göttervater Zeus betrachtete das als Frevel, weil den Menschen damit ein großes Unglück beschert wurde, ohne dass sie es in ihrer Begeisterung ahnten, und kettete Prometheus an einen Felsen. Da es aber nicht mehr möglich war, den Menschen das Feuer wieder wegzunehmen, wollte Zeus auch sie bestrafen. Er schuf die Figur der Pandora und schenkte ihr eine verschlossene Büchse, in der alle bösartigen Versuchungen enthalten waren. Diese verstreuten sich über die ganze Welt, als Pandora die Büchse neugierig öffnete. In der Büchse blieb nur die Hoffnung auf eine bessere Welt. Prometheus steht also für das vermessene Streben nach Möglichkeiten, die das menschliche Maß überschreiten, Pandora für die Verlockung, die sich daraus ergebenden Übel leichtsinnig freizusetzen.
Alle Sorgen, dass sich die Energieversorgung in umfassender und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringender Weise auf endliche fossile Energievorkommen eingelassen hatte, wurden in den 1950er Jahren durch die Atomenergie zerstreut. Diese wurde als saubere und tendenziell spottbillige Alternative zu den versiegenden fossilen Energien gepriesen. Sie erschien als ein neues, menschengemachtes prometheisches Geschenk. In der atomaren Euphorie überhörte man alle Warnungen, dass die Gesellschaft nun von der fossilen in eine atomare Sackgasse gelenkt werden könnte. Die hochkomplexe Atomenergie faszinierte. Den Atomphysikern wurde höchster Respekt gezollt. Es galt als unvorstellbar, dass die alle bisherigen physikalischen Errungenschaften weit überragende Kernspaltung, die für die Konstruktion von Atombomben entwickelt worden war, nicht auch einen überragenden zivilen Nutzwert haben könnte. Frühe Kritiker der Atomenergie wurden zu Randfiguren erklärt. Das musste z.B. Karl Bechert erleben, ein renommierter Professor der Naturwissenschaften, der zugleich Mitglied des Deutschen Bundestages war. Eindringlich warnte er vor den unlösbaren Gefahren der Atomenergie. Als 1957 das Atomgesetz beschlossen wurde, das ihr die Wege ebnete, stimmt er als einziger dagegen. Selbst in seiner eigenen Partei, der SPD, stieß er auf taube Ohren. Sein Widerspruch wurde als Ärgernis empfunden.
Die erste Nachkriegsgeneration stand unter dem Schock der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945. Sie lebte im kurz danach beginnenden »Kalten Krieg« zwischen »West« und »Ost« in akuter Angst vor einem Atomkrieg. Auch das erklärt die Hoffnung auf eine »friedliche Nutzung der Atomenergie«: angesichts des atomaren Wettrüstens und der atomaren Abschreckungsstrategien sollte der destruktiven Technologie der Atomspaltung eine konstruktive Seite abgewonnen werden. So wurde aus der Bewegung gegen die Atombombe eine für Atomkraftwerke. Erst später, ab den 1970er Jahren, reifte und verbreitete sich das Bewusstsein, dass auch diese Hoffnung eine gefährliche Schimäre ist. Aber die sich spätestens jetzt aufdrängende Konsequenz wurde immer noch nicht gezogen, das volle Augenmerk auf die erneuerbaren Energien – also auf die nichtfossile Alternative zur Atomenergie – zu richten. Noch erschien es selbst der aufkeimenden Umweltbewegung unvorstellbar, dass erneuerbare Energien allein die Energiebedürfnisse der Menschen befriedigen könnten. Bis in die 1990er Jahre hinein scheuten sich die meisten Wissenschaftler und Politiker, sich offen für erneuerbare Energien als ebenbürtige und sogar überlegene und höherwertige Option für die Energieversorgung auszusprechen. Selbst Verfechter der erneuerbaren Energien beugten sich der herrschenden Meinung und warben für ihre Projekte oftmals in einem entschuldigenden Ton. Ihnen war bewusst, dass sie damit Häresie gegen das ausgerufene »Atomzeitalter« begingen.
A. Die Macht des Bestehenden: Das Weltbild der fossilen und atomaren Energieversorgung
Jahrzehntelang hat die Atomenergie davon abgelenkt, dass die erneuerbaren Energien die originäre Alternative zu fossilen Energien darstellen. Der Atomenergie wurde die tragende Rolle für das nachfossile Zeitalter zugedacht, sogar mit Ausschließlichkeitsanspruch. Wäre stattdessen vor einem halben Jahrhundert mit derselben Intensität auf erneuerbare Energien gesetzt worden, so hätten wir wahrscheinlich heute kein die Weltzivilisation bedrohendes Klimaproblem. Wir hätten dann keine Energiekriege erleben müssen wie den Golfkrieg oder den Irakkrieg. Es gäbe deutlich weniger Luftverschmutzung und weniger Krankheiten – und keinen Atommüll, von dem wir nicht wissen, wo, wann und wie wir ihn dauerhaft und sicher lagern sollen und welche Probleme und Kosten er für undenkbar lange Zeiträume hinterlässt. Wir hätten wahrscheinlich längst eine Industrie mit Cleantech-Produkten, kaum Umweltflüchtlinge und weniger Armut in den Entwicklungsländern. Wir würden heute in einer Welt ohne kollektive Zukunftsängste leben. Die Weltzivilisation könnte sicher sein, den folgenden Generationen gleiche Lebenschancen zu hinterlassen, statt ihnen untragbare Lasten aufzubürden.
Dieses Gedankenspiel ist mehr als ein wehmütiger Rückblick: Den erneuerbaren Energien standen tatsächlich schon in den 1950er Jahren mehr greifbare technologische Möglichkeiten offen als der Atomenergie. Noch bevor ein einziges Atomkraftwerk gebaut war, gab es auf diesem Feld vielerlei praktische Erfahrungen. Wie Strom aus Wind produziert wird, wusste man bereits, seit der dänische Schulmeister Paul la Cour 1891 die erste Anlage in Betrieb genommen hatte. In den USA gab es in den 1930er Jahren schon mehrere Millionen Windräder in den Farmregionen.[4] Wie man Strom in solarthermischen Kraftwerken produziert, hatte Frankreich bereits demonstriert, nachzulesen in dem Buch »Das goldene Öl« von Marcel Perrot.[5] Auch die Stromerzeugung durch Lichtumwandlung (Photovoltaik) machte ab Mitte der 1950er Jahre erste Fortschritte. Zunächst war sie für die Raumfahrt entwickelt worden, wie in dem wegweisenden Buch von Wolfgang Palz über die Geschichte dieser Technologie rekapituliert wird.[6] Dass Strom mit von Wasser angetriebenen Turbinen produziert werden kann, war ohnehin Allgemeingut, denn die Geschichte der Stromproduktion begann mit vielen kleinen Wasserkraftwerken, bevor der Trend zu Großwasserkraftwerken mit immer größeren Stauseen einsetzte. Dezentrale Anlagen in Fließgewässern stellten längst ein großes Potenzial dar, das jedoch zunehmend vernachlässigt wurde. Auch für die Nutzung von Biogas gab es schon viele Beispiele, ebenso wie für Kraftstoffe aus Biomasse. Die technologischen Erfordernisse, um aus solchen Optionen ein zuverlässiges System der Stromversorgung zu machen, waren stets weniger komplex und aufwendig als bei der Atomenergie. Heute sind – trotz immer noch anhaltender Benachteiligung der erneuerbaren Energien in der staatlichen Forschungspolitik im Verhältnis zur Atomenergie – die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Umorientierung auf erneuerbare Energien so weit entwickelt, dass die vollständige Transformation der Energieversorgung ohne weitere Verzögerung zügig vorangetrieben und damit die atomare und fossile Epoche beendet werden kann.
Die auf fossile und Atomenergie gestützte Energieversorgung wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Leitbild der Energieversorgung. Zu diesem gehört die Fixierung auf Großkraftwerke und dafür ausgelegte Stromnetze. Leitbilder, denen mehrere Generationen gefolgt sind, werden zu Axiomen – d. h. zu Grundannahmen, die keines weiteren Beweises mehr bedürfen und deren Infragestellung tabuisiert wird. In der Wissenschaft wurde daraus ein Paradigma, das die Denkrichtung bestimmte und Widerspruch ausschloss. Der Konsens der Wissenschaft übertrug sich auf die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. Er bestimmt Entscheidungen, die physische Gestalt annehmen und für breite Bevölkerungskreise zur Selbstverständlichkeit werden. Menschen versuchen gewöhnlich, die Welt über das zu verstehen, was sie sehen und was ihr Verhalten geprägt hat. Das Paradigma wird zum Weltbild, das das Denken und Handeln selbst dann noch unbewusst bestimmt, wenn es Alternativen gibt. Es hält sich umso hartnäckiger, wenn starke Interessen mit meinungsbildendem Einfluss unbedingt daran festhalten wollen. Das Ergebnis ist dann eine hermetische Sicht der Dinge mit beschränkter Außenwahrnehmung.
Das bekannteste historische Beispiel einer hartnäckigen Weltbildverhaftung ist das der katholischen Kirche gegenüber der Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Diese Entdeckung des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) widersprach dem geozentrischen Weltbild, das zum Glaubenssatz der Kirche geworden war, die die Erde als Zentrum des Universums und den Menschen als Zentralfigur der Schöpfung sah. Der Konflikt darüber entbrannte jedoch erst, als die neue heliozentrische Weltsicht von Galileo Galilei (1564 –1642), dem berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit, bestätigt und öffentlich verbreitet wurde. Deshalb wurde er der Häresie beschuldigt. Es dauerte dreihundertsechzig Jahre, bis Galilei im Jahr 1992 von Papst Johannes Paul II. – nach einer dreizehn Jahre dauernden Untersuchung! – öffentlich rehabilitiert wurde, zu einem Zeitpunkt also, als das heliozentrische Weltbild längst Allgemeingut geworden war. Das Eingeständnis, dass die erneuerbaren Energien die durchgängige Perspektive für die Energieversorgung der Menschen sind, bedeutet eine kopernikanisch-galiläische Wende im Denken über Energie und in der Praxis der Energiebereitstellung. Die Negierung der erneuerbaren Energien und die Verketzerung ihrer Protagonisten hat nicht so lange gedauert wie bei Galilei. Sie wurde aber für die jüngere Weltentwicklung entschieden folgenreicher.
Auch die Verfechter der überkommenen Energieversorgung haben ihre Kurie, ihre Theologen und ein gut etabliertes Organisationsgefüge: Energiekonzerne, internationale Energieinstitutionen (Internationale Atomenergie-Agentur, Internationale Energie-Agentur, Nuclear Energy Agency, EURATOM) sowie nationale Institutionen. Diese monopolisierten jahrzehntelang die Energiediskussion und repräsentieren bis heute das überkommene Energiedenken. Die Umstellung auf erneuerbare Energien erfordert – schon aus physikalischen Gründen – ein neues Denken. Kein System der Energiebereitstellung – gemeint ist damit der technologische, organisatorische, finanzwirtschaftliche und politische Gesamtaufwand, um Energie verfügbar zu machen – kann neutral gegenüber seinen Energiequellen sein. Es wäre eine krasse Fehlentwicklung, die auf die fossilen und atomaren Energien zugeschnittenen Strukturen beizubehalten und innerhalb dieser lediglich die Energiequellen auszutauschen. Die jeweiligen technologischen, organisatorischen, finanziellen und politischen Anforderungen an eine Energiebereitstellung können nicht unabhängig von den jeweiligen Energiequellen gesehen und verstanden werden. Ohne energie-, technik- und wirtschaftssoziologische Sichtweise werden wir blind gegenüber den weit über die Energieversorgung hinausgehenden Unterschieden zwischen den Energiequellen. Wir haben nur eine Entscheidung: die über die Energiequelle selbst, die das »Gen« eines Energiesystems ist. Nach der Wahl der Energiequelle bestimmt indirekt diese, was alles zu tun ist, um sie verfügbar zu machen und zu halten. Unweigerlich muss dann den unterschiedlichen physikalisch-technischen Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Energiequelle gefolgt werden, entlang des gesamten Energieflusses vom Ort der Aneignung bis zu den Energiekonsumenten.
Die Adressaten jedweder Energiebereitstellung sind die Energiekonsumenten. Konsumiert wird letztlich immer dezentral – ob in größeren Mengen, etwa in einer Fabrik, in räumlicher Verdichtung, etwa in einer Großstadt, oder in vielen kleineren Formen und Mengen, im Haushalt oder Automobil. Dezentraler Energiekonsum ist die einzige zwingende Gemeinsamkeit der konventionellen mit einer erneuerbaren Energieversorgung. Die Primärressourcen atomarer und fossiler Energien finden wir an nur wenigen Plätzen des Globus, wo Kohle-, Uran-, Erdöl- und Erdgasreserven konzentriert unter der Erde liegen. Von dort werden diese Energien über lange Transportstrecken zu Kraftwerken und Raffinerien und zu Milliarden Energiekonsumenten an nahezu jedem Ort der Erde transportiert, wo Menschen arbeiten und leben: Es findet also eine Entkoppelung der Räume der Energieförderung von den Räumen des Energiekonsums statt. Diesen Energiefluss von den wenigen Förderplätzen in wenigen Ländern zu Milliarden Energiekonsumenten in aller Welt können nur große, transnational tätige oder kooperierende Energiekonzerne leisten. Und da es an keiner Stelle der Kette eine Unterbrechung geben darf, sind diese auf eine enge Zusammenarbeit mit Regierungen angewiesen – und umgekehrt. Daher sind Regierungen zum integralen Bestandteil der atomaren/fossilen Energiewirtschaft geworden. So entstand, in begrifflicher Analogie zum »politisch-militärischen Komplex«, der »politisch-energiewirtschaftliche Komplex«. Die konventionelle Energiewirtschaft konnte sich unverzichtbar machen und bleibt unverzichtbar, solange fossile und atomare Energien nicht durch erneuerbare Energien ersetzt sind. Sie hat die Gesellschaften angekettet und das Selbstverständnis einer »Hüterin der Volkswirtschaft« annektiert, während Regierungen zu »Hütern der Energiewirtschaft« wurden. Sie errang nicht nur eine bereits von ihren Energiequellen vorbestimmte Monopol- bzw. Oligopolstellung, sondern auch ein geistiges Monopol. Sie hat das Weltbild der Energieversorgung geprägt, das nicht aus einer Verschwörung entstand, sondern aus den inhärenten Erfordernissen der gewählten Energiequellen.
Dies ist auch der Grund, warum den erneuerbaren Energien – soweit sie nicht in die von den konventionellen Förderplätzen vorgegebene zentralisierte Energieversorgung passen wie die Großwasserkraftwerke – überall mit dem gleichen Unverständnis und den gleichen Vorbehalten mangelnder Effizienz begegnet wurde und noch wird. Obwohl auch die konventionelle Energiewirtschaft auf eine breite dezentrale Verteilung ausgerichtet sein muss, ist für sie die mit den erneuerbaren Energien entstehende breit gestreute dezentrale Erzeugung praktisch unvorstellbar. Die Primärenergie ist kostenlos, was Franz Alt, der weltweit für erneuerbare Energien engagierteste Journalist, mit dem Satz »Die Sonne schickt uns keine Rechnung« auf den Punkt gebracht hat. Niemand kann also erneuerbare Energien monopolisieren. Als natürliche Energieangebote sind sie vorhanden, ob wir sie aktiv nutzen oder nicht. Ihr Weltpotenzial ist unvorstellbar groß. Der Astrophysiker Klaus Fuhrmann hat vorgerechnet: Jede Sekunde wandelt die Sonne vier Mio. Tonnen Materie in Energie um und strahlt diese ab: 386.000.000.000.000.000.000.000 (386 Trilliarden) Watt pro Sekunde; ein halbes Milliardstel davon trifft unseren Planeten.[7] Dies sind täglich immer noch 20.000 Mal mehr als der derzeitige tägliche Energiebedarf der Menschen. Zweifel daran, dass dieses Potenzial für die Energieversorgung der Menschheit ausreichen könnte, sind lächerlich.
Als natürliche Umgebungsenergie sind die erneuerbaren Energien überall auf dem Erdball vorhanden, in allerdings unterschiedlicher Intensität. Sie ermöglichen eine dezentrale Energiegewinnung für dezentralen Energiekonsum, also das Zusammenfallen der Räume der Energiegewinnung mit denen der Energienutzung. Primärenergietransporte sind – außer bei der Bioenergie – weder nötig noch möglich. Es geht nicht mehr um die physikwissenschaftliche Ambition zu immer höherer »Energiedichte«, von den fossilen Energien hin zu der noch viel höheren der Kernspaltung und dann der höchsten der Kernfusion – als zwangsläufige Folge der Aneignung und Umwandlung dieser Energie durch wenige zentralisierte Energieversorger und deren Veräußerung und Verteilung an alle. Mit erneuerbaren Energien wird es möglich, den umgekehrten Weg einzuschlagen: die Aneignung und Umwandlung von Energie potenziell durch alle und damit die umfassende Befreiung von existenziellen Abhängigkeiten. Es ist ein Weg von zunehmender energetischer Fremdbestimmung zu wachsender energetischer Selbstbestimmung, für Individuen und für Gesellschaften. Es ist ein Wechsel von der Desintegration der Menschen aus den Naturkreisläufen zu ihrer Re-Integrierung, von globalisierter struktureller Einfalt der Energiebereitstellung zu struktureller Vielfalt und zu einer neuartigen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung.
Für die Hochenergiephysiker ist das ein Rückschritt. Gleiches gilt für die Energiewirtschaft und die Energiepolitik, die sich von kleinen Kraftwerken und kommunalen Versorgungsstrukturen zu immer größeren entwickelt hat. Und nun soll es umgekehrt sein? Alle Kosten für erneuerbare Energien sind Technikkosten. Man muss ihre Aneignung aber nicht zentralisieren. Es muss also kein »upstream« organisiert werden, wie es in der Erdölsprache heißt, um sie anschließend im »downstream« auf Milliarden Menschen zu verteilen. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien erfordert ein neues Energiedenken, das die Energieversorgung, samt der dafür notwendigen spezifischen Umwandlungs- und Bereitstellungstechnik und Nutzungs- und Unternehmensformen, auf viele Füße stellt. Nicht nur den mit den konventionellen Energiestrukturen verhafteten Interessengruppen fällt es schwer, die besondere Techno- und Sozio-Logik erneuerbarer Energien zu verstehen und ihr wahres Potenzial zu erkennen.
B. Fehleinschätzungen: Die Hermetik konventionellen Energiedenkens
Die unbewusste oder bewusste Verhaftung im überkommenen Energiedenken ist der wesentliche Grund für zahlreiche wissenschaftliche und politische Fehleinschätzungen bezüglich erneuerbarer Energien. So erklärte Hans-Karl Schneider, der frühere Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln, der auch eine Zeitlang Vorsitzender des »Sachverständigenrats der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« war, 1977: »Mehr als fünf Prozent sind bei Sonnenenergie, Windenergie, Erdwärme und anderen ›exotischen‹ Energien einfach nicht drin.« 1990 verlautbarte der »Informationskreis Kernenergie«, der von den deutschen Stromkonzernen finanziert wird: »1988 wurde in Dänemark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Wind erzeugt – das entspricht einem Anteil von 0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch. Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraft ist in der Bundesrepublik wegen anderer klimatischer Bedingungen nicht möglich«. 1993 hieß es in einer in allen großen Zeitungen veröffentlichten Anzeige der deutschen Stromwirtschaft: »Kann Deutschland aus der Kernenergie aussteigen? Ja. Die Folge wäre allerdings eine enorme Steigerung der Kohleverbrennung, mithin der Emissionen des Treibhausgases CO2. Denn regenerative Energien wie Sonne, Wasser und Wind können auch langfristig nicht mehr als 4 Prozent unseres Strombedarfs decken. Können wir ein solches Vorgehen verantworten? Nein.«[8]
Im Juni 2005 erklärte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel: »Den Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch auf 20 Prozent zu steigern, ist wenig realistisch.« Zwei Jahre später setzte sie, inzwischen Bundeskanzlerin, als Ratsvorsitzende der EU einen Beschluss durch, der bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch vorschreibt. 2006 behauptete Bundesumweltminister Sigmar Gabriel, gestützt auf Gutachten, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bis 2025 nur bei maximal 27 Prozent liegen könne, was etwa dem Anteil der Atomenergie an der deutschen Stromversorgung entspricht. Drei Jahre später, im Wahlprogramm der SPD für die Bundestagswahl 2009, wurde gefordert, den Ausbau der erneuerbaren Energien zur Stromversorgung bis 2020 auf mindestens 35 Prozent und bis 2030 auf »mindestens die Hälfte« zu steigern. Der Mut zu erneuerbaren Energien war also in kurzer Zeit erheblich gestiegen.
Auch wissenschaftliche Prognosen haben durchgehend zu kurz gegriffen, selbst wenn sie von Verbänden für erneuerbare Energien kamen. 1990 prognostizierte die EWEA (European Wind Energy Association) für das Jahr 2000 eine installierte Windkraftkapazität in den damaligen fünfzehn EU-Mitgliedsländern von 4.089 MW – realisiert waren bis dahin aber schon 12.887 MW. 1998 legte sie eine neue Prognose vor und gab darin 36.378 MW Windkraft bis 2007 an, tatsächlich waren es dann aber schon 56.535 MW. Auch die Prognosen der EU-Kommission, die sich auf renommierte wissenschaftliche Institute stützt, lagen weit hinter der tatsächlich eingetretenen Entwicklung. 1996 veröffentlichte sie ein »baseline-scenario« und ein optimistischeres »advanced scenario«. In ersterem sprach sie von 6.799 MW installierter Windkraft-Kapazität in der »EU-15« bis zum Jahr 2007 und hatte damit eine Fehlerquote von 732 Prozent gegenüber dem dann bereits real erreichten Ausbau. In letzterem sprach sie von einem Anteil des Wind- und Solarstroms von 30.280 MW bis 2020 – ein Wert, der im Jahr 2008 mit realisierten 73.504 MW weit überschritten war. 1998 legte die EU-Kommission eine weitere Prognose vor, in der 47.100 MW Windkraft bis 2020 genannt wurden, was bereits im Jahr 2008 mit 64.173 MW übertroffen war. Für die solarthermische Energie wurden 10.440 MW bis 2020 angekündigt, was jedoch schon 2007 erreicht war.
Auch die Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) hinken regelmäßig hinter der tatsächlichen Entwicklung her. So sagte sie 2002 in ihrem »World Energy Outlook« für die »EU-15« bis 2030 eine Windkraftkapazität von 71.000 MW voraus, die aber im Jahr 2009 erreicht war. Für die Photovoltaik prognostizierte sie bis 2020 eine Kapazität von 4000 MW – aber im Jahr 2008 waren es schon 9.331 MW. Weltweit sagte sie bis 2020 eine Windkraftkapazität von 100.000 MW voraus, die 2008 mit 121.188 MW längst übertroffen war. Der systematischen Unterschätzung erneuerbarer Energien stellt die IEA regelmäßig Überschätzungen fossiler Energien und der Atomenergie gegenüber. So erklärte sie im Jahr 2007, als der Preis für das Barrel Erdöl bei etwa 100 US-Dollar lag, dass sich bis zum Jahr 2030 der Ölpreis auf durchschnittlich 62 US-Dollar einpendeln werde. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch einen Durchschnittspreis von 30 Dollar für die folgenden zwanzig Jahre angekündigt. Die IEA ist eine internationale Regierungsorganisation der OECD-Staaten, an deren »Expertise« sich Regierungen in ihren Entscheidungen ebenso orientieren wie investierende Unternehmen und Kreditinstitute; sie liegt auch zahlreichen energiewissenschaftlichen Veröffentlichungen zugrunde. Mit ihren Fehlprognosen hat sie in erheblichem Maße zu politischen Fehlentscheidungen, zu Fehlinvestitionen im Bereich konventioneller Energien und zu unterlassenen Entscheidungen für erneuerbare Energien beigetragen. Dennoch wird sie nach wie vor von den Regierungen – insbesondere von den Weltwirtschaftsgipfeln (G8 bzw. G20) – mit neuen Studien beauftragt.
Die zitierten Einschätzungen und Prognosen zum Nutzungspotenzial der erneuerbaren Energien zeigen, wie sehr sich gerade anerkannte Energieexperten blamiert haben. Entweder geschah dies, weil andere Ergebnisse nicht erwünscht waren, oder weil es außerhalb ihres Denkfeldes liegt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dezentralen Anlagen völlig anders verläuft als die Investitionsplanung mit Großanlagen. Wenn nun neuere Prognosen von höheren Ausbauraten als bisher sprechen und diese wiederum als Grenze realer Möglichkeiten darstellen, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie sich dabei nicht wiederum irren.
Selbst die Prognose des deutschen Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE), der zu den aktiven Vorreitern gehört, ist zurückhaltender, als sie sein könnte. Sie nennt für das Jahr 2020 einen möglichen Anteil der erneuerbaren Energien an der deutschen Stromversorgung von 47 Prozent. Das bedeutet eine Verdreifachung des im Jahr 2009 erreichten Anteils von 17 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Diese deutlich optimistischere Zahl wird – wie üblich – von vielen als unrealistisch eingestuft. Dabei lässt sich relativ einfach berechnen, warum der Anteil bis 2020 schon deutlich höher liegen könnte. Nehmen wir nur das Beispiel der Einführung der Windkraft, die zum Jahresende 2009 etwa 9 Prozent des deutschen Nettostromverbrauchs stellte, mit insgesamt 25.777 MW installierter Leistung aus 21.164 Anlagen.[9] Dies bedeutet eine Kapazität der Einzelanlagen von durchschnittlich 1,2 MW. Würde nur diese Zahl einzelner Anlagen leistungsverstärkt (»Repowering«), indem höher gestellte Anlagen zugelassen werden, um dadurch den Kapazitätsdurchschnitt der Anlagen auf etwa 2,5 MW anzuheben, so würde allein dadurch der Windkraftanteil an der Stromversorgung verdreifacht – von 9 auf 27 Prozent. Technisch spricht nichts dagegen, dass dies in kurzer Zeit realisiert werden könnte, und in wirtschaftlicher Hinsicht würden dadurch die Kosten für Windstrom sinken.
Aber selbst diese Zielmarke wäre kurzfristig noch weiter überbietbar, da die installierten Windkraftanlagen sehr ungleich über die Bundesländer verteilt sind. Dies liegt nicht in erster Linie an unterschiedlichen Windverhältnissen, sondern an den sehr unterschiedlichen politischen Genehmigungskriterien.
In der folgenden Tabelle wird die Zahl der installierten Anlagen mit der Flächengröße des jeweiligen Bundeslandes in Beziehung gesetzt. Das Ergebnis ist äußerst aufschlussreich: Die Bandbreite unter den Flächenländern reicht von einer Anlage pro 5,6 qkm Fläche in Schleswig-Holstein bis zu einer pro 183,7 qkm in Bayern. Der Anteil der Windkraft am Nettostromverbrauch der Bundesländer reicht von etwa 47 Prozent in Sachsen-Anhalt, 41 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern, fast 40 Prozent in Schleswig-Holstein und 38 Prozent in Brandenburg – darunter mit Sachsen-Anhalt und Brandenburg zwei Binnenländer – bis zu nur 2 Prozent in Hessen, 0,8 Prozent in Bayern und Baden-Württemberg. Diese Unterschiede sind nur politisch erklärbar: In den schlusslichternden Bundesländern herrscht eine gezielte politische Verhinderungsplanung.
Wenn alle Bundesländer in den vergangenen Jahren die gleiche Genehmigungspraxis gehabt hätten wie Sachsen-Anhalt mit einer Anlagendichte von einer Anlage pro 9,1 qkm, so könnten in Deutschland im Jahr 2009 statt 21.164 bereits 37.000 Windkraftanlagen mit einer installierten Leistung – bei einem Kapazitätsdurchschnitt von 1,2 MW–von 44.000 MW stehen. Der Anteil der Windkraft am Nettostromverbrauch läge bei 16 statt nur neun Prozent! Mehr noch: Würde die bisher behinderte Entwicklung in den zurückliegenden Ländern in den nächsten zehn Jahren nachgeholt, und dies gleich mit einem Kapazitätsdurchschnitt von 2,5 MW, so würde sich daraus – bei gleichzeitig vorgenommener Kapazitätsanhebung der bereits installierten Anlagen – ein Anteil der Windkraft an der Stromversorgung von fast 50 Prozent ergeben. Zusammen mit dem bis dahin weiter anwachsenden Potenzial an Solarstrom sowie Strom aus Biogas und geothermischer Energie, einem wachsenden Anteil von Kleinwindkraftanlagen neben und auf Gebäuden (wofür es eine Reihe neuer, aktuell in den Markt drängender Anlagentechniken gibt) und – nicht zu vergessen – einer Steigerung des Anteils an Kleinwasserkraftanlagen bedeutet das: Die Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien von 16 auf weit über 60 Prozent der Stromversorgung allein innerhalb eines Jahrzehnts ist keine Utopie, sondern eine greifbare Möglichkeit. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch in Deutschland würde allein damit von gegenwärtig zehn auf 40 Prozent ansteigen. Wenn gleichzeitig eine generelle Steigerung der Energieeffizienz um etwa 30 Prozent innerhalb von zehn Jahren eingeleitet wird, könnte der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch bereits auf über 70 Prozent anwachsen. Eine volle Umstellung der Energieversorgung könnte dann unschwer bis 2030 folgen. Die Anstrengung dafür– und die für diesen Ausbau der Windkraft oft unterstellte ästhetische Zumutung – ist deutlich geringer als die Zumutung für die Gesellschaft, wenn stattdessen weiter auf Atomkraft oder auf Kohlekraftwerke gesetzt wird.
Affirmativer Expertenpessimismus
Bei neuen Technologien sind später unglaublich klingende Einschätzungsfehler nicht ungewöhnlich. Sie gehören zur Politik-, Wirtschafts- und Technologiegeschichte und drücken einen Pessimismus aus, der für Experten konventioneller Ansätze typisch ist. 1878 erklärte die Western Union, die seinerzeit größte US-amerikanische Telekommunikationsgesellschaft: »Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns.« Lord Kelvin, Präsident der britischen Royal Society, erklärte 1895, dass niemand Flugmaschinen konstruieren könne, die schwerer seien als Luft. Harry M. Warner, einer der größten Filmproduzenten der USA, meinte 1927 zur Tonfilmtechnik: »Wer zur Hölle will die Schauspieler sprechen hören?« Ken Olsen, Chef der Digital Equipment Corporation (DEC), einer der ersten großen Computerfirmen in den USA, sagte 1977: »Es gibt keinen Grund für irgendein Individuum, einen Computer zu Hause haben zu wollen.« 1982 lehnte IBM, seinerzeit noch das führende Weltunternehmen für Informationstechnologien, den Kauf des noch jungen Unternehmens Microsoft ab, weil dieses nicht die geforderten 100 Mio. Dollar wert sei; IBM war der festen Überzeugung, die Computerzukunft liege in Zentralrechnern. Die weltweit bekannte Beratungsfirma McKinsey prognostizierte 1980 im Auftrag des US-Telekommunikationskonzerns ATT, dass es bis zum Jahr 2000 in den USA nur 0,9 Mio. Mobiltelefone geben werde; tatsächlich waren es zu diesem Zeitpunkt schon 109 Mio. Alle Automobilkonzerne haben bis weit über das Jahr 2000 hinaus die Bedeutung des Elektroautos verkannt und bereiten sich erst seit kurzem eilig darauf vor, diese Automobiltechnik in die Serienproduktion zu bringen. Derartige Irrtümer resultieren aus strukturkonservativem Denken, Tunnelblicken anerkannter Experten und der Fehleinschätzung menschlicher Bedürfnisse. Nicht zuletzt entstehen sie aus einer Unterschätzung der Marktdynamik, wenn die Einführung einer Technologie nicht von wenigen Großabnehmern abhängig ist, sondern über zahllose Nachfrager erfolgt, die deren Gebrauchswert für sich selbst erkennen.
C. 100 Prozent-Szenarien: Von technischen Möglichkeiten zu Strategien
Als EUROSOLAR bei seiner Gründung 1988 das »solare Energiezeitalter«, in dem nur noch erneuerbare Energien genutzt werden, als »reale Vision« für das 21. Jahrhundert zum Ziel erklärte, galt das noch als verstiegener Traum. Ein Bundestagsabgeordneter, der der Partei der Grünen angehörte und als einer ihrer Vordenker galt, wunderte sich mit den Worten, dass nach seinem Wissen mehr als zehn Prozent kaum möglich seien. Als EUROSOLAR 1995 in Bonn ein Symposium über Ansätze einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien durchführte, war eine solche Veranstaltung noch ein Novum. Doch gab es zu diesem Zeitpunkt längst eine Reihe wissenschaftlicher Szenarien, die diese Möglichkeit detailliert darstellten. Das erste »100 Prozent-Szenario«, das die Möglichkeit einer vollständigen Energieversorgung aus erneuerbaren Energien beleuchtet, wurde bereits 1975 für Schweden erstellt (»Solar Sweden«), weitere folgten 1978 für Frankreich (ohne Zieljahr), 1980 für die USA mit dem Zieljahr 2050, 1982 für Westeuropa mit dem Zieljahr 2100 und 1983 für Dänemark für 2030. Im Auftrag des Deutschen Bundestages erstellte Harry Lehmann 2002 ein Szenario, das eine Energieversorgung beschreibt, die 2050 zu 95 Prozent auf erneuerbaren Energien gründet.[10] EUROSOLAR erstellte 2007 eine Studie, wie im Bundesland Hessen bis 2025 eine vollständige Stromversorgung durch erneuerbare Energien erreicht werden könne. Keines dieser Szenarien wurde jedoch öffentlich wahrgenommen, selbst wenn sie – wie 1980 in den USA – von Regierungsorganisationen (wie in diesem Fall von der Federal Emergency Management Agency, FEMA) veröffentlicht und mit Hilfe der Union of Concerned Scientists, einer unabhängigen Wissenschaftsorganisation mit zahlreichen Nobelpreisträgern unter ihren Mitgliedern, erstellt wurde. Im Mainstream der Energiediskussion waren solche Szenarien tabu. Selbst ein deutscher Greenpeace-Vertreter antwortete mir noch im Jahr 2006 auf die Frage, warum seine Organisation sich in ihren Veröffentlichungen nicht auf solche Szenarien beziehe: »Wir wollen ernst genommen werden.« Mittlerweile veröffentlicht Greenpeace selbst 100 Prozent-Szenarien.
Erst neuerdings werden solche Szenarien häufiger erstellt und etwas stärker beachtet, so das im April 2010 von der Beratungsfirma McKinsey erstellte und von der European Climate Foundation (ECF) veröffentlichte Szenario, in dem eine Vollversorgung Europas mit erneuerbaren Energien bis 2050 skizziert ist. Es kommt zum Ergebnis, dass diese nicht mehr Energiekosten verursachen würde als das gegenwärtige Energiesystem.[11]
Für Deutschland sind aktuell mehrere unterschiedliche 100 Prozent-Szenarien vorgestellt worden. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen (SRU) stellte im Mai 2010 – bezogen auf die Stromversorgung – drei verschiedene realisierbare Optionen mit dem Zieljahr 2050 vor:[12] Die erste stützt sich allein auf nationale Quellen und wird als die kostspieligste bewertet, was vor allem mit dem Mangel an Speicherpotenzialen begründet wird, wobei allerdings nur Druckluft- und Pumpwasserspeicher in Betracht gezogen werden. Die zweite Option bezieht sich auf einen deutsch-dänisch-norwegischen Stromverbund, in dem die norwegische Wasserkraft eine Schlüsselrolle als Reserve- und Ausgleichsenergie spielt, dafür müssten die Übertragungskapazitäten von gegenwärtig 1000 MW auf 16.000 MW bis zum Jahr 2020 und auf 46.000 MW bis zum Jahr 2050 ausgebaut werden; eine dritte Option setzt auf die Einbeziehung von Solarstrom aus Nordafrika (siehe dazu das 3. Kapitel).
Ebenfalls mit dem Zieljahr 2050 hat der deutsche Forschungs-Verbund Erneuerbare Energien im Juni ein Gesamtkonzept für eine Energieversorgung ausschließlich mit erneuerbaren Energien vorgestellt.[13] Bei der Stromversorgung geht das Konzept von einer europäischen Stromvernetzung aus. Für den Verkehrsbereich nimmt es eine weitgehende Umstellung auf Elektromobilität an, und für den Schiffs- und Flugverkehr die Umstellung auf synthetische Kraftstoffe aus erneuerbaren Energien, während es für die Wärmeversorgung vor allem solarthermische Kollektoren zugrunde legt. Auch der Forschungs-Verbund kommt zu dem Ergebnis, dass die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien im »Energiesystem 2050« nicht teurer werde als die gegenwärtige Energieversorgung. Es könnten sogar »allein in den Sektoren Strom und Wärme Kosten von insgesamt 730 Mrd. EUR eingespart« werden.
Das deutsche Umweltbundesamt kommt in seinem »Energieziel 2050«[14] – bezogen auf die Stromversorgung – ebenfalls zum Ergebnis, dass eine »vollständige auf erneuerbaren Energien beruhende Stromversorgung im Jahr 2050 in Deutschland als hoch entwickeltem Industrieland mit heutigem Lebensstil, Konsum- und Verhaltensmuster technisch möglich ist.« Es stellt dafür drei verschiedene Optionen vor: »Regionenverbund«, »Internationale Großtechnik« und »Lokal-Autark«. Die volle Umstellung der Stromversorgung wird wiederum als »ökonomisch vorteilhaft« gewertet. Sie führe zu geringeren Kosten als diejenigen, »die bei einem ungebremsten Klimawandel auf uns und künftige Generationen zukommen würden«. Im Zentrum der Betrachtung steht der »Regionenverbund«, der im Wesentlichen aus dem Ausschöpfen der regionalen Potenziale erneuerbarer Energien besteht. Der angenommene Strombedarf von 687 Mrd. Kilowattstunden im Jahr 2050 würde darin zu 36 Prozent aus Photovoltaik gedeckt, zu je 26 Prozent aus Windstrom an Land und auf See, zu 3,5 Prozent aus Wasserkraft, zu 7 Prozent aus geothermischer Energie und zu ebenfalls 3,5 Prozent aus Abfallbiomasse. Als Maßnahmen werden die Stärkung des Emissionshandels vorgeschlagen, die stärkere Ausrichtung der Energiebesteuerung an den CO2-Emissionen und die Förderung der Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien.
100 Prozent-Initiativen gibt es zunehmend bereits in Städten und Landkreisen. Einen Überblick vermittelt das Buch von Peter Droege »100 Prozent Renewable Energy«, das solche Konzepte für große Städte wie München oder für neue Städte wie Masdar City im arabischen Emirat Abu Dhabi enthält.[15] Ein Überblick über regionale Initiativen findet sich auch in dem vom Bundesarbeitskreis für umweltbewusstes Management (BAUM) herausgegebenen Buch »Auf dem Weg zu 100 Prozent-Regionen«.[16] All dies belegt klar, bei allen Unterschieden im Detail und auch der Konsistenz: Was für einzelne Länder, auch hochindustrialisierte, als Möglichkeit konkret beschrieben wird, ist prinzipiell überall möglich. Dies gilt umso mehr, als fast alle Szenarien und praktischen Konzepte zeigen, dass sie das breite Spektrum aller Optionen erneuerbarer Energien nicht im vollen bereits möglichen Umfang berücksichtigt haben, weil dies die Berechnungen kompliziert hätte.
Ein auf die gesamte Welt bezogenes 100 Prozent-Szenario wurde 2009 in der Zeitschrift »Scientific American« von Mark Z. Jacobson von der Stanford University und Mark A. Delucchi von der University of California unter dem Titel »Plan for a Sustainable Future« veröffentlicht[17]. Es zielt auf eine vollständige Umstellung bis zum Jahr 2030. Dafür seien etwa 3,8 Mio. Windkraftanlagen mit jeweils 5 MW Kapazität; 490.000 Gezeitenkraftwerke zu je 1 MW; 5350 geothermische Kraftwerke zu je 100 MW; 900 große Wasserkraftwerke zu je 1.300 MW (wovon bereits 70Prozent existieren), 720.000 Wellenkraftwerke zu je 0,75 MW sowie 1,7 Mrd. Photovoltaikanlagen auf Dächern zu je 3 KW, 40.000 Photovoltaik-Kraftwerke zu je 300 MW und 49.000 solarthermische Kraftwerke zu je 300 MW erforderlich. Der Weltenergiebedarf im Jahr 2030 wird mit 16,9 TW veranschlagt, wenn er mit konventionellen Energien gedeckt würde – aber nur mit 11,5 TW unter der Bedingung erneuerbarer Energien, weil diese deutliche Effizienzvorteile haben, z.B. durch die Vermeidung von Energieverlusten bei Elektromobilen. Die Kosten pro Kilowattstunde wären im Vergleich zu den Kosten fossiler oder atomarer Energiebereitstellung niedriger. Die Bioenergie wird von Jacobson und Delucchi als Option ausgeschlossen, aufgrund ökologischer Befürchtungen für die landwirtschaftlichen Strukturen und wegen der anfallenden Emissionen. Als politisches Handlungsinstrument empfehlen sie ein »feed-in-tariff«-Konzept, wie es vor allem in Deutschland (und gegenwärtig etwa 50 anderen Ländern) praktiziert wird. Die wichtigste Aussage dieses Weltszenarios ist, dass die dafür aufzubringenden Investitionskosten bei 100 Billionen US-Dollar liegen würden. Diese Summe wird mit den weltweiten Ausgaben für Brennstoffe, Kraftstoffe und Strom verglichen, die im Jahr 2009 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 5,5 und 7,75 Billionen US-Dollar lagen. Das bedeutet: Der Energiewechsel ist selbst dann die »wirtschaftlichere« Lösung, wenn nur die direkten Energiekosten konventioneller Energien berechnet werden und die externen Kosten in Form von Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschäden außer Betracht bleiben.
Gleiches gilt für die im Juni 2010 von Greenpeace vorgelegte Studie »energy (r)evolution«[18]. Sie nimmt bis 2050 einen Weltbedarf von jährlich 13,2 TW an, der zu 95 Prozent von erneuerbaren Energien gedeckt würde. Der größte Beitrag unter den erneuerbaren Energien wird der Windkraft (24,7Prozent) zugerechnet, gefolgt von solarthermischen Kraftwerken (20,5 Prozent), photovoltaisch erzeugtem Strom (15 Prozent), Wasserkraft (11,6 Prozent), geothermischer Energie (9,7), Meeresenergie (4,4 Prozent) und Bioenergie (4,2 Prozent). Als Maßnahmen empfiehlt die Greenpeace-Studie Einspeisegesetze, die flexiblen Instrumente des Emissionshandels und die Beendigung der Energiesubventionen für fossile Energien und Atomenergie.
Man darf keines der Szenarien wörtlich nehmen, als würde oder könnte es so wie beschrieben – also 1: 1 – realisiert werden. Die Prognostizierung der jeweiligen Prozentanteile erneuerbarer Energien, teilweise bis auf Ziffern nach dem Komma und über Zeiträume von mehreren Jahrzehnten hinweg, ist weder möglich noch nötig. Niemand kann die Kostenentwicklung, geschweige denn die Preisentwicklung der jeweiligen Technologien über so lange Zeiträume voraussagen, weil man deren Produktivitätskurve und Technologiesprünge und vor allem die potenziellen Akteure und ihre Motive nicht kennen kann. Niemand kann Investorenmotive nur nach technischen oder Kostenaspekten bewerten. Und niemand kann politische Entwicklungen voraussagen, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien begünstigen oder erschweren, in eine dezentrale oder in eine zentralisierte Richtung lenken. Ebenso wenig liefern Szenarien Hilfestellung, wie Widerstände überwunden und Widersprüche zwischen verschiedenen Handlungsempfehlungen vermieden werden können. Mit anderen Worten: Szenarien sind kein Ersatz für politische Zielfindung und darauf bezogenes Handeln. Sicher ist, dass das Mischungsverhältnis der erneuerbaren Energien anders aussehen wird, als jedes Szenario vorhersagen kann.
Nicht alle eingeführten Anlagen werden überdies den jeweils – der Einfachheit und Berechenbarkeit halber – errechneten Kapazitätsgrößen entsprechen. Eine Reihe von technischen Optionen bleibt deshalb auch in allen Großszenarien unberücksichtigt. Vor allem bleiben in allen auf ganze Staaten, auf Europa oder auf die Welt insgesamt bezogenen Szenarien die potenziell zahllosen Kleinanlagen außer Betracht, ob für Solarstrom, Windstrom, Wasserstrom, geothermische Energienutzung oder Anlagen für die kombinierte Erzeugung von Strom, Wärme und Kühlung – und ebenso die Potenziale integrierter Energiegewinnung in Gebäuden und Geräten und unterschiedlicher Speichermethoden. Sie sind aber diejenigen, die am schnellsten und sehr breit – weil unabhängig nutzbar – realisiert werden können und daher für den kulturellen Wandel der Energieversorgung stehen. Auffallend ist deshalb, dass die meisten auf ganze Länder bezogenen neueren Szenarien demgegenüber einen großräumigen internationalisierten Netzverbund vorsehen – mit Ausnahme des Szenarios »Regionenverbund« und »Lokal-Autark« des Umweltbundesamts und einer von drei vorgestellten Optionen des deutschen Sachverständigenrats für Umweltfragen. Ganz im Gegensatz zu Großverbundentwürfen stehen die kommunalen und regionalen 100 Prozent-Entwürfe und Initiativen, die bereits mitten in der praktischen Umsetzung sind.
Wie also ein alle Energiebedürfnisse erfassender Wechsel zu erneuerbaren Energien tatsächlich realisiert wird – d.h. mit welchen Anteilen der jeweils zur Verfügung stehenden Technikoptionen, in welchen Kapazitätsgrößen und in welchem Land oder welcher Region –wird und kann sich erst im konkret praktizierten Energiewechsel herauskristallisieren. Der Vollzug des Energiewechsels wird jeweils von Land zu Land, von Region zu Region anders sein, je nach politischen, geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Alle Szenarien sind deshalb auf ihre Art Glasperlenspiele. Ihr Stellenwert ist ein anderer: Sie zeigen die prinzipielle technische und wirtschaftliche Realisierbarkeit einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien auf. Die praktische Realisierung selbst kann dann dank der wachsenden Vielfalt der Technologien und deren Produktivitätssteigerung nur noch günstiger und vor allem vielfältiger ausfallen.
Damit sind solche Szenarien realistischer als diejenigen, die sogar von öffentlichen Institutionen – Forschungszentren und internationalen Energieorganisationen wie der IEA – für fossile Energien und die Atomenergie bis heute vorgelegt werden: Szenarien etwa, in denen fossile Energiereserven in Größenordnungen angenommen werden, für die es keine empirischen Belege gibt. Die zum Beispiel Atomanlagen wie den »Schnellen Brüter« in Zukunftsprojektionen einbeziehen, obwohl es bis heute keinen operationsfähigen Reaktor dieser Art gibt. Oder wenn, wie bereits erwähnt, die IEA den Bau neuer Atomreaktoren empfiehlt – ohne angeben zu können, woher die dafür erforderlichen Uranmengen kommen könnten und wie eine auf Dauer gesicherte Endlagerung der anfallenden gigantischen Atommüllmengen gewährleistet werden kann. Die von der IEA am 1. Juli 2010 veröffentlichten »Energy Technology Perspectives 2010« gehen sogar so weit, für die Weltenergieversorgung des Jahres 2050 einen Anteil von 19 Prozent durch CCS-Ansätze – mit weltweit 3000 Kraftwerken – zu prognostizieren, obwohl höchste Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Umsetzbarkeit dieser Technik bestehen. Und die Kernfusion, an der mit einem uferlosen Milliardenaufwand gearbeitet wird? Niemand weiß, ob sie jemals funktionieren wird, über ihre Risiken wird geschwiegen, und selbst ihre Befürworter sagen, dass sie nicht vor Mitte des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen kann. Zu diesem Zeitpunkt muss der Wechsel zu erneuerbaren Energien längst vollzogen sein. Die Kernfusion ist die Resthoffnung des alten Energiedenkens, das die Weltzivilisation in eine schon fast ausweglos scheinende Situation geführt hat.
Die Uhr der unterirdischen, in Kohle und Uran, Erdöl und Erdgas gebundenen Energien läuft unweigerlich ab. Die Stunde schlägt für die oberirdischen erneuerbaren Energien. Deren vorhandenes Potenzial war vor hundert, tausend oder zehntausend Jahren schon genauso groß wie jetzt, und es wird in zehn, fünfzig, hundert oder wesentlich mehr Jahren nicht größer. Um das fossile und atomare Zeitalter schnell hinter uns zu lassen, sind 100 Prozent-Szenarien eine gedankliche Hilfestellung. Einen Plan oder gar eine Strategie liefern sie nicht. Auch das Buch »Wir haben die Wahl« von Al Gore, das den Untertitel »Ein Plan zur Lösung der Klimakrise« trägt, erfüllt die damit geweckten Erwartungen nicht. Es enthält einen anschaulichen Überblick über alle Energiequellen mit klarer Favorisierung der erneuerbaren Energien und fokussiert seine Handlungsempfehlungen auf eine CO2-Steuer und den Handel mit Emissionszertifikaten.[19] Für die Realisierung des Energiewechsels geben solche Skizzen nicht viel her. Die Frage, wie und von wem er realisiert werden könnte, wird nicht beantwortet. Um einen politischen Plan durchzusetzen, bedarf es jedoch strategischer Kompetenz für die Auseinandersetzung mit konterkarierenden Interessen und Strukturen.
D. Strukturkonflikt: Das Spannungsverhältnis zwischen konträren Energiesystemen
Die Systemdifferenz ist der dritte große Unterschied zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien, neben dem Unterschied zwischen nur noch begrenzter und dauerhafter Verfügbarkeit und dem zwischen Emissionen einerseits und Nullemissionen andererseits. Sie ist objektiver Natur und darf deshalb nicht aus subjektiven Gründen der Konfliktvermeidung verwischt oder aus Gedankenlosigkeit unbedacht bleiben. Die mangelnde Beachtung dieser Systemdifferenz führt zu schweren strategischen Denkfehlern.
Dazu gehört der Denkfehler, dass der Bann der Energiewirtschaft gegen erneuerbare Energien gebrochen wäre, sobald diese »wettbewerbsfähig« seien oder gar kostengünstiger produzierten. Dies ist jedoch ein systemischer Irrtum. Das konventionelle Energiesystem ist entlang des von ihm organisierten Energieflusses organisiert. Wenn aus diesem das wichtigste einzelne Element – das Kraftwerk – herausgenommen und durch eine Stromproduktion aus erneuerbarer Energie ersetzt wird, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die diesem Kraftwerk vor- und nachgelagerten Einrichtungen. Die zuvor eingesetzte Primärenergie muss einen anderen Abnehmer finden oder wird gar nicht mehr nachgefragt. Das hat Auswirkungen auf die Primärenergiepreise und auf die Wirtschaftlichkeit der Transportinfrastrukturen. Gleiches gilt für den nachgelagerten Bereich, vor allem für das auf die Kraftwerkstandorte zugeschnittene Stromübertragungsnetz. Fällt ein Standort aus, weil der alternative Strom an anderer Stelle produziert werden kann, wird auch ein Teil des bestehenden Übertragungsnetzes überflüssig. Strom aus erneuerbaren Energien wird aber praktisch nie an denselben Standorten produziert wie konventionell erzeugter Strom, sondern in der Regel an vielen Standorten in kleinen Produktionseinheiten.
Ob, wann und wie also ein Energiekonzern herkömmliche Energieangebote durch erneuerbare Energien ersetzen wird, ergibt sich nicht in erster Linie aus einer isolierten Kostenbetrachtung der Stromerzeugung. Die Entscheidungskriterien der Energiekonzerne haben andere Hintergründe. Sie erklären, warum z. B. ein Energiekonzern, der Kohlekraftwerke betreibt, zugleich im Kohlebergbau tätig ist (sich also selbst mit Brennstoffen beliefert) und auch noch Eigentümer des Übertragungsnetzes ist, sich gegenüber erneuerbaren Energien zögerlich verhalten wird, weil sie das eingespielte System stören. Wenn dieser Energiekonzern dennoch in erneuerbare Energien investiert, dann vorzugsweise außerhalb seines Bezugssystems. Der deutsche Stromkonzern E.ON investiert in Windkraftprojekte in Großbritannien statt in Deutschland, weil er so seine angestammten Kreise nicht stört. Er verhält sich systemlogisch, ebenso wie es auch andere Stromkonzerne tun.
Mit anderen Worten: Die Stromerzeugungskosten oder auch die Brennstoffkosten für herkömmliche Energien sind für einen Stromkonzern nicht die einzigen Entscheidungskriterien, und nicht einmal die unbedingt wichtigsten. Entscheidend sind die jeweiligen Systemkosten des Unternehmens. Gleiches gilt für den Kraftstoffsektor: Benzin, Diesel und Kerosin werden in Ölraffinerien produziert. Die jeweiligen Derivate dieser Produktionssegmente stellen Sekundärstoffe dar, die etwa für die Produktion von Schmierölen, Düngemitteln und Kunststoffen genutzt werden. Fällt eines dieser Nebenprodukte aus der Verwertung, wird es zu Abfall. Solche internen Rückkopplungen erklären die geringe Flexibilität des etablierten Energiesystems gegenüber Substituten durch andere Anbieter, die den Betrieb stören. Die Energiekonzerne sind Gefangene ihres eigenen Systems. Ihr spezifisches Problem stellen sie jedoch gern als allgemeines dar, indem sie ihre Unternehmensratio zur volkswirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Rationalität verklären. Sie sehen die Einführung erneuerbarer Energien aus ihrem Blickwinkel, aber nicht aus dem des gesellschaftlichen Gesamtinteresses. Wenn sie sich daher auf erneuerbare Energien zubewegen, dann nur in dem Maße, wie sie das eingespielte System nicht durcheinander bringen. Erneuerbare Energien sind dann zunächst nur Ersatz oder Ergänzung. Der systemische »worst case« für die etablierten Energiekonzerne trifft ein, wenn der Durchbruch zu erneuerbaren Energien durch andere schnell und auf breiter Front erfolgt, so dass ihnen das Geschehen aus den Händen gleitet. Um nicht abgehängt zu werden, sind sie deshalb aktuell zu Eigenaktivitäten für erneuerbare Energien gezwungen, werden dabei aber immer für sie »systemgerechte« Ansätze bevorzugen.
Wie bedrohlich der Wechsel zu erneuerbaren Energien für die Energiekonzerne ist, kann jeder ermessen, der sich konkret vor Augen führt, was geschieht, sobald dieser an Fahrt gewinnt. Jeder kann sich selbst die Frage beantworten, für wen die jeweilige Entwicklung vorteilhaft oder nachteilig ist. Es ist ein Wechsel
– von Importenergie zu »heimischer Energie«, in allen Energieimportländern, wozu die Mehrzahl der Länder gehört;
– von kommerzieller zu nichtkommerzieller Primärenergie, die weder gefördert noch aufbereitet werden muss und außerdem nichts kostet;
– von einer teilweise über den halben Erdball reichenden Transportinfrastruktur für die Lieferung von Primärenergie (Pipelines, Schiffe, Züge, Tankwagen) zu einer Primärenergie, die keine Transportinfrastruktur braucht;
– von konventionellen Energiespeichern zu neuen Speicherformen für die bereits in Strom und Wärme umgewandelten erneuerbaren Energien;
– von wenigen Großkraftwerken zu zahlreichen Kraftwerken an vielen Standorten, und damit von wenigen Anbietern und konzentrierter Kapitalakkumulation zu vielen Anbietern, breit gestreuter Kapitalbildung und Wertschöpfung;
– von vielen Hochspannungsleitungen, ausgehend von Großkraftwerken, zu einer Netzstruktur, die von regional breit gestreuten Produktionseinheiten ausgehen muss;
– von der gegebenen Energielieferwirtschaft zur Produktion von Technologien, um erneuerbare Energien ernten, umwandeln und nutzen zu können.
Die einzige Ausnahme bildet die Bioenergie, weil hier die Primärenergie produziert, aufbereitet und bezahlt werden muss, was sowohl im klein- wie im großunternehmerischen Format denkbar ist. Auch hier werden sich jedoch Lieferströme bzw. Bereitstellungsketten grundlegend von denen der fossilen Energien unterscheiden.
Das konventionelle Energiesystem musste aufgrund der im globalen Maßstab notwendig gewordenen Entkoppelung von Energieförderung und Energieverbrauch zwangsläufig zu einem Reservat von Großunternehmen werden, die sich aus Gründen eigener Systemerhaltung immer mehr internationalisieren. Sie folgen damit der Systemlogik der konventionellen Energiequellen – ob als Importeur oder als Exporteur. Mit dem Wechsel zu erneuerbaren Energien werden fast alle Elemente des bisherigen Systems nach und nach funktionslos, mit den Zwischenstadien sinkender Kapazitätsauslastung. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien geht zu Lasten der bisherigen Energiewirtschaft und von deren Zulieferern, weil deren herkömmliche Systemelemente Zug um Zug unwirtschaftlich werden. Einen Zeitpunkt, an dem ihre Anlagen gleichzeitig abgeschrieben sind, gibt es nicht einmal theoretisch. Bereits Abgeschriebenes oder Veraltetes steht neben Neuinvestitionen.
Ein schneller Energiewechsel, der objektiv möglich ist, erscheint konventionellen Energiekonzernen deshalb unmöglich – und ist es aus ihrer Sicht auch, wenn sie Kapitalvernichtung vermeiden wollen. Deshalb versuchen sie, den Wechsel zu erneuerbaren Energien entweder zu verhindern oder zu verschleppen und in jedem Fall unter ihre Kontrolle zu bringen. Weil sie selbst behindert sind, behindern sie andere. Sie folgen einer konzernwirtschaftlichen Ratio, die weder eine industriewirtschaftliche noch eine volkswirtschaftliche oder gesellschaftliche Rationalität sein kann. Sie sind die Verlierer des schnellen Energiewechsels – es sei denn, sie wären zu einer radikalen Selbstreform an Haupt und Gliedern unter Inkaufnahme schwerwiegender aktueller Verluste fähig und bereit. Aber welches Konzernsystem war dazu je in der Lage – zumal, wenn es mit so vielen räumlich weit auseinander liegenden Systemelementen verkettet ist? Dass ein Stromkonzern – wenn schon, denn schon – solare Großkraftwerke oder große Windparks auf hoher See vorzieht, kann daher nicht überraschen. Er wird das damit begründen, dass dies der »wirtschaftlichere« Ansatz sei. Aber wirtschaftlich für wen? Diese Vorlieben haben systemische Gründe und nicht allgemeingültig wirtschaftliche. Welche Technologie der erneuerbaren Energien – und damit welche ihrer Quellen – die wirtschaftlichere ist, hängt immer mit von deren Anwendungszweck und den Systembedingungen des Investors ab.
Der Wechsel zu erneuerbaren Energien ist also unweigerlich ein Konflikt zwischen zwei unterschiedlich funktionierenden Energiesystemen. Erneuerbare Energien erfordern andere Techniken, Anwendungen, Standorte, Infrastrukturen, Kalkulationen, industrielle Schwerpunkte, Unternehmensformen, Eigentumsverhältnisse und vor allem andere rechtliche Rahmenbedingungen! Die Schrittmacherrolle für erneuerbare Energien kann nicht bei den Systemträgern der konventionellen Energieversorgung liegen, also der gegenwärtigen Energiewirtschaft. Diese kann sich nicht neutral gegenüber allen Energiequellen verhalten, weil ihr Systemzuschnitt auf die herkömmlichen Energien ausgerichtet ist. Weil der Energiewechsel schnell gehen muss, kann er nicht von denjenigen abhängig gemacht werden, die ein wirtschaftliches Eigeninteresse an seiner Verlangsamung haben. Nach einer äußerst kontroversen Fernsehdiskussion, die ich mit dem Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Stromkonzerns darüber hatte, sagte dieser mir anschließend »persönlich vertraulich«: »Sie haben leider recht. Aber wenn ich das öffentlich zugebe, bin ich morgen draußen. Was würden Sie denn tun, wenn Sie auf meinem Stuhl säßen?« Ich konnte ihm nur sagen, dass ich mich nicht auf seinen Stuhl setzen würde, allerdings auch kein Mitleid habe, weil er für seine Berufslüge eine Entschädigung in Millionenhöhe bezieht.
Die bestehenden strukturellen Barrieren gegenüber erneuerbaren Energien würden in der Praxis selbst dann weiterwirken, wenn die Konzerne sich vom Weltbild der konventionellen Energieversorgung gelöst hätten. Die treibenden Kräfte für den Wandel sind dagegen jene, die am wenigsten mit der etablierten Energiewirtschaft verflochten sind. Jede Strategie, die das übersieht, verfehlt ihr Ziel.
E. Mobilmachung: Der Energiewechsel als gesamtpolitische Herausforderung
Lester Brown, der Gründer des World-Watch-Institute und heutige Direktor des Earth Policy Institute in Washington, fordert in seinem Buch »Plan B« den Wechsel zu erneuerbaren Energien mit einer politischen Kraftanstrengung, die einer »wartime mobilization« in »Blitzgeschwindigkeit« entspricht. Er erinnert daran, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt Anfang 1942, nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung gegen die USA im Dezember 1941, die militärische Mobilmachung einleitete und die sofortige massive Produktion von Kriegsschiffen, Flugzeugen und Panzern veranlasste: »Und niemand soll zu sagen wagen, das sei nicht möglich.« Unter anderem wurde der Verkauf privater Autos für fast drei Jahre verboten, um das gesamte Produktionspotenzial der Automobilindustrie für die Produktion von Kriegsfahrzeugen einzusetzen.[20]
Eine außergewöhnliche Kraftanstrengung ist auch geboten, um den faktisch stattfindenden atomar-fossilen Krieg gegen die Lebenschancen der menschlichen Zivilisation zu beenden. Doch ist dies die einzige Analogie zu Roosevelts militärtechnischer Mobilmachung. Die Mobilisierung für den Energiewechsel bedarf gänzlich anderer Ansätze als des von Roosevelt gewählten, denn sie richtet sich gegen völlig andere Kontrahenten. Sie zielt auch auf die Produktion neuer Technologien, auf einen umfassenden wirtschaftlichen Strukturwandel, eine neue Kultur des Wirtschaftens unter neuartigen Rahmenbedingungen – und nicht auf staatsdirigistische Eingriffe in Unternehmensentscheidungen. Stattdessen zielt sie darauf, den strukturellen Dirigismus der konventionellen Energieversorgung außer Kraft zu setzen.
Vorbildlich ist Roosevelt jedoch mit dem Konzept der zielbewussten Bündelung aller notwendigen Kräfte mit unkonventionellen Methoden. Er wollte keine Situation zulassen, in der er hätte sagen müssen: »Leider können wir die Kriegsführung Japans und Hitler-Deutschlands nicht angemessen durchkreuzen, weil dies den bestehenden Wirtschaftsstrukturen zu viel abverlangt.« Genauso wenig dürfen wir die strategische Mobilisierung für den Energiewechsel davon abhängig machen, ob diese mit den der konventionellen Energieversorgung verhafteten Interessen und Strukturen vereinbar ist. Die nächste Generation, die mit den katastrophalen Folgen fossiler und atomarer Energien zurechtkommen muss, wird sich nicht mit der Entschuldigung besänftigen lassen: »Wir hätten sie durch den konsequenten Wechsel zu erneuerbaren Energien abwenden können, aber wir mussten auf entgegenstehende Interessen Rücksicht nehmen. Das war wichtiger. Wir bitten um Verständnis.«
Jede Strategie für den Energiewechsel verlangt, Hindernisse zu beseitigen, die jedoch von Land zu Land unterschiedlich sind. Aufgrund des jeweils unterschiedlichen natürlichen Angebots erneuerbarer Energien können die Gestaltungsschwerpunkte des Energiewechsels nicht weltweit die gleichen sein. Aus den Monokulturen der konventionellen Energieversorgung, die sich im internationalen Vergleich stark ähneln, entstehen verschiedenartige Multikulturen erneuerbarer Energien. Die strategische Mobilisierung erneuerbarer Energien muss schon deshalb vor allem eine einzelstaatliche sein – nicht aus engen nationalistischen Gründen, sondern weil sie sich auf das jeweilige natürliche Angebot erneuerbarer Energien sowie auf die jeweiligen Wirtschaftsstrukturen und Rechtsordnungen beziehen muss, die mit der konventionellen Energieversorgung vielfältig verquickt sind.
Hinzu kommen die sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstadien: Es gibt Entwicklungsländer, Schwellenländer und Industrieländer, Länder mit einem durchstrukturierten Strommarkt und solche, in denen nur spärliche Netze existieren. Es gibt Energieexport- und Energieimportländer, großflächige Länder mit geringer und kleinflächige mit hoher Siedlungsdichte. Für den durchgehenden Energiewechsel kann es also nicht eine Strategie geben, die auf alle übertragbar ist. Erfolgreiche Konzepte, wie etwa das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz, können zwar vielen Ländern zum Vorbild werden. Aber auch dies ist nur möglich, wo Netzinfrastrukturen bestehen – und nur, wenn es um Strom- oder Gaslieferungen geht. Einflächendeckender Ausbau eines Stromnetzes, woran es in vielen Entwicklungsländern fehlt, ist aber dort für die Mobilisierung der erneuerbaren Energien gar nicht mehr nötig und würde sie erheblich verzögern. Überdies geht es nicht allein um die Stromversorgung und um den Strommarkt, sondern auch um Fragen der Wärme- und Kraftstoffversorgung, um Marktordnung, Raumordnung, um das Bau- oder Steuerrecht, und nicht zuletzt um Fragen der jeweiligen politischen Handlungskompetenzen in unterschiedlichen Verfassungsordnungen.
Für jede politische Mobilisierungsstrategie zu erneuerbaren Energien sind zwei Handlungsgrundsätze von maßgeblicher Bedeutung:
– Zum einen muss über den konventionellen energiewirtschaftlichen Kalkulationsrahmen hinausgegangen werden, der sich nur auf aktuelle Kostenvergleiche zwischen konventionellen und erneuerbaren Energietechniken bezieht. Die größten volkswirtschaftlichen Kostenfaktoren der konventionellen Energieversorgung bleiben dabei in der Regel unbeachtet und tauchen in den Energiepreisen nicht auf, nämlich die Belastung der Zahlungsbilanz durch Energieimporte sowie Gesundheits-, Umwelt- und Klimaschäden. Unberücksichtigt bleiben auch die über die Kraftwerks- oder Raffineriekosten hinausgehenden Infrastrukturkosten der konventionellen Energielieferkette. Das Maß der Dinge sind die volkswirtschaftlichen Vorteile, die sich durch erneuerbare Energien ergeben. Sie gelten jedoch nicht für alle Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen. Politische Konzepte zur Mobilisierung erneuerbarer Energien müssen deshalb die volkswirtschaftlichen Vorteile in einzelwirtschaftliche Anreize übersetzen. Diese Vorteile – und damit die eigenen volkswirtschaftlichen Spielräume für einen Energiewechsel – gehen aber verloren, wenn erneuerbare Energien aus anderen Ländern importiert würden, wo sie kostengünstiger produziert werden können. Volks- und regionalwirtschaftliche statt isolierter betriebswirtschaftlicher Kalkulationen müssen deshalb der Maßstab für Transformationsstrategien sein.
– Zum anderen muss durch eindeutige, vom höheren gesellschaftlichen Wert der erneuerbaren Energien legitimierte Vorrangregelungen gewährleistet sein, dass die konventionellen Energieangebote in dem Maße verdrängt werden, in dem der Beitrag der erneuerbaren Energien zur Energieversorgung wächst. Die Anpassung der Systemfunktionen der überkommenen Energieversorgung an die erneuerbaren Energien muss politisch sichergestellt werden. Für die etablierte Energiewirtschaft ist dies eine Zumutung, weil ihr diese Unterordnung schon abverlangt werden muss, wenn sie noch den überwiegenden Beitrag zur Energieversorgung leistet. Das Maß der Dinge darf nicht länger sein, wie viel erneuerbare Energien das konventionelle Energiesystem verträgt. Konkret bedeutet das, für die konventionelle Energieversorgung keine Neuinvestitionen mehr zu genehmigen, die eine mehrere Jahrzehnte dauernde Amortisationszeit erfordern. Nur dadurch kann verhindert werden, dass die Mobilisierung erneuerbarer Energien immer wieder von den Systemfunktionen der konventionellen Energieversorgung durchkreuzt wird. Deshalb passen weder neue Kohlegroßkraftwerke noch neue Atomkraftwerke oder verlängerte Laufzeiten in eine Strategie des Energiewechsels.
Beide Handlungsgrundsätze können nur mithilfe ordnungspolitischer Entscheidungen durchgesetzt werden. Die erste Grundsatzentscheidung sprengt den bisherigen energiewirtschaftlichen Betrachtungs- und Handlungsrahmen und macht aus einem geschlossenen Energieversorgungssystem ein offenes, das Spielräume für viele Initiatoren eröffnet. Die zweite ist auf das strukturkonservierende Interesse der Energiewirtschaft gerichtet. Sie zwingt diese, innerhalb des Energiewechsels selbst eine konstruktive Rolle zu übernehmen. Sie stellt diese vor die Frage, ob sie weiter um ihre Bestandserhaltung – noch ein paar Jahrzehnte bzw. eine Generation von Großanlagen mehr – kämpfen will, statt sich auf völlig neue Unternehmensperspektiven einzustellen, in anderem Format und mit anderen Schwerpunkten, auch jenseits ihres bisherigen Kerngeschäfts.
Der politische Raum ist der Hauptkampfplatz dieses strukturellen Energiekonflikts, was nicht zu trennen ist von dem Kampf um die öffentliche Meinung. Jeder Ruf nach einem Energiekonsens, in dem alle Energien ihren »berechtigten« Platz haben beziehungsweise zugewiesen bekommen, läuft auf einen quotierten und damit begrenzten Beitrag der erneuerbaren Energien hinaus. Die Träger des konventionellen Energiesystems wie auch seine Protektoren in politischen Institutionen und Parteien übersehen jedoch, dass es eine Entwicklungsdynamik zu erneuerbaren Energien gibt, die ab einem bestimmten Punkt der Verfügbarkeit der dafür erforderlichen Technologien weder von den Strukturen der konventionellen Energieversorgung noch von politischen Institutionen aufzuhalten ist, sondern allenfalls gebremst werden kann. Dies gilt zumindest für demokratische und marktwirtschaftliche Ordnungen.
Diese Dynamik bezieht sich vor allem auf solche Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien, die netzunabhängig sind und deshalb autonom eingesetzt werden können. Das herausragendste und bedeutsamste Beispiel dafür sind Gebäude, die sich selbst aus der natürlichen Umgebungsenergie mit Energie versorgen können. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine technologische Entwicklung etablierte Strukturen und politische Hindernisse unterminiert oder überrollt. Dies ist in der Energieversorgung allein mit erneuerbaren Energien möglich. Jede Strategie für den Energiewechsel muss dieses Potenzial im Auge haben, weil nicht zu erwarten ist, dass jemals die Situation eintreten wird, in der alle Regierungen und Parteien gleichzeitig die Zeichen der Zeit erkennen und ihre Entscheidungen für den Energiewechsel unabhängig von strukturkonservativen Energieinteressen treffen. Das war noch nie der Fall, auch nicht in den Zeiten der rotgrünen Koalitionsregierung in Deutschland. Regierungen müssen zum Jagen getragen werden, von einer demokratischen Öffentlichkeit und von den wirtschaftlichen Akteuren der technologischen Revolution hin zu erneuerbaren Energien, die sich zu entfalten begonnen hat. Die wichtigste politische Aufgabe ist, die Räume dafür zu öffnen, indem alle willkürlichen Beschränkungen zur autonomen Nutzung erneuerbarer Energien aufgehoben werden.
Die generelle Ausrede der Träger des überkommenen Energiesystems lautet, der schnelle Energiewechsel sei gar nicht realisierbar oder zu riskant. In dem gewachsenen und ihr auch lange Zeit zugestandenen Anspruch auf Allkompetenz in den Fragen der Energieversorgung verwechselt sie dabei sich selbst mit der Wirtschaft und der Gesellschafft insgesamt: Was für sie nicht realisierbar oder zu riskant ist, wird generell disqualifiziert. Deshalb müssen sich alle die Frage stellen, ob es sich bei den vielerlei Blockaden und Bremsen, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien erschweren und aufschieben, um bloße Ausflüchte handelt oder um berechtigte Einwände. Dies zu erkennen, ist im Durchsetzungskonflikt um erneuerbare Energien von ausschlaggebender Bedeutung. Solange widerlegbare Aussagen als begründet und stichhaltig gelten, halten sie viele in der Politik, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft davon ab, den Wechsel zu erneuerbaren Energien konsequent voranzutreiben und den schnellsten Weg dahin einzuschlagen.