Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 46
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ОглавлениеIndes so der Lahme auf enger Scholle gegen sein Geschick kämpfte, spann sich in Steindorf und nach und nach in der Umgegend ein Netz von Vermutungen.
Das Verschwinden des Klose-Schusters reizte die Neugier der Leute am meisten, die, durch die Kälte in engen Wohnungen zusammengepfercht, gemeinsam an der Entwirrung des Rätsels arbeiten konnten.
Es bildeten sich die verschiedensten, widersprechenden Gerüchte: er sei im Walde erfroren, er sitze wegen Landstreichens im Gefängnisse. Diese Meinungen tauchten anfangs auf und waren einfach und natürlich. Aber sie vermochten das Interesse nicht dauernd zu fesseln, und da sich nichts Neues ereignen wollte, so begann man, das Ereignis immer verwickelter zu erklären. In irgendeinem Dorfe war irgend was von irgend jemand gestohlen worden, ohne daß man dem Dieb auf die Spur gekommen wäre. Damit brachte man den Schuster in Verbindung und meinte, er habe sich auf Nimmerwiedersehen mit dem Raube über alle Berge gemacht. Bald war man auch dieser Erklärung überdrüssig und gestaltete ein dramatisches Gerücht. Leise, daß es niemand erfahre, erzählten sich alle, der Lahme halte den Schuster gefangen, nachdem er ihn halbtotgeschlagen, denn er sei beim Ausgraben der Grenzsteine von ihm ertappt worden. Ein Mann vom Eschberge wollte in der Frühdämmerung, da er nach seiner entfernten Arbeitsstelle ging, gesehen haben, wie Klose von dem Lahmen am Genick über das Feld geschleift worden sei. Er habe, hinter der Mauer stehend, alles genau gesehen, sei aber aus Angst vor dem Klumpen eilig davongegangen.
Die Abenteuerlichkeit dieser Version zog alle an, und jeder fand Gelegenheit, in ihren weiten Maschen noch eine oder die andere Variante anzubringen. Als das Gerücht einigemal die Runde durch alle Stuben gemacht hatte, war es zu einem Roman angewachsen, an dem niemand mehr zu zweifeln wagte.
Jeder erinnerte sich plötzlich einer Grobheit und Roheit des Lahmen; alle fühlten sich bedroht und beunruhigt, das mißhandelte Rechtsbewußtsein forderte Aufklärung.
So stellte sich vierzehn Tage nach dem Verschwinden Kloses seine Schwester Pauline, Paule genannt, auf dem Höfchen am Freibusche ein, um nach ihrem Bruder zu fragen. Sie traf Marie allein in der Stube.
Dem Mädchen hatte die Kalte arg zugesetzt, und ihr Körper bebte unter der ärmlichen Bekleidung. Die heikle Mission, welche sie unternommen hatte, um zu sühnen, was sie durch ihren Fehltritt am Bruder gesündigt, verstärkte die Schauer, welche von Zeit zu Zeit ihren Leib schüttelten. Nur das abgehärmte Gesicht, das in der ersten Jugend wohl einmal nicht unschön gewesen sein mochte, war leicht gerötet.
Zögernd trat sie ein, grüßte und schlug die Augen nieder.
Marie nötigte sie, auf der Bank Platz zu nehmen, und ließ sich selbst auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder.
Da der Besuch, welcher Marie ganz unbekannt war, keine Miene machte, zu sprechen, sondern seine großen Augen neugierig und ängstlich durch den Raum gehen ließ, fragte das junge Weib:
»Na, was bringen Sie denn Scheenes, Jungferla?«
Paule wurde verwirrt, senkte die Augen und antwortete dann feindselig:
»Sie kenn' mich wohl; aber Se tun natürlich au, als wenn's nich wahr wär.«
»Un was sollte denn nich wahr sein?«
»Ich bin de Paule.«
»Ja, warum sollte denn das nich wahr sein? Wenn Sie's sagen, da wird's wohl stimmen.«
»Ach, Sie versteh« mich nich. Vo mei'm Bruder...« Sie brach ab und sah Marie aufmerksam an.
»Ihr Bruder... ja, wer is'n das?«
»Da sieht ma's, daß alls wahr is! Mein Bruder kenn' Se nich, Gustan, a Schuster, der de da aus und ein gegangen is? – Ma sieht's. Aber verlassen Se sich of mich, ich geh nich ehnder, bis ich a nich gesehn hab'!«
Sie nahm die blaue Schürze herauf und hielt den Zipfel vor den Mund.
»Ja, aso!... Ihr Bruder is der Klose-Schuster... hm, hm...«
Marie wußte nicht, wie es kam, daß sie unsicher wurde. Aus den großen Augen vor ihr, die eben noch feucht gewesen waren und nun so entschlossen zu leuchten begannen, da sie stotternd abgebrochen hatte, sprach der feste Wille, ein Rätsel zu lösen, das auch sie nun schon seit Tagen verfolgte. Das Verschwinden des Schusters kam ihr plötzlich auch geheimnisvoll vor, daß sie sich darüber wunderte, wie sie bisher hatte so gleichgültig bleiben können.
Das ging in ihr vor, indem sie einige Sekunden zögerte. Dann setzte sie gewandt ihre Entgegnung fort:
»Mein Gott, wer wundert sich groß, wenn Ihr Bruder fort is! Der is doch bale da, bale dort; er war am, um a zwanzigsten vergangenen Monat bei uns, hat mit zu Mittag gegessen, is nausgegangen, und dann hab' ich'n nich meh gesehn.«
Paule sprang auf, und indem sie an den Tisch trat, schleuderte sie mit bebender Stimme Marie den Verdacht ins Gesicht, den Steindorf und die ganze Umgegend hegten.
»Ha'ch«, beendete sie, »Ihrem Manne is alls zuzutraun! Dem is egal, ob der eene Katze oder een Mensch halbtotschlägt.«
Da erscholl Räuspern aus rauher Männerkehle.
Erschrocken kehrten sich die Frauen um.
In der Tür stand der Lahme. Ein Krampf ging durch seinen Körper. Die Arme hingen straff am Leibe herab, als trage er schwere Gewichte an seinen Fäusten, die fest geschlossen waren, daß die Knöchel weiß schimmerten. Sein Gesicht war fahl, die Augen lagen tief in den Höhlen, um seine schmalen Lippen stand ein regungsloses Lächeln, mehr eine starre Verzerrung.
Leise und bedachtsam schloß er die Tür, leise und langsam, den Kopf etwas seitlich geneigt, kam er näher.
Marie klopfte das Herz vor diesem furchtbaren Anblick. Sie wußte, daß er sich im nächsten Augenblick auf das Mädchen stürzen würde.
Aber es geschah nicht.
Etwa zwei Schritte vor ihr machte er halt und sah sie lange stumm an mit seinen kalten, bohrenden Augen. Dazu lächelte er verzerrt und stumm.
Paule öffnete den Mund, um zu sprechen, allein sie war so in der Angst, daß sie nicht ein Wort hervorbringen konnte. Mit offenen Lippen starrte sie ihn an, und Tränen traten in ihre Augen.
Der Lahme weidete sich noch eine Weile an ihrem Schrecken; dann sprach er, anfangs mit tiefer Stimme, deren Wanken ihr einen weichen Klang verlieh:
»Ich hab' alles gehört. 's is gut. Aber – sag's nich mehr ein zweites Mal. Setz dich, Paule, sag's nich mehr! Siehch dir meine Hände an. Sag's nich mehr!«
Die Drohungen waren immer wilder geworden; aber er begleitete sie mit einem freundlichen Zug im Gesicht, dessen man ihn nicht fähig gehalten hätte.
Dann fragte er: »Is Guste nich mei Kamerad vo dr Schule her?«
Niemand antwortete.
»Wer hat'm unter de Arme gegriffen, wie du, Paule, am Frühjahre ei dr Schande heemkamst? Ei der Schande, ohne 'n Böhmen Geld, zu deiner armen Mutter ei dr Schande! Was?«
Dem Mädchen strömten die Tränen über das gequälte Gesicht, und sie mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht laut aufzuschluchzen.
»Ja nu, da sollte ich deinen Bruder haun! Weshalb ich denn?«
Exner lachte nach diesem Ausruf schreiend, rüttelte die erhobenen Arme nach der Seite und wurde noch bleicher.
Jetzt wagte es Paule, zu antworten:
»'s heeßt, weil er un hat zugesehen, weil du ...«
Es ging doch über ihre Kraft, dem Lahmen die Beschuldigung direkt ins Gesicht zu sagen, und sie bückte sich auf ihren Fuß, als sei da etwas zu ordnen.
Exner lachte wieder, aber es war, als sitze sein Hals in einem Schraubstock. Der Schweiß brach aus seiner Stirn, und er trocknete sie mit zitternder Hand.
»Nu«, antwortete er dann, »ich weeß alls, was a Steindorfer Leuten de Köppe mit solchen Madenfliegen füllt. Haha, ihr, ihr! Ausgemachte Esel seid'r alle, sonst nischt. Wenn Guste wird wiederkommen, da wird er's euch sagen, ob ich an eem Steene gerückt hab'. Ich mich weger eem so eem Stücke! Acker ei's Zuchthaus bringen? Da müßt' ich Hörner han und Muh schrein! – Wo soll er denn stecken? Ihr müßt's ja wissen, wenn'r 's ausgeheckt habt! Komm, Paule, zum Spaße wer ich dich hinführen, wo de hin willst: ei den Keller, ei den Stall, of a Boden. A Staub aus a Schüben blasen kannste, wenn de willst! – Soll ich etwan de Dielen ufreißen? Haha. – Oder – oder willste ei a Born steigen?«
Er hatte es sagen müssen; eine unwiderstehliche Gewalt hatte ihn dazu gedrängt, als sei das Verfluchte fort von ihm, wenn er es ausspreche. Nun aber seine Stimme, fremd und sicher wie die eines Anklägers, der neben ihm stehe und alles wisse, in sein Ohr geklungen hatte, fühlte er einen Druck sich auf sein Hirn legen, der zunahm und so stark wurde, daß es war, als schrumpfe sein Kopf zusammen.
Vor seine Augen legte sich eine immer mehr verdunkelnde Wolke. Er mußte die Ofenkante krampfhaft hinter dem Rücken mit den Händen fassen. Alle Gegenstände in der Stube verschwanden, als wollten sie in die Luft aufschwanken.
Endlich war die Schwäche vorüber, und Exner sah wieder ganz deutlich den bunten Stieglitz im Käfig umherspringen. Das machte ihm ein so großes Vergnügen, daß er lachte und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten.
Schließlich zwang er sich zum Ernste und sprach trocken:
»Na, Paule, komm, wir wern suchen gehen.«
Das Mädchen erhob sich und folgte ihm ins Haus. Dort drückte sie sich an dem Klumpen vorbei, sprang flüchtend zur Haustür hinaus und rief herein:
»Adje, Exner! Mich fängste nich!«
Der Lahme sah ihr nach und lachte wieder, aber nun klang es, als flattere ein geständertes Huhn zur Erde. Jäh brach er ab, sah sich erschrocken um und ging mit ernstem, bleichem Gesicht wieder in die Scheuer. Marie saß unbeweglich in der Stube und sah mit weit geöffneten Augen starr auf die Diele, als stehe dort eine unsichtbare Schrift, die sie ganz genau zu lesen vermöge, deren Inhalt aber so entsetzlich war, daß sie von einem Taumel erfaßt wurde.
Warum war ihr Mann nicht aufbrausend gewesen? Warum hatte er sich, entgegen seiner Gewohnheit, in ein langes Gespräch eingelassen? Warum hatte er so grauenvoll gelacht?
Die Antwort stand dort auf der Diele zwischen den Reihen schwarzer Nagelköpfe.
Über das Glück, das sie in sich trug, legte sich ein Schleier, der die schönen Bilder ihrer Hoffnung einhüllte und still entführte. Wie ein abgeerntetes Feld war ihre Seele, und hinter dem schwankenden Grau, das die Träume abräumte, blieb eine wüste, leere Fläche zurück, gleich dem umgebrochenen Stoppelfelde, das aussieht wie ein Friedhof, mit unzähligen, frisch aufgeworfenen Hügelchen.
»Alle meine Zukunft ist tot«, sann sie, »begraben und beginnt zu verwesen.« Ja, und plötzlich nahm sie wirklich jenen süßlichen, beklemmenden Geruch wahr, der von Leichen ausgeht. Hastig holte sie Atem, aber es verhielt sich so. Nun schmeckte sie ihn auch.
In Angst aufspringen, die Tür aufreißen und im Hause atmen war eins. Der Geruch lag auch hier.
Sie hielt den Atem in gespannter Brust an und das Herz mitten im Schlage, trat vor die Haustür und öffnete den Mund, um draußen in der frischen Winterluft diese schreckhafte Sinnestäuschung loszuwerden. Aber kaum hatte der kalte Strom ihre Zunge berührt, so rief sie mit gellender Stimme: »Karla! – Karla!«
Sein großer Kopf kam zögernd aus der niederen Scheunentür heraus. Auf seinem Gesicht malte sich verzweifelte Erwartung. Als er niemand als sein Weib sah, wollte er sich still wieder zurückziehen.
Allein Marie rief in höchster Aufregung:
»Karla, komm raus und riech!«
Er überlegte einen Augenblick, zwang dann ein Lächeln auf sein Gesicht, trat heraus und roch in die Luft. Er wollte einen Spaß machen; die Worte blieben ihm aber wie eine Rinde auf der Zunge sitzen. Mit Mühe zerrte er endlich die Frage hervor:
»Wonach soll's denn riechen?«
»Nu, riechst du nischt? 's riecht nach Toten!«
Dem Lahmen war es, als solle er umfallen. Doch in namenloser Anstrengung lächelte er immerzu, der Schweiß trat aus seiner Stirn, und hilflos ruhte sein erlöschendes Auge auf Marie. Die Zähne im Munde schlugen aufeinander, und gehaucht, als sage es seine Seele, ohne sich der Sprechwerkzeuge zu bedienen, kam es über seine Lippen:
»Der Schuster fault.«
Niemand hatte es gehört, selbst sein Ohr nicht. Aber an seinem Herzen war das Bekenntnis nicht spurlos vorübergegangen. Und merkwürdig, dieses Selbstgeständnis ward eine Befreiung. Der Taumel fiel in ihm zusammen, der Schreck verschwand, kein Hämmern auf den Nerven, sein Auge kalt und still.
Er warf seinem Weibe einen geringschätzigen Blick zu und kehrte, ohne weiter ein Wort zu sprechen, in die Scheuer zurück.
Dort legte er sich aufs Stroh und genoß die Wandlung seiner Natur. Das Gefühl unbeschränkter Sicherheit kam immer stärker über ihn. Er stand unerreichbar über allen Menschen. Hatte seine Seele früher nur eine undeutliche und sehr verschrobene Ansicht über Gut und Böse gehabt, so war dieser Unterschied jetzt ganz ausgelöscht. Nicht, als ob der Lahme das gewußt hätte; es zeigte sich nur, wie er darüber nachsann, den Verfolgern zu entgehen, die ihn umringten, und deren Zahl täglich wachsen mußte. Ohne die geringste Scheu begann er jetzt über seine Lage nachzusinnen.
Er hatte, wenn auch ohne die Hand zu rühren, den Säufer in den Brunnen getrieben. Anstatt sich darüber Vorwürfe zu machen, geriet er in einen Zorn über den Dämelack, der durch eine Ungeschicklichkeit ihn in eine solche Klemme gebracht hatte. Was mußte zunächst geschehen? Wie wär's, wenn er die Leiche herausholte und irgendwo im Walde verscharrte! – Das ging nicht. Seiner Frau konnte es kaum verborgen bleiben, wenn er in der Nacht herunterstiege, und dann die Gefahr für ihn. Ein Fremder? Nein, das hieße den Kopf bald in die Schlinge legen.
Das beste war, die Sache drauf ankommen zu lassen. Er schlug sich alle Bedenken aus dem Kopfe. Was hatte er auch zu befürchten! Niemand konnte beweisen, er habe den Tod des Schusters verschuldet oder den Menschen getötet oder die Grenzsteine vernichtet. Aber indem er das sann, stieß er auf einen Umstand, der ihn doch besorgt machte! –
Die Grenzsteine! – Wenn durch irgendeinen Zufall Klose im Brunnen gefunden würde, so mußte man auch die Grenzsteine dabei entdecken.
Das war wirklich die einzige Gasse, auf welcher das Verderben ihn erreichen mußte.
Er wühlte sich tiefer ins Stroh, nahm einen Halm zwischen die Zähne und grübelte, wie er dieser Gefahr entrinnen könne.
Es kostete ihn anfangs Mühe, die Möglichkeiten scharf zu erwägen und auseinanderzuhalten, weil er die geistige Arbeit gar nicht gewöhnt war. Allein die unausgesetzten Qualen der letzten zwölf Tage hatten seinen Geist auf einen Punkt zusammengerissen und geschärft. Es zeigte sich, daß er gar nicht der beschränkte Klumpen war, für den ihn die Leute hielten. Durch sein frühes Unglück am Ausflug gehindert, in eintöniger Umgebung und seinem trotzigen Vorsätze verkümmert, war er geistig zurückgeblieben. Dafür hatte sich sein Wille übermächtig entwickelt. Mit dieser unbeugsamen Hartnäckigkeit bestand er nun auf seiner Rettung. Nach langen Stunden war der Plan dazu fertig.
Er wollte Steine herbeischaffen und in den Brunnen schütten. Immer unter zwei Kastenkarren mußten ein oder zwei verwitterte Grenzsteine vermischt werden, die er auf einem fremden, entfernten Felde oder im königlichen Walde nächtlicherweise heraushob und ungesehen im Sack nach Hause trug. Damit wurde die Entdeckung der Leiche des Schusters, konnte er seine Frau zur Verschwiegenheit bringen, vereitelt. Stieg die Polizei, die bei der Aufregung der Umgegend dem Verschwinden des Schusters nachforschen mußte, dennoch in den Brunnen, nun, so fand man eben den Toten, und er konnte ruhig hundert Eide schwören, daß er sein Unglück nicht verschuldet habe. Gleichzeitig mußte das Vorhandensein so vieler Grenzsteine die Begebenheit des Grenzfrevels vollkommen verwirren. Und wenn er sich nicht gar zu tölpelhaft stellte, konnte er hoffen, wenn auch nicht ungerupft, noch einmal aus der ganzen Verwicklung herauszukommen. Befriedigt richtete sich Exner auf. Freilich würde seine Frau sich über die ganze Steinfahrerei wundern und mißtrauisch, wie sie schon einmal war, ihn mit allerhand Verdächtigungen quälen. Da wollte er ihr denn sagen, daß das teilweise Anfüllen des Brunnens mit großen und kleinen Steinen notwendig sei, um das Wasser von der schlammigen, faulen Sohle weiter zwischen dem Gestein heraufzutreiben, damit es auf diesem Wege seine erdigen Beimischungen absetze und den schlechten Geschmack verliere. Diese Erklärung konnte er auch der Polizei gegenüber gebrauchen.
Nachdem er so mit sich ins reine gekommen war, lachte er befriedigt, rieb sich die Hände, zog den Kopf zwischen die massigen Schultern und trat durch das kleine Türchen in den Hof. Der Himmel glühte in einem schimmernden Blaugrün, in dem lange, ausgefranste, brennend rote Streifen lagen.
»Verknucht, 's is ja Abend!«
Noch hatte er seit dem Frühstück nichts gegessen.
Er stellte sich, als habe er geschlafen. Seine Augen reibend, trat er in die Stube und verlangte unter Gähnen zu essen.
Sein Weib saß am Tisch, ihr Gesicht der dämmrigen Stube zugewandt. An ihrer Stimme erkannte man, daß sie geweint habe; es war, als klebten die Worte aneinander.
»Ja, du willst essen?« fragte sie in schmerzlichem Verwundern.
Der Lahme ließ sich schwer auf die Bank fallen und antwortete gutgelaunt:
»Nu'ch, ich ha doch keen hölzernen Magen. Wenn ich au geschlafen hab'; der Hunger is doch gekommen.«
»Du hast geschlafen, du?«
»Nu, darf ich denn nich?«
»Ach dürfen schon, aber können!«
»Können, ich dächt', daß ich's kann«, und der Klumpen begann laut zu schnarchen.
»Karla, wenn ich nich of dr Stelle verrückt wern soll, hör uf zu schnarchen!« rief sie verzweifelt und begann zu schluchzen.
»Ihr Weiber könnt eben nischt wie flerrn un Kinder kriegen.«
»Soll ma da etwan noch tanzen? Draußen eim Borne liegt der Schuster. Un ich weeß nich, erschlag' mich of'm Flecke, du bist schuld.«
Der Lahme saß eine Weile stumm da, den einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und sah vor sich hin. Dann lachte er verächtlich hinaus.
»Haha, mußt du denn au verrückt sein, wenn de Steindorfer Leute um a Verstand komm', durch de Banke alle miteinander?«
Sie schüttelte den Kopf und weinte leise weiter.
»Wenn der Schuster nundergefallen wär', da hätt' doch müssen der Born offestehn«, fuhr Exner zu reden fort; es klang, als fertige er eine müßige Belästigung ab. »Denn durch de Bretter kann er doch nun eemal nich fallen, Un warum ei aller Welt hätt' ich den Schuster, der mr nischt getan hat, ei den Born schmeißen sollen! Gefimper, nischt wie Weibergefimper!«
Marie schüttelte wieder den Kopf.
»Aber Karla, der Geruch, der Leichengeruch!«
»Das is das schlechte, faulige Wasser, was de jetze vom Berge herzutritt, und der Lehm, of dem's steht. Hättste och geschmeckt, kaum wie dr Born fertig war, wie Freiwald de erschte Flasch' vll raufbrachte, genau wie Jauche. Der scheene Freiwald! Jetze is derselbe Geschmack. Ich wer halt müssen eenige Fuhren Steene neifahrn, daß's rufkömmt aus dem Morast, Und das glei, eh's harte und feste gefriert, Zentrum. Was? Meenste nich au Marie, das wär's beste.«
Marie schwieg. Sie hatte den Kopf gesenkt und schien etwas zu überlegen.
Dann fuhr sie auf, zündete am Ofen ein Licht an und trat an Exner dicht heran, daß sein Gesicht hell erleuchtet wurde.
»Sieh mich an, ganz, mach de Augen weit uf!« sprach sie mit tiefernster vibrierender Stimme.
Der Lahme blinzelte ins Licht und dann wieder auf sein Weib, aber er hielt den Blick dieser blauen, verzweifelten Augen nicht aus.
Als das junge Weib das wahrnahm, begann ihr Arm zu zittern, daß sie den Leuchter auf den Tisch stellen mußte.
»Steh uf vo dr Banke – und tritt her zu mir – vors Licht.«
Ihre Stimme war leise, doch von einer seltsamen Tiefe.
Exner ward es unbehaglich, aber lächelnd gehorchte er.
»Schwör' mir beim Lichte un bei dr Sonne, daß du nich schuld bist, wenn dr Schuster ei'm Born liegt, schwör' mir's beim Himmel und allen Heiligen...«
»Mit allen sechsen, wenn de willst.«
Er unterbrach sie und hob bereitwilligst die Hand.
Aber sie zog seinen Arm nieder und fuhr fort:
»Und daß der Herr uns alle trifft, wenn's nich wahr is, und verflucht, zerreißt un ei alle Winde treibt die Menschen, das Haus, das Holz samt den Steinen!«
Den Schluß sprach sie mit psalmodierender Stimme, feierlich getragen. Dann setzte sie mit einem tiefen Atemzuge aus und sah ihm forschend ins Gesicht.
Keine Fiber rührte sich darin; es war mürrisch wie ein Astknorren.
»Nach, soll ich eße?« fragte er endlich.
Marie rührte sich nicht; sie stierte ins Licht, und langsam rannen Tränen über ihre blassen Wangen.
Dann sagte sie tonlos:
»Laß – laß sein – nee, nee – lieber nich –« und verwandte den Blick nicht von der Flamme.
Der Lahme setzte sich schweigend, und auch sie kehrte an ihren Platz am Fenster zurück, wo sie hockte, wie zusammengedrückt, mit demselben Blick ins Leere.
Plötzlich erhob sie sich leise und ganz langsam, wie Träumende im Bett sich aufrichten in banger, beängstigender Mitternacht, und mit suchendem Schritt, als gehe sie durch dichte Finsternis, bewegte sie sich zu ihrem Manne hin, hielt vor ihm und streichelte ein paarmal seinen Scheitel. Schweigend, und ihre eiskalten Hände bebten dabei.
Darauf begab sie sich wieder an die andere Seite des Tisches, saß da, hatte die Hände gefaltet und bewegte lautlos die Lippen, bis sie in eine schmerzensstarre Haltung verfiel und mit ihrem blassen Gesicht einer jener Statuen leidender Büßerinnen glich, die uns in dem Dämmer katholischer Kirchen das Herz mit so dumpfem Weh beladen.
»Karla«, sprach sie schüchtern.
Der Lahme hob den plumpen Kopf.
»Laß mich meine Heil'ge Mutter und de Engala hulln. Karla, gell och, du hast nischt dawider?«
Ihre Stimme hatte einen Klang rührender Liebe.
Exner fuhr unwirsch in die Höhe, weil »bei der ganzen Geschichte wieder nischt als Weibergefimper« herausgekommen war, tat einige lange Schritte in der Stube hin und antwortete dann gleichgültig: »Jees ja, freilich. Weger mir, immerzu«, und verließ eilig das Zimmer. Nach einigen Minuten stand die Muttergottes mit ihren zwei Engeln wieder auf dem Eckbrett über dem Tisch und sah mit starren Punktaugen nieder in den Raum, in dessen Dunkel das kleine Licht an tausend verschmachtenden Glühfäden hing.
Gegen acht Uhr, nach dem Abendbrot, suchten beide das Bett auf.
Marie versank bald in Schlaf und träumte von blühenden Lichtbergen, aus deren Gebüsch geflügelte Kinder niederflatterten.
Der Lahme lag lange mit offenen Augen da und ließ den Tag an sich vorüberziehen, stieß endlich einen verächtlichen Laut aus, wickelte sich ins Bett und schlief auch ein.
Draußen aber spielte der Nachtwind mit dem Atem des Todes.