Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 60
Die dritte Nacht
ОглавлениеAcht Tage später, solange hatte Faber gebraucht, aus tiefer Aufregung zu innerer Entschiedenheit zu kommen, saß ich meinem Freunde in seinem Stübchen wieder gegenüber. Der Tag war ungewöhnlich heiß gewesen. Die Dämmerung stand noch, wie ein hellgrauer, leidenschaftlicher Hitzedunst, draußen. Das Weiß der getünchten Hauswände und das Grün der Birken am fernen Grenzhügel glasteten aus diesem Verkochen des Tages mit krankhaft übertriebener Schärfe. Der Amselruf aus dem Walde der Feistelberge schnitt dann und wann als schrilles, hysterisches Gellen durch die Dämmerung und hinterließ eine beklemmte Stille, ein peinliches Aufhorchen. Durch die Kronen der Obstbäume ging der Wind ganz leise und geruhig und führte solch schwaches Rauschen vorüber, daß es nur in den stockenden Augenblicken zu vernehmen war, doch so verhaucht, daß man im Zweifel sein konnte, woher es rühre. Es schien auch durch das Haus zu wehen, über die Stiegen hinauf und hinab, an der Tür vorbei. Faber hob den Kopf und lauschte hinaus auf den Gang. »Hörst du?« fragte er dann gedämpft, »es schleichen draußen Kleider über die Stufen, stehen gebauscht vor unserer Tür und streifen über den Boden.«
»Ich würde das für die Laute des leisen Windes halten«, sagte ich.
Er lächelte und zuckte mit den Achseln.
»Nun, wir können uns ja überzeugen«, sprach ich und erhob mich, um zu gehen und durch die Tür zu blicken.
Aber er streckte abwehrend den Arm aus. »Ach nein, laß nur«, sagte er gütig. »Mag das Mädchen immer horchen. Wir wollen sie nicht beschämen.«
Dann senkte er den Kopf, und indem er die Diele entlang sah, sprach er versonnen mehr zu sich als zu mir: »Übrigens ist es seltsam, daß wir oft zu hören meinen, was wir denken. –
Verwandelt die Natur uns, oder verwandeln wir das Gesicht und den Laut der Dinge?« Er hob das Gesicht wieder, das er über seine gelassen gefalteten Hände geneigt hatte. »Wenn man darin klar entscheiden könnte, wäre dem Menschen der größte Teil schwerster Verantwortlichkeit genommen. So oder so. Denn nur die Sicherheit, alles oder nichts zu vermögen, wäre die wahre Lebensfreiheit. So kommen wir in der Empfindung, als Geschobene oder Abgleitende wirken zu müssen, nie zu einem klaren Bilde von uns und bei Welt. Und wenn nicht dieser unbeirrbar leise Ruf stillster Stunden in mir lebte, dieses tiefste, geheimnisvolle Lied wäre, vor dem es kein draußen und drinnen, kein oben und unten gibt, ich weiß nicht, wohin mich die Verfinsterungen dieser letzten Tage geführt hätten. Ein Hoffen, das so unzerstörbar ist, weil es gar so unbegreiflich erscheint, lockt uns aus Dunkel durch Nächte und steht doch so ferne wie die Morgenhelle des Frühlings um drei Uhr nach Mitternacht. Aber doch liegt in ihm jene grandiose Macht unserer Seele, die imstande ist, das Stückwerk dieses Lebens zu einer notwendigen, heiligen Angelegenheit des Weltalls umzuschaffen. Denn das Leben, wie es sich unter unseren Händen bildet, erfüllt nie alle Forderungen. Mancher Wunsch hat eine schwache Brust, schreit sich vor der Zeit krank und stirbt mit offenem Munde. Wenn dann zufällig seine Erfüllung kommt: ein Glück, ein Wissen, ein Besitz, so weht einen nur Trauer an, denn es erscheint plötzlich eine verlorene Zeit, die schneller dahinlief, lauter auftrat und kecker lachte. Dann bepackt man die Erinnerung mit dieser verspäteten Erfüllung und schickt die gute Frau hinaus auf die unendlichen Friedhöfe der Seele, die rückliegende Zeit, und heißt sie, das unvermutete Geschenk dort am Grabe eines ungebärdigen, frühverstorbenen Wunsches niederlegen.
Doch was nutzt es?
Der Zwang des Blutes liegt über jedem Menschenleben. Geschehnisse regeln den Gang dieser geheimnisvollen Uhr, die in der unverantwortlichen Kinderzeit, wohl gar vor der Geburt über uns hereinbrechen. Der »freie Wille« ist nichts als der zu spät erscheinende Doktor, der an dem Bette des Kranken irgendein unheilbares Leiden konstatieren kann. Denn das Schicksal kennt keine Diät. Auf irgendeine Weise sind alle Menschen Krüppel.
– – – Wie oft habe ich dieses Delirium halber Wahrheiten durchgemacht! – Aber wenn man ins Reden kommt, arbeitet man wie eine schlecht gestellte Mühle, die ganze Körner, feines Mehl, Schrot und Schalen durcheinander wiedergibt, und geht meine Erzählung so weiter, wirst du nicht klar, Kastner, und mir hilft es nichts.
Darum muß ich schon wieder hübsch chronologisch verfahren.
Die Aspirantenprüfung, das Aufnahmeverfahren in das Lehrerseminar meiner Vaterstadt, war vorüber, und die große Schar der Vielgezwickten saß voll Spannung in einem kleinen Klassenzimmer zusammengepfercht. Der tiefe Abend sog immer mehr Licht ein, und schon glich die Reihe der jungen Ahornkronen vor dem Seminargebäude einem Zug dichter Wolkenballen, die hart am Boden lagen. Man hatte mich arg hin und her geschüttelt und gesiebt, und ich hockte auf meinem Platz, von einer Niedergeschlagenheit erfüllt, die doch im Tiefsten nicht ganz ernst war. Denn, daß ich mich im Rechnen so unsäglich taperig benommen und endlich zur Verzweiflung des Herrn Malchow das Viertel von 766 nicht mehr herausgebracht hatte, belastete mich vor allem mit einer bitteren Verfinsterung aus verletztem Stolz, weil einige über mich gelacht hatten, als sei ich ein Blödling. Und ich begann das geduckte Geplauder der vielen jungen Menschen um mich unausstehlich zu finden, die in dem tiefen Dunkel unnatürlich aufgedunsene Köpfe hatten. »'s wird, was wird, und wenn's ein Entrich wird!« schrie plötzlich ein Übermütiger aus dem Hintergrunde, aus der Gegend des Kleiderrechens, und brach in ein Gelächter aus, in das die meisten wie erlöst einstimmten. In diesem Augenblick wurde die Tür vom erleuchteten Korridor aus geöffnet. Die Helle blähte sich wie ein roter Vorhang in das Dunkel, und eine grillige Männerstimme lief irgend etwas herein. Dann prallte die Tür wieder zu. Von den ersten Bänken aus wurde die Aufforderung zur Ruhe weitergegeben, und alle saßen beengter als vorher. Aus ihren Körpern stieg eine schwere Wärme, daß es war, als atme man in der Nähe eines heißen Ofens. Mein Nebenmann, der bisher andauernd und hastig auf seinen Nachbar eingeredet hatte, saß, die Hände auf dem Pultbrett gefaltet, mausstill, wie ein ausgezankter Schüler. Es war ein dürftiges, banddünnes Bürschchen, eher ein Junge, und ich merkte, wie ihn jetzt, da er schweigen mußte, die Angst zusammenzog. Eben, als ich ihn mit einem Blick streifte, hob er das Gesicht zu mir und sagte tonlos: »Ich habe nur noch eine Mutter!« Dann starrte er wieder regungslos auf seine zusammengegriffenen Hände, die wie ein graues Häufchen vor ihm im Verfinstern lagen. Aber ich gab ihm auf seine Worte, die er auch gesprochen haben würde, wenn er mutterseelenallein gesessen hätte, keine Antwort außer einem Brummlaut, sondern überließ mich meiner Sorge um den Ausfall der Prüfung. Je genauer ich mir alle ihre Phasen ins Gedächtnis zurücklief, desto ungünstiger erschien die Rolle, die ich gespielt hatte, und gegen einen negativen Erfolg ließen sich keine Gründe aufbringen. Nun, dann wurde ich eben Post- oder Bahnmensch, oder trat bei einem Maurermeister ein. Tausend Sachen! Meine Einbildung bemächtigte sich dieses Faktums wie einer ersehnten Tatsache. Mir gelang nicht die mindeste Trauer, auch als die bekümmerten Gesichter von Vater und Mutter vor mir auftauchten. Fort, fort! Ich stand auf, trat ans Fenster und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. Der Florianiberg hob seinen langen Rücken gelassen ins Grau des Nachthimmels. Hinter dem Dach der kleinen Kirche glomm der rote Mond herauf, daß es aussah, als bräche Feuer aus ihrem First. Gut, ein Ende! sagte ich zu mir und begab mich auf meinen Platz. Kaum hatte ich mich gesetzt, so stieß mich der Kleine an den Arm. Entschuldigte sich furchtsam und fragte, ob Musik und zwei Realfächer ein Hauptfach ausmachten. Ehe ich antworten konnte, ging die Tür auf, und bald stand der Direktor, einen Bogen Papier in der Hand, zwischen zwei Kerzenlichtern auf dem Katheder. Rechts, in der Haltung eines preußischen Gendarms, hatte sich ein großer, ungefügiger Mann postiert, links schwankte aus dem Dunkel ein langes, schmales Männchen mit zwei breiten Nagezähnen und glastenden, großen Brillengläsern. Der Direktor, Dr. Bode, drückte seinen dicken, dicht behaarten Graukopf tief aufs Papier und las nach einigen einleitenden Worten die Namen aller, die durch das Examen gekommen waren. Wir saßen wie angewachsen. Mein kleiner Nachbar lag auf seinen Armen. Ich war seelenruhig, und während die schüchtern gute Stimme des Doktor Bode durch unsere Reihen stöberte, da und dort einen Laut der Freude weckend, mußte ich daran denken, welche Ähnlichkeit diese Szene mit der Investitur der »ewigen Brüderschaft« habe. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn irgendeiner der Auserlesenen statt seines froh-erschrockenen »Hier!« ein feierliches »Amozim!« gerufen hätte. Da klang auch mein Name wie durch eine fremde Schicht gedämpft an mein Ohr, und ich spürte einen kleinen inneren Schlag gegen mich geführt, der als schwaches Nieseln wie eine Gänsehaut über meinen Körper lief. Dann wurde ich matt wie nach einem Wettlauf, lehnte mich zurück und zog mir die Weste herunter. Doktor Bode schwieg, und der Raum war peinvoll still von dem Schmerz der Entgleisten. Der Kleine neben mir, dessen Name nicht genannt worden war, hatte sich von seinen Armen erhoben, saß holzsteif da und blickte starr auf die roten Lichter des Katheders. Dabei sah ich den großen Drosselknoten seines dünnen Halses auf- und niedersteigen, wie bei einem, der vor großer Angst schluckt. Plötzlich stieß er den Pfeiflaut eines sterbenden Hasen aus und sank dann wieder auf seine Arme. »Seien Sie doch kein Kind.« sagte ich in sein Ohr und legte meine Hand auf seinen Rücken, »da machen Sie eben in sechs Monaten das Rennen noch mal!« Aber er erwiderte nichts, sondern lag ganz aufgelöst auf dem Pult und wurde von stummem Schluchzen gerüttelt. Ich wußte nicht, wie ich ihm eine Freude machen sollte und steckte nach einigem Überlegen mein letztes Fünfzigpfennigstück verstohlen in seine Billetttasche. Zwischen den zwei Kerzenlichtern des Katheders floß indessen monoton die Stimme des Direktors, der ich nur halb lauschte. Plötzlich, wie mir schien, ganz unvermittelt, erhob sich alles mit Getöse und drängte dem Ausgang zu. Ich zog mich zurück, und während der Schwarm an der Tür sich immer wieder festkeilte, sah ich durch das Fenster und sann, nur um mir auszuweichen, nach, was Dr. Bode gesagt hatte: Außer einer undeutlichen Vorstellung davon, dem Seminar meiner Vaterstadt überwiesen zu sein, war nichts in meinem Gedächtnis haften geblieben. Als letzter trat ich endlich auch den Heimweg an. Die Schatten der Ahornkronen lagen wie undeutliche Heuhaufen auf dem graugelben Platz. Der Mond hing gleich einem roten Papierlampion über dem Florianiberge. Auf dem Wege knirschten die Schritte der Davongehenden in die Nacht hinaus, sicher und froh. Mich aber überkam ein so klägliches Gefühl, daß ich versucht war, über den Rasen zu schleichen und mich in den Schatten der Strauchgruppe hinzulegen und in die Nacht hinaufzustarren. Aber aus dem Seminargebäude drang ein leerer, endloser Laut, wie das Sausen ferner Spinnspulen, dann und wann von dem Klang einer ausgespielten Orgel wie von singendem Schluchzen unterbrochen; hinter den geschlossenen, verhängten Fenstern der Seminarwohnungen huschten manchmal Schatten vorüber. Das trieb mich davon. Doch je weiter ich kam, desto mehr überfiel mich eine solche Ratlosigkeit, als stehe ich verirrt in einem fremden, unbekannten Lande. Im grellen Scheine eines erleuchteten Schaufensters hob ich mein Gesicht und sah vor mir zwei junge Mädchen gehen, eine Blonde und eine Braune. Die Blonde, schlank und biegsam, hatte ihren rechten Arm um die Taille der Freundin gelegt, und während sie lachend mit ihr plauderte, ging sie so ruhig, daß sich der lange Zopf kaum auf ihrem Rücken rührte. Als ich das bemerkte, mußte ich an meine Schwester Anna denken. Gerade so war auch sie gegangen, und so gelassen wie die Fremde, hatte auch sie den linken Arm mit der weißen, halboffenen Hand immer herabhängen lassen. And wie ich auf diese schöne, weiße Hand mit den schlanken Fingern blicke, die immer erlischt und wieder im Licht aufflimmert, kommt mir die Empfindung, wenn ich hinginge und sie ergriffe, wäre alles gut. Aber bei diesem Gedanken wird mir plötzlich heiß, und das Herz klopft mir bis in den Hals hinauf. Im Schein einer Straßenlaterne wagte ich endlich vorüberzugehen, zog den Hut, sah sie an und grüßte mit versagender Stimme. Die Braune, in welcher ich die Tochter des Buchhändlers Bunzel erkannte, hörte ich hinter mir lachen und offenbar boshaft tuscheln. In dem langen, sanften Oval der andern war fast ein Erschrecken bei meinem heißen Vorübertauchen sichtbar geworden. Und eben, als mich das Spottgelächter der Bunzel zu stärkerem Ausschreiten trieb, hörte ich die Fremde in verweisendem Tone sagen: »Wie er blaß ist!...« Diese Worte, die mit hörbarem Mitgefühl gesprochen worden waren, jagten mich in eine wenig rühmliche Flucht. Noch ehe der Schutz der nächsten Ecke erreicht war, preschte ich quer über die Straße, schnitt den Schwarm der Philister und lief im Schatten der Häuser dem Ringe zu. Ich kam mir in meiner Hilflosigkeit entlarvt vor; des schönen Mädchens Mitleid entzündete bittere Scham in mir. Ich hätte zurückgehen und lachend an den beiden vorüberschreiten mögen, um zu zeigen, daß ich kein Schmachtlappen sei. Aber ich fühlte, daß ich das Hohnlachen der Buchhändlerstochter nicht ertragen würde. So flog ich weiter über die Katzenköpfe des Ringes, und meine Bitterkeit ward indessen Zorn. »Die Gänse! Die dummen Gänse!« murmelte ich vor mich nieder und konnte es mir doch nicht ganz verhehlen, dies Würgen in der Kehle und dies heiße, aufgelöste Fluten in meiner Brust seien vielleicht Tränen und nicht Schmerz. Auf der Schwelle unseres Hauses wurde ich ruhiger, als habe ich mich aus kreisenden Wassern auf festes Land gerettet. Die Tür war geschlossen; aber wenn ich gegen sie drückte, rührte sich die feine Klingel, und dann entstand ein feiner, trauriger Ton, etwa wie ihn ein schlafender Vogel ausstößt. Das gemahnt mich daran, daß meine Eltern in Ungeduld und Sorge auf mich warteten, und ich trat in den Hausflur.
Meine Mutter, die mich am Schritt erkannt haben mußte, kam mir im Hause entgegen. »Na, Junge, wie ist's gegangen, schlecht, was?« fragte sie mich mit abgerungener Lustigkeit. Aber die geheime Sorge zerriß die Worte rauh, die spaßend klingen sollten.
»Ganz gut, Mutter, ja, ganz famos«, antwortete ich. Meine Worte müssen verzweifelt geklungen haben, denn sie faßte mich am Arme, zog mich zu der winzigen Flurlampe und beugte mich zu sich nieder.
»Sei stille. Red' leise. Mir kannst du alles sagen. Du, Franz!« So redete sie abgerissen auf mich ein, und ihr gutes Gesicht ward immer bekümmerter. Doch sie lächelte standhaft. »Nun, was soll ich denn Schlimmes sagen?« tröstete ich sie. »Ich bin eben durchgekommen. Das ist alles.«
»Wie du mich erschreckt hast, du lieber, guter Junge. Freu' dich, komm', lach', spring'! Du – du – halber Herr! Da – du Alter, sieh! Der Junge, wie er tut und is – na, sag's alleine, ich hör's auch gerne noch einmal!« Das redete meine Mutter stoßweise, kosend, scheltend, mit einem Worte, glücklich, während sie mich durch die Tür in die Wohnstube vor meinen Vater schleppte, der wie immer in der Sofaecke saß und rauchte.
Er richtete sich auf und sah meine Mutter mit einem strengen Lächeln an. »Na,« sagte er dann, »wozu denn Spatzen schießen? Es ist, ich sehe, einfach wie's sein muß. – Da, nimm deinen Hut runter. Bist reichlich schnell gelaufen. Setz' dich und iß.« Darauf lehnte er sich zurück und war, als sei nichts vorgefallen.
Von Zeit zu Zeit, wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah er fest auf mich. Dann schimmerte sein Auge. Einmal begegnete ich zufällig diesem Blick unterdrückter Freude. Da räusperte sich der herbe, goldene Mann und brummte wegwerfend: »Na, ja. Das ist doch rein gar nichts.«
Meine Mutter aber trippelte lächelnd umher, fuhr liebkosend über meinen Scheitel, sooft sie an mir vorüberging, und begann dann sogar ein Lied zu summen. Erst zwischen den Zähnen, durch unser Zuhören ermutigt, lauter und lauter, und endlich verlor sie sich ganz in ihre heimliche Seele. Du hast es mich einst am Fingerwasser singen hören. Weißt du, an jenem Nachmittag. Es war ein uraltes Lied, neckisch und karg, wie sie es wohl als kleines Mädchen zu abendlicher Zeit unter den Torlinden ihres väterlichen Freihofes hatte aufklingen hören, aus der rauhen Brust alter Knechte, die gewohnt sind, die Schmerzen des Lebens innerlich zu erwürgen. Eine Strophe habe ich mir gemerkt:
Obgleich mein Schiff vor Anker liegt
bei ganz konträrem Winde,
hab' ich die Hoffnung immer noch,
daß ich den Ausweg finde.
Sie sang den Vers einigemal hintereinander mit einer gang widersinnigen Betonung. Aber sie konnte wohl nur durch Wiederholung dieses Fehlers ganz in jene ferne, fast vergessene Zeit zurücktauchen, da sie die Sorgen noch von der Stirn scheuchen konnte, wie das blonde Gelock mit leichtem Finger sich hinter das Ohr streichen läßt.
Auch mein Vater hatte endlich zu lauschen begonnen. Aber er wurde düster davon, verfiel in Brüten und ging schlafen, ohne auf uns zu achten. Ehe er die Schlafstubentür öffnete, hörten wir ihn eine Weile stillstehen. Dann begann er knurrend und unwirsch zu reden, als wolle er jemand an seiner Seite vertreiben. Ja, er trat sogar fordernd mit dem Fuße auf, lachte höhnisch, ging leise hinein und prüfte von innen das Schloß.
Davon kam eine Furcht über mich, ein Mitleid mit meinem Vater. Trostlosigkeit schob sich zwischen mich und meine Mutter, die im Augenblick tausend Fragen in mir ausbrütete.
Wir hatten beide das Gesicht nach der Tür gewandt und sahen uns doch peinvoll in die Augen. Da schnappte der Riegel hinter die Haspe. Meine Mutter fuhr zusammen und kehrte sich dann aufatmend zu mir.
Ihr Gesicht war bleich und trug zu meinem Erschrecken unzählige seichte Runzeln, daß es wie zerknittert aussah. Wie war sie in den drei Jahren meines Fortseins gealtert! Sie saß schon etwas gebückt, die abgemagerten Schultern hingen wie geknickte Flügel. Nur in den Augen, die sich nun langsam mit Wasser füllten, lag die alte Jugend ihrer unbegrenzten Liebe.
»Ja, ja, Franz,« hauchte sie, »so treibt er's schon lange. Der Himmel mag's wissen; aber das nimmt kein gut Ende.« Mit stummem Nicken, von dem die Tränen niederfielen, die im Auge gestanden hatten, endete sie und blieb dann gebeugt sitzen, mit weiten, lesenden Augen. Kein Wort sagte sie mehr, denn sie wußte, daß ich das sah, was ihre Augen aus der Luft sogen.
»Aber, Mutter, warum gab er den Widerstand so schnell auf?« fragte ich aus der Mitte meiner Gedanken.
»Er mußte«, antwortete sie dumpf.
»Nein, man muß nicht«, sprach ich erregt.
»Ja, aber für wen sollte er denn arbeiten?« fragte sie ratlos.
»Für die Leute«, lautete meine Antwort.
»Es kam niemand mehr. – Ja, so nach und nach blieb der aus und der. Die Bauern hatte er sich vertrieben. Die Schuldner bezahlten. Dann war's alle.«
»Warum?« fragte ich. Aber meine Mutter wiederholte nur mit gramvollem Gesicht meine Frage und zuckte ratlos die Achseln. Allein kein Vorwurf, kein schwaches Greinen kam über ihre Lippen. Sie sah sich nur in unserer Stube um, der alle Behaglichkeit fehlte, seit sie zugleich Werkstatt geworden war.
Die Gesellen auf allen Straßen in der Welt, die Lehrlinge hinterdrein. Im Laden lag der Staub auf allen Vorräten. Statt der breiten Tafel mit den plumpen Beinen, an der noch vor kurzer Zeit eine Menge arbeitstüchtiger Menschen sich unter altväterischen Gebräuchen zu den Mahlzeiten versammelt hatten, stand nun ein engbrüstiges Tischlein, gebrechlich und schüchtern, wie auf den Zehen. An Stelle des Glasschrankes kauerte in der Ecke eine schmutzige Walkwanne mit eingeweichtem Lohleder, das einen muffigen Geruch im Zimmer verbreitete. Die meisten Bilder waren durch Werkbretter von der Wand vertrieben worden. Nur das Heilandsbild, vor dem wir immer gebetet hatten, war wohl durch meine Mutter gerettet worden und hing vergessen und segenlos im dunkelsten Winkel. Die eichenen Holzkeulen, die plumpen Stanzblöcke und eisernen Füllstangen, die lange Reihe der Holzrößchen waren verschwunden. Die stolzen Geräte des selbstherrlichen Handwerkers lagen als altes Gerümpel auf dem Boden. Ein Nähkloben lehnte wie ein einsamer Betteljunge an dem einzigen Werktisch, auf dem neben einigen kleinen Lederspitzelchen und Gurtestückelchen ein winziger Hammer, eine Schere, ein Messer und eine Ahle lagen. Es sah aus, wie bei einem Flickschuster.
Meine Augen wurden immer bewölkter von dem Rundgang durch diese Zeichen des Verfalls.
»Ja, Franz,« sagte meine Mutter nun mit tiefer, trockener Stimme, »manchmal hält er im Arbeiten inne und sieht sich in der Stube um, wie ich und du es eben machen. Darauf sitzt er ganz still; kaum atmet er; manchmal schließt er auch die Augen und fährt sich langsam über die Stirn. Zuletzt packt er den Hammer und schlägt auf irgend etwas los, daß ich denk', er will alles in Grund und Boden zerdemolieren, und sein Gesicht wird fahl dabei wie eine Lehmtenne.«
»Geht es den andern aber nicht auch so? Man macht doch jetzt fast alles in Fabriken«, erwiderte ich, um sie zu trösten.
»Nicht allen, Junge«, sagte sie nach einigem Sinnen und krümmte die Lippen wie in schmerzvollem Lächeln. »Man muß der Sache ehrlich ins Gesicht sehen. Der Sattler auf der Balkengasse beschäftigt mehr Gesellen als früher, und der Wagenbauer Endel aus dem Ringe hat gar sein Haus aufgebaut.«
»Dann meinst du, ist es bloß wegen dem?« fragte ich, ohne eigentlich zu wissen, was ich meinte. Es zog mich nur auf das leidenschaftliche Kreisen der mütterlichen Seele zu. So begriff ich auch nicht, weshalb meine Mutter bei meiner Frage wie schreckhaft ertappt aufsah.
»Also hast du es auch bemerkt?« fragte sie dann zögernd. Ich nickte, um sie, deren gedrückte Erregung ich steigen sah, weiter zu führen.
»Sie ist seit Tagen schon hartnäckig«, sagte sie. »Eigentlich von der Stunde an, da du bei uns eintrafst. Sonst, wenn ich singe, und steht sie noch so schwarz und bösartig in der Ecke, kann sie sich nicht halten. Aber vorhin, hast du's gesehen?, floß sie dunkel bis nahe an den Tisch herüber und schluckte mein Lied ein, das wie ein Schleier um sie sank.«
Ich begriff immer noch nicht, was sie meinte, und sah, wenn auch nicht mehr so sicher, ihr erwartungsvoll aufs Gesicht, das forschend nach der Tür gekehrt war. Und weil ich ihr doch so zusetzte, fuhr sie zu reden fort, immer das Auge auf die Tür geheftet, als könne sie jeden Augenblick von Geisterhand geöffnet werden, »da nahm und führte sie ihn hinaus. Aber draußen wußte er, wer neben ihm stehe und jagte mit Worten an ihr und trat auf, als sie nicht wich. – Töten wird sie ihn zwar nicht, wie sie Anna mit Hitze erstickt hat, aber sterben kann er an ihr, wenn das so fortgeht.«
Jetzt ging mir der Sinn auf. »Du meinst die Großmutter?« fragte ich.
»Um Gottes willen, nicht den Namen!« Mutter sprang auf und versiegelte meine Lippen mit drei Kreuzen.
»Und wenn du dich vor ihr hüten willst, sprich und denke nie ihren Namen. Das vermag sie herbeizuziehen.«
»Mutter!« rief ich.
Aber die Gütige lächelte nur überlegen-bitter, schüttelte den Kopf und strich mit einer raschen Handbewegung meinen Zweifel aus der Luft.
»Franz,« sprach sie dann, »ich weiß es! Sie hat ihn ja vor ihrem Tode gebunden und verschnürt, und dann ist sie nicht gestorben, sondern als Leiche, mit Schuhen an den Füßen, dem Tuch über der Stirn aus dem Leben hinausgegangen. Weißt du, dein Vater war vor ihrem Verschwinden ein lachender Hüpfer, froh und frisch wie nur einer, dem die Haare kraus um die Ohren stehen. Und nun – wann hast du ihn je einmal lachen sehen, solange du lebst? Und alles, was er anrührt, und was in seine Nähe kommt, verwandelt sich ins Schwere und Freudlose.«
Das trieb mich auf und jagte mich durch die Stube. Eine heiße Empörung gegen die Ansicht der Mutter und ein leidenschaftliches Einsaugen ihrer mystischen Furcht stritten in mir. Nachdem ich zweimal neben ihrem Stuhle hin und her durch die Stube geflogen war, blieb ich vor ihr stehen und fragte: »Und hat sie auch den Tischler Rinke gemacht? Was? Und des Pfarrer Zimbals Haß gegen ihn und mich?«
Sie nickte schmucklos und bestimmt, nahm meine zuckende Hand und zog mich auf einen Stuhl neben sich: »Komm', setz' dich, Franz! Siehst du, alles! Sogar den guten Dorn hat sie solange umhergewirbelt, bis er den Verstand verloren hat.«
»Und wer hat den Dorn-Robert zum Diebstahl getrieben und die Frau an der Wäscheschnur aufgehängt, etwa auch sie?« fragte ich mit spöttischem Lächeln. »Verzeihe, Mutter, aber das ist Torheit.«
Doch sie antwortete mit vollkommener Ruhe und Sicherheit: »Warum er das so gefügt und geschlungen hat, weiß ich nicht. Seine wirkenden Hände sind in ewigem Dunkel.«
»Wie denn ›Er‹, warum denn nun plötzlich ›Er‹?« »Nun ja, Gott, der Herr!« »Ich dachte, das ist mehr der Teufel! –«
»Vielleicht auch, kannst recht haben. Denn er lenkt ja alle Geister. Siehst du. Franz, du erinnerst dich doch noch, ehe du fortgingst vor drei Jahren, im Frühling, in der Nacht hat es dich aus dem Bett gefühlt, und du hast den Rinke-Tischler heruntergestoßen. Ich habe damals anders sprechen müssen, weil dein Vater es wollte. Siehst du, da hatte er ihn in der Gewalt, den Elenden, und hat ihn nicht gepackt, vor das Gericht geschleppt und sich und uns alle gereinigt. Mein lieber Junge. Ich habe vor ihm gelegen auf den Knien und um Rache gebeten. Er hat mich angesehen, finster und verzweifelt gelächelt und leise gesagt: Weib, das verstehe ich kaum, viel weniger du. Aber, ich darf nicht! Dazu hat er seine Fäuste in die Luft geschüttelt.« –
»Wie? Und willst du da auch behaupten, er hat damals freiwillig darauf verzichtet, seine Ehre wiederzuholen und Vergeltung zu üben?« »Lange habe ich auch nicht daran geglaubt. Aber in jenem Frühjahr, da er gar so unbegreiflich sich in seiner Schande duckte, er, der mehr Macht hat als zehn Männer, wurde auch mir das Geflüster und Getuschel der Leute sinnvoll, und ich hab' mich, erst noch zweifelnd, aufs Lauern und Horchen gelegt. Im Frühjahr tauen alle Geister, die der Winter gebunden hat, aus. Die Quellen speien sie auf die Erde, die Höhlen atmen sie aus. und mit den Blättern der Bäume wachsen sie aus den Wurzeltiefen in die Luft hinauf, und sind sie gereckt und gerichtet, so schwingen sie sich auf den Wind und reiten und quälen ihn fast zuschanden. Damals fuhr ihr Heulen und Bellen nur immer über unser Haus. Mit meinen Augen sah ich sie als schwarzen, verzerrten Fladen solange über unserem Dache stehen, bis es ihr gelang, das Rauchseil aus der Esse zu erfassen und daran in unser Haus zu fahren. Denke nicht klein von Vater; er hat sich gewehrt, wie ein Mensch es nur vermag. Wie viele Male rang er sie hinaus; aber sie ließ nicht nach. In tiefer Nacht taumelte sie mit Flügeln gegen die Scheiben oder flüsterte geformtes Reden durch den Fensterspalt. Ich kämpfte mit Beten gegen sie. Vater richtete sich mitten im Schlafe auf und murmelte schwer in die blaue Nacht hinein, bitter und wild, bis sie mit schmerzvollem Gellen an der Mauer draußen hinuntersank und von den Neißewassern fortgeführt wurde.« –
Das alles sagte meine Mutter dumpf und eintönig, wie schlafwandelnd über ihre gefalteten Hände hin, und unsere Stube erschien mir wie ein dumpfer, endloser Gang. Das Licht der Lampe war heruntergebrannt und so schwach, daß es nur in einem roten Brodem stand. Aus Furcht und Mitleid mochte ich nicht mehr auf meine Mutter sehen, sondern starrte auf die verdämmernde Wand. Da tippte sie mit dem Finger an meine Schulter, und als ich mich umwandte, sah meine Mutter gefaßt und aufrecht da. Ihr Gesicht sah nicht mehr alt aus, ihre Augen, über denen wie bei kleinen Kindern gar keine Brauen waren, leuchteten. Ehe ich ein Wort sprechen konnte, neigte sie sich zu mir, ergriff meine Hand und flüsterte bittend und schwärmerisch zugleich: »Du, mein Junge, du! – Nun sind wir zwei, jetzt muß es uns gelingen, dem Herrgott die Zuchtrute aus der Hand zu winden. Komm', machen wir es wie früher, eh' wir schlafen gingen!«
Sie kniete hin an den Platz, an dem sie gebetet hatte, als ich noch Kind war, und richtete ihr Auge auf das Heilandsbild, das als grauer Fleck im finstern Winkel schwamm.
Ich aber war aus dem Taumel grell erwacht und reckte mich bitter und trotzig immer schärfer in die Ansicht, daß es hieße, mich unterwerfen und auslöschen, wenn ich auch hier auf der Diele kniete. So stand ich lange neben ihr, während meine Mutter mit weicher, flehender Stimme Vaterunser um Vaterunser, Ave Maria und Anrufungen betete.
Was? Gott zertrümmerte uns ungerechter Weise, und wir sollten an seine Füße herankriechen! Aus der Erinnerung, welchen Schimpf und welche Schmach sein Diener über Vater und mich gebracht hatte, kam es wie Hohnlachen in mir auf. Mit gesenktem Kopfe, in den Wunden meiner Vergangenheit wühlend, begann ich hinter dem Rücken meiner Mutter auf- und abzuwandeln.
Plötzlich umfaßte es mein Herz, mein Kinn wurde heraufgestoßen. und ich bemerkte, daß meine Mutter aufgehört hatte zu beten. Ihr Gesicht war in ratlosem Schrecken auf mich gerichtet, die Augen weit und verloren, der Mund schlaff und offen. Endlich brachte sie es würgend heraus: »Mein Gott! Soweit bist du auch schon?« Dann wandte sie sich langsam wieder um, sank über die Arme auf den Stuhl und fuhr fort, leise hauchend, wie in großer Angst, zu beten. Mir zitterte vor Liebe und Rührung das Herz, doch ein wilder Griff durch mich hin ließ nicht zu, daß ich neben ihr niederkniete. Ich begann sogar wieder auf- und abzuwandern.
Nach langer, stummer Andacht erhob sich meine Mutter. Ich trat zu ihr, küßte sie tief und innig und sagte: »Gute Nacht, meine liebe, liebe Mutter! Verzeihe! Aber ich kann nicht anders.«
Da stand sie und sah mich an, mit weitem, trauervollem Auge. Dann zog sie meinen Kopf zu sich herab, schlang ihre Arme um meinen Hals und küßte mich leidenschaftlich und unter Schluchzen.
»O Gott, mein Gott!« stammelte sie dabei.
Ganz erschüttert suchte ich mein Bett auf.
Durch die Ritze der Bretterwand fiel das Licht des roten Mondes und lag über der Diele wie blutige Lanzen. Aus der Gesellenkammer drang eine schreckhafte Stille auf mich ein, als lägen Gestorbene darin. Das leere Bett meiner Schwester neben mir wagte ich nicht anzugreifen, weil ich fühlte, daß ich dann vor Weh aufschreien würde. In meiner Verwirrung und Beklemmung sehnte ich mich, es möge draußen ein Schrei aufklingen, ein Sturm, irgend etwas Wildes und Lautes. Statt dessen drang das Rauschen der fernen Neiße herauf, endlos und öde, wie Irre vor sich hinsummen. Unter dem Dach im Finstern stand der Lehnstuhl meiner Großmutter und war doch auf einmal deutlich sichtbar. Vor Bestürzung schloß ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, saß, von Licht umflossen, das schöne, fremde Mädchen darauf, das ich am Abende gegrüßt hatte und nickte mir liebevoll zu. Da war ich so glücklich, daß ich mich in die Kissen einwühlte, denn ich schämte mich eigentlich vor mir über meine Lieblosigkeit, Unmännlichkeit und Schwäche.
– – – – – – –
So kam ich in mein Vaterhaus zurück. – Mit den Bedrängnissen meines Lebens trat ich in die Daseinsnot meiner Eltern. Ich ging aus mir gleichsam heraus und befand mich an einem traurigen Orte, wie wohl jemand seine enge, beklemmende Wohnstube verläßt und Schutz in einer Stadt sucht, die dem Untergänge geweiht ist.
Als ich am andern Morgen das Wohnzimmer betrat, saßen meine Eltern schon beim Frühstück, jedes vor seinem dampfenden Töpfchen. Mein Vater schien aufgeräumt und neckte mich wegen der Langschläferei. Ich ging auf den frohen Ton ein, den er angeschlagen hatte, und bald brachten wir uns mit Späßen ins Gedränge. Die Mutter steuerte zu unserem Geplänkel ihr stilles Lächeln bei. Aber je länger dies Spiel dauerte, desto deutlicher empfanden wir seine Gezwungenheit und Absicht, und desto mehr wich aus dem Gesicht meiner Mutter der Ausdruck innerer Frohheit und machte einem starren, maskenhaften Lächeln Platz.
Mein Vater schnitt das quälende Versteckspiel endlich mit einem beißenden Lachen mitten durch und verharrte dann stundenlang blaß und verschlossen bei seiner kümmerlichen Arbeit. So kam nie eine herzliche Freude in unserem Hause auf. Jedes ging in seiner eigenen Luft eingeschlossen umher. Darum atmete ich erleichtert auf, als dies erzwungene Aneinandergekettetsein aufhörte. Mein Vater überließ mir ein kleines Zimmer unmittelbar über dem Hausflur, neben der Stube, in der ich nächtlich auf den Tischler Rinke gelauert hatte. Es war ein kleiner, kühler Raum. Neben dem Eingange stand ein eisernes Bombenöfchen und hielt sich mit einem langen Rohr an der Wand fest. Eine Häusertiefe jenseits der Straße stieg die Stadtmauer auf. Dort verbrachte ich nun einen großen Teil des Tages und sann oft stundenlang über das Verhängnis unserer Familie nach. Oft grübelte ich solange, daß ich in einen Zustand krankhafter Empfindsamkeit geriet. Dann lehnte ich mich aus dem einzigen Fenster, damit mich das Leben der Gasse wieder auf die gewohnten Beine stelle.
Der Burgberg und seine Bewohner waren noch wie je. Aus dem Wahnschen Fleischerladen stiegen in endloser, wenn auch tröpfelnder Reihe Frauen und Mädchen mit Taschen und Papierpaketen beladen auf das Pflaster herauf, indessen aus dem Hausinnern des immer trunkenen Meisters unförmiger Schreibaß und wilde Beilhiebe tönten, als stampfte und gröhle darin kein Mensch, sondern eine überhitzte, sich zerstörende Maschine. In dem Gärtchen an der Stadtmauer wandelte einsam und geruhig des Pfeffergerbers weiße Schürze, und setzte Wahns Toben einen Augenblick aus, so klangen hinter den Johannisbeersträuchern in die leise Gasse sanfte Liedtöne, mit denen der verschüchterte Mann sich seinen Abend verschönte. Die Essen schmauchten ihre Rauchwirbel in den Himmel, und da und dort glühten die übereinandergetürmten Häuser schon mit erleuchteten Fenstern ins Dunkel. Endlich hauchte das letzte Abendrot nur noch schwach um den alten Wartturm, und dann und wann tauchte hinter den Mauerzacken das weiße Haupt des alten Willmann auf, der da droben seine Nelkenbeete umgrub und von Zeit zu Zeit sich aufrichtete, um über die Dächer zu lugen. Zuletzt war die Gasse finster. Man sah die Fußgänger nicht mehr, sondern hörte nur ihre Tritte über die Katzenköpfe stolpern, in der Torwölbung des Turmes aufpoltern und dann verschwinden. Die Spitzen der hohen Wehrmauer starrten unbeweglich wie die Panzerhauben riesiger Wächter in den Nachthimmel. Der Doppeladler knarrte mit seinen eisernen Flügeln in der Luft, und drunten brauste die Neiße schwach wie ein ferner Wald.
Das alles führte mich aus der Beunruhigung meines Gegenwartslebens in die Zeit meiner Kindheit hinüber, und die Friedlosigkeit endete schließlich in einem wohligen Rausch traumhafter Bilder. Die Erinnerung an jene Tage hätte keine anderen Male in mir hinterlassen als die Empfindung, sie durchlebt zu haben, wäre ein Abend nicht mit Ereignissen beladen gewesen, die teils tief zurückgriffen, teils weit hinauswiesen.
Es war am Ostersonnabend des Jahres 1881. Die Auferstehungsglocken hatten die Dämmerung erschüttert, und das Leben auf der Gasse drunten trieb froh und festtäglich hin. Mir aber war es nicht möglich, an die Freude der Menschen heranzukommen. Alle Leute gingen mir unerreichbar hin, und wenn sie redeten, so war es mir, als höre ich undeutlich Uhren in verrammelten Stuben schlagen.
Da hob ich mein Auge gen Himmel. Der lag in der Schärfe seines letzten bleichen Lichtes, matt und müde des langen Tages. Aber es ging ein Glanz von ihm aus, der allen Dingen eine niegesehene, erschütternde Wesenheit gab. Als ich meinen Blick wieder sinken ließ, blieb er an einem der Fenster haften, die durch die Stadtmauer gebrochen waren. Dort lehnte ein junges Mädchen weit hinaus. Ihr schlanker Leib strebte wie süchtig der gesunkenen Sonne nach. Blonde, schwere Flechten hingen über die Schultern und ihr Gesicht, das in den Nacken gebogen war, schimmerte in bleicher Verzückung. Aus jenen Tiefen meiner Seele, in denen das Bild meiner gestorbenen Schwester Anna wie in einem gläsernen Sarge schlief, stieg ein mir bis dahin unbekanntes, schmerzvoll süßes Gefühl, das mich um so mehr erschütterte, da ich daran denken mußte, daß Anna an ihrem letzten Tage, als sie mit mir in unserem Garten hinter der Wiesenstraße stand, ebenso verzückt und blaß in den Himmel gestarrt hatte, über den die weißen Wolkenengel geflogen waren, die die Menschen von der Erde holen. Von dieser Hingebung dessen, was wir Herz nennen, mußte das Mädchen getroffen worden sein, denn ich bemerkte, daß eine Unruhe über sie kam. Sie ließ von dem Träumen in den Himmel hinauf ab und schien jenen zu suchen, der ihr Inneres berührt hatte. Im nächsten Augenblicke spürte ich, daß ihr Auge auf mir ruhe. Mein Herz begann laut zu schlagen, und ohne zu wissen, was ich tat, richtete ich mich auf, trat ein wenig zurück und warf ihr eine Kußhand zu. Da schnellte sie bestürzt empor und verschwand in der Tiefe des Zimmers. Etwas später erschien sie wieder am Fenster mit einem kleinen Kinde auf dem Arme. Sie zeigte ihm den Himmel, an dem nun der blasse, frühe Mond sich erhob, sprach zu ihm mit einer Stimme, die der jener Fremden ähnlich klang, die mir auf dem Wege vom Seminar begegnet war und bedeckte das Gesicht des Kindes von Zeit zu Zeit mit stürmischen Küssen. Jedesmal, ehe sie das Gesicht zu neuer Liebkosung neigte, glaubte ich zu erspähen, daß sie nach mir hinsehe, und ich fühlte dann ihre Küsse wie einen heißen Strom auf meine Lippen und Wangen gehen.
Die Häuser lagen schon lange im stumpfen Schimmer des Mondes, die Fenster in der Stadtmauer waren schon alle erloschen, ich aber saß noch immer und starrte hinaus auf allerlei lichte Träume, die vor mir spielten.
Da näherte sich von dem kleinen Brückenplatze her, in den der Burgberg und der Stadtgraben mündeten, der Lärm von Männerstimmen. Zwei krachbreite Bässe kollerten in lustigem Wechsel gegeneinander, und eingekeilt zwischen ihnen schnitt manchmal ein hohes, schrilles Organ durch, quäkend und oft überschnappend, bis es immer wieder von dem begütigenden doppelten Brummlachen verschüttet wurde. Dann vernahm man wieder nichts als den Taumelschritt der Trinkerpatrouille in den schlafstillen Gassen. Jenseits der Brücke lag eine verrufene Trinkstube, die zur Zeit des Bahnbaus entstanden war und noch damals das Stelldichein verlorener Männer bildete. Von dort her trugen wohl auch diese Armen ihren Rausch nach Hause. Sie bogen eben um Grulichs Ecke in den Burgberg ein. Es waren, wie ich vermutet hatte, drei Männer. Ein kleines, zusammengesunkenes Bündelchen von Mann hing zwischen zwei großen ungeschlachten Gestalten, mehr von ihnen geschleift als gehend. Ich hörte ihn unausgefetzt mit seiner schrillen Stimme gegen die Freiheitsberaubung protestieren und zog mich ein wenig hinter die Gardine zurück, um ungestörter beobachten zu können. In der Nähe unseres Hauses riß sich der Kleine plötzlich aus dem Griff seiner Begleiter und stand nach einigen geschickten Sprüngen vor unserer Haustür. Er schien vollkommen nüchtern geworden zu sein.
»Rührt mich nich an!« herrschte er seine Kumpane an, die sich näherten, um ihn wieder fortzuschleppen. »Ich habe mit euch nichts zu schaffen. Wenn ich auch mit euch saufe, so bin ich noch lange nich euer Bruder!«
»Nu, Hermann! Rinke, da hör' och, komm' und laß das Gealber. Du wirst a solange machen, bis dich Klapper einlocht«, redete der eine der Trinker begütigend auf ihn ein. Der andere aber zog ihn fort und sagte mit beißendem Lachen: »Komm' und laß das A–loch stehn. Es temperiert eben wieder mit 'm. Gut' Nacht, Rinke!« Mühsam stiegen die beiden weiter.
Das war also der Tischler, und dahin hatte ihn die Treulosigkeit gegen meinen Vater geführt!
Er war nun mitten auf die Straße getreten und stierte den Davongehenden nach. Als ihre Schatten in dem Dunkel der Torwölbung untergetaucht waren, brach er in vergnügt-leises Lachen aus. Dann näherte er sich wieder vorsichtig der Haustür, sah an der Wand empor und sann eine Weile nach. »Ich geh' eben nei und sprech gun Amd, Faber, und so und so«, sprach er darauf vor sich hin. »Wird sich schon alles wieder machen. Nee, nee! Es is noch nich aller Tage Amd!« – Jetzt stand er auf unserer Schwelle und begann leise an die Tür zu klopfen: »Heda, Robert, mach' auf! Schnell! Es muß heute runter vo mir. Es ist ein heiliger, guter Tag heute. Hörst du's nich? Die Luft hat geklungen. Mich erbeißt es sonst inwendig. Du bist ein guder Kerl, du bist ein ehrenbraver Mann. Ich lauf' und sag's, wo du willst. Sie können mich anspucken, ich mach' mir nichts draus, ich sag' all's, all's sag' ich, wie's is. Aber ich muß wieder in die Höh'!«
Seine Stimme war immer dünner und hilfloser geworden.
Nun setzte er sich auf die Steinstufen und sank in sich zusammen. Plötzlich riß er sich auf und schrie grell und qualvoll: »Faber-Robert!!« Dann begann er kindlich-weich zu flennen. Dazwischen betete er, verfluchte und verwünschte sich.
Aufs tiefste erschüttert, tastete ich mich über die Stiege hinunter und traf im Flur unter der kleinen Flurlampe meine Mutter. Sie stand aufgereckt da, notdürftig bekleidet. Ihre Hände waren betend ineinandergekrampft, und während die Lippen sich hauchend bewegten, starrten die Augen weit offen, in einem fanatischen Feuer glühend, nach der Haustür, hinter der der Trunkene noch immer schluchzte und fluchte.
»Mutter!« rief ich sie leise an, um den Vater nicht zu erwecken. »Mutter!«
Aber sie starrte wie abwesend nur immer den Gang hin und fuhr fort, beschwörend zu beten.
Endlich, beim nochmaligen Ruf schrak sie herauf und fragte erschöpft: »Was hat's denn? – Ach so, du bist's! –« Dann nickte sie ein paarmal und lächelte. »Siehst du,« flüsterte sie dabei, »jetzt hab' ich den Elenden in meine Gewalt gekriegt, und nun laß ich ihn nicht mehr los, bis er – bis er – ganz – ganz – –« da begann sie zu wanken. Ich sprang hinzu und führte sie geräuschlos auf das Sofa in der Wohnstube. Dort sank sie auf den Tisch und begann leise und weh zu weinen. Ich hielt ihre zuckenden Hände und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Dann küßte ich ihre Stirn, die welk und kalt war, und stumm ging jedes auf sein Lager. – – – – – – – – – –
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Am folgenden Ostermorgen weckte mich Posaunengetön, und als ich den Vorhang meines Fensters ein wenig beiseite schob, sah ich eine Prozession von Männern in der milchweißen Frühe den Burgberg hinaufgehen. Die blauseidene Fahne mit dem Bilde des heiligen Josef in der Mitte wogte, zum Greifen nahe, an mir vorüber. Vom Turme der hohen Kirche jubelten alle Glocken. Die Männer kamen von Emmaus. Schon vor Tage hatten sie sich aufgemacht und waren im Dämmern den Florianiberg hinaufgestiegen, um in der kleinen Kirche unter den alten Linden den Heiland zu suchen und mit ihm zu reden, wie es die Jünger der Bibel getan hatten, nachdem der Herr von ihnen gegangen war.
Sie zogen regellos vorbei, von keinem Zwang als dem ihres hohen Alters beengt und gebunden, und ihre Schritte klangen hart vor Schwäche oder schlürfend vor Erschöpfung. Den meisten zitterte der Rosenkranz in den welken Händen. Nur manche sangen, den eisgrauen Kopf geneigt, das Lied gegen die Erde, das die Spielleute an der Spitze des Zuges wie einen Siegesmarsch an den Mauern der ruhenden Häuser emporschmetterten. Unter all den Männern, die von den Jahren gedorrt und gedemütigt waren, schritt nur der alte Willmann in ruhiger Kraft hin. Seine weißen Locken wehten auf dem Rücken, der breite Bart bebte von dem sicheren Gange. Ohne zu singen oder zu beten, hob er seinen Kopf aus der Mitte der Geneigten und schaute mit dem Ausdruck stiller Freude nach dem kleinen Fenster seiner Klause empor, das hoch droben aus der Wackenmauer des Wartturmes ins weiße Morgenlicht blinzelte. Darauf duckte sich das Gedröhn der Hörner und Posaunen und der Mummelgesang der Greise in die Torfahrt, hob sich gedämpfter wieder in die Höh' und wehte dann leiser und leiser über den Ring der Kirche zu, deren Glocken noch einmal stark zu jubeln begannen. Wie erstickt vor Glück brachen sie dann jäh ab, und bald war von dem Liede nichts mehr übrig wie ein Zittern im Licht des jungen Tages.
Noch lange nachher lag ich in dem schmalen Bette meines Stübchens und kostete bei geschlossenen Augen das Schweben einer silbernen Helle um mich. Meine Seele, die spät in der vorigen Nacht an dem düster-schrecklichen Leben des Tischlers Rinke und dem erschütternden Anblick meiner Mutter endlich im Schlaf erblindet war, lag nun in mir, als habe sie nie etwas beschattet und verschüttet. Ich weiß es wohl, nicht die Segnungen der Kirche durch Glockenruf, Prozession und Feiertagsstimmung hatten das Tor zu meinem Lebensmut wieder aufgesprengt, sondern es war der geheimnisvolle Strom gewesen, der aus dem weihen, stillen Antlitz des Mädchens am Fenster in der Stadtmauer in mich geflossen war und den heiligen, unberührten Kräften meiner übertrümmerten Jugend zum Ausgang in mein Leben verholfen hatte. Jedenfalls wirkte das Vertrauen zu mir nach dem monatelangen Siechliegen solche Wunder, daß ich die Kraft und den Willen in mir fühlte, das zerstörte Dasein meiner Eltern wieder zusammenzufügen und ins Licht zu heben. Diese Stunde in der Osterfrühe gehörte zu jenen seltenen Augenblicken großer Erhobenheit der Seele, in denen die vielverschränkten Wirrnisse des Lebens sicher in die Straße zu großem, wenn auch fernen Siege münden. Als ich unter der Decke hervor in meine Kleider sprang, stand der Entschluß in mir fest, dem erwählten Beruf treu zu bleiben und es zu etwas Tüchtigem darin zu bringen, um den Ruf unserer Familie wieder aufzurichten und meinen Eltern einen glückvollen Lebensabend zu bereiten. Kampf! Kampf! Mit dem Messer zwischen den Zähnen und kein Nachgeben und Zucken! In mir irgendwo aber stak ein Fensterlein mit lichten Scheiben. Dahinter blühte ein stilles, gutes Mädchengesicht zu mir her. Das redete allerlei Süßes und Betörendes und verlieh meiner ernsten Absicht die herzliche Frohheit.
Mit sicheren Schritten betrat ich durch die sperrangelweite Tür die Wohnstube, die festtäglich geordnet voll des Frühlichtes war. Nur der süßlich-dumpfe Geruch der Cichorie schwamm darin wie der heimliche Atem des Kummers. Der Vater stand in weißen Hemdärmeln am Fenster, die schwarze Seidenbinde um den Hals, glattrasiert und blank gescheitelt. Die Mutter bückte sich eben über einen Topf am Herd. Bei meinem frohen Einbruch fuhren beide herum. Ich wünschte ihnen, der Sitte unseres Hauses gemäß, »gesegnete Feiertage«, tat das aber mit einer so hellen Stimme und einem so freien Gesicht, daß mein Vater ungläubig seine Hand in die meine legte und die Mutter ein fast bestürztes Gesicht unter meinem herzlichen Kuß bekam. Wenn sie mich gefragt hätten, was mir widerfahren sei, schwerlich wäre mehr als Belangloses über meine Lippen gekommen, denn von all den bunten Gesichten schimmerte nur noch ein lichtes Gefühl in mir. und wie rätselhaft Beschenkte saßen wir bald um den engbrüstigen Tisch mit den ängstlichen Beinen. Mein Vater verließ seit einem Jahre nur noch in der Dunkelheit und bei notwendigen Besorgungen das Haus, und blieb er auch an diesem erlösten Tage der Gewohnheit seiner Menschenscheu treu, so trug er sich doch mit gemächlichem Trödeln das Rauchgerät zusammen, rückte einen Stuhl ans Fenster und blies bald große Wolken in das Feiertagslicht hinaus, während seine Äugen stät und still über die Bäume des Spitalgartens nach der Hainoldhöh blickten und die Finger seiner Rechten auf dem Fensterbrett trommelten.
Mich aber trieb das helle Flackern, das in mir nicht zur Ruhe kam, aus dem Hause durch die Stadt. Die Erwartung, einem noch nie Gesehenen zu begegnen, führte mich in den Gassen umher. Vor offenen Haustüren blieb ich ein Weilchen stehen, weil es mir war, das Unbekannte könne die verborgene Stiege des Hintergrundes herabkommen. An den Schaufenstern hielt ich an, und während meine Blicke gleichgültig die Auslagen musterten, spähte mein Lauschen hinter mich nach einem schwebenden Schritt. Aber ein Tritt im Hausinnern trieb mich von den Türen, das leise Heranrauschen eines Kleides verscheuchte mich von den bunten Fenstern, und traumbefangen irrte ich weiter. Einen Augenblick trat ich unter das offene Kirchtor. Als ich aber die predigende Stimme des Pfarrers Zimbal hörte, erlosch das Strahlen in mir, und ich floh. Und doch dachte ich gar nicht daran, daß mich die Liebe jage. Ich durfte mir nur vorstellen, das Mädchen, das von der Stadtmauer gestern abend nach mir geschaut hatte, könne aus einem Hause mir leibhaftig entgegentreten, dann erschrak ich. So floh und suchte ich sie lange, seligwirre Stunden.
Am späten Nachmittage betrat ich vom Ringe her den Burgberg, um nach Hause zu gehen. Die Sonne stand schon geneigt und der lange, unförmige Schatten des Wartturmes erfüllte die enge Straße. Da kam es mir in den Sinn, wie schön es sein müsse, hoch da droben hinter dem Mauerkranze zu stehen, der um den vieleckigen, plumpen Zuckerhut der Spitze lief und über das Gewirr der Dächer unter mir den fernen Tanz der blauen Berge zu betrachten. Ich erinnerte mich auch, daß es für den alten Willmann keine liebere Freude gebe, als den Besuch eines jungen Menschen, sei es Männlein oder Weiblein. Allerdings hatte ich auch gehört, daß der Zudrang des jungen Volkes sehr nachgelassen habe, seit der frohe Alte einem hübschen Bürgertöchterlein einen Kuß geraubt und mit den Burschen allerlei, wie die Leute sagten »albernes Gerede« geführt habe. Da ich vor dem einen sicher war und das andere nicht fürchtete, sprang ich bald die enge Steinstiege empor, die steil an dem alten Gemäuer hinaufkletterte und vor dem niedrigen Pförtchen endete, das, über der Mitte der Torwölbung, unter den Ranken wilden Weines verborgen war. Die Tür versperrte ein klapperndes Schloß, und auf mein Klopfen und Rütteln hörte ich rostige Angeln kreischen. Schwere Schritte näherten sich auf hohlliegenden Brettern und standen an der Pforte still. »Wer draußen?« fragte eine volle, gesunde Stimme. »Ich!« antwortete ich törichterweise. »Gar nicht übel!« verhöhnte mich der Alte. »Aber, Mann oder Weib?« – »Ein Bursche!« beschied ich ihn. »Na also!« Mit diesen Worten, die unter Lachen gesprochen wurden, öffnete der Greis das Pförtchen weit und ließ seine lebhaften, schwarzen Augen Prüfend über mich hingleiten. »Sie werden verzeihen, Herr Willmann...« wollte ich meine Anrede beginnen. Aber er schüttelte seinen großen, ausdrucksvollen Kopf und sagte lächelnd: »Und so fort. Kenn' ich schon! Also spazieren Sie herein.« Er trat beiseite und schrillte das Schloß wieder zu. Wir standen in einer hohen Finsternis, in der, uns gegenüber, ein viereckiges Stück blauen Himmels hing. Es war die Öffnung, welche hinaus an den Mauerkranz führte. Rechts neben uns, kaum drei Armlängen entfernt, stand die kleine Tür zu dem Wohngemach offen, das im halben Dämmern lag, als habe sich darin das graue Licht einer längst vergangenen Zeit erhalten. Dort hinein wollte ich. Der Alte hielt mich am Arm zurück. »Vorn herein und hinten raus.« sagte er. »ganz wie im Leben.« Er schritt vor mir hin, bog und schwang sich mühelos durch die Luke hinaus. Und dabei war der Greis weit über achtzig. Möglichst geschickt wand ich mich ihm nach, ohne seine Hand zu ergreifen, die er mir von oben entgegenstreckte. Dann lichtete ich mit lachendem Aufatmen mich neben ihm auf. Ich bin seit meinem siebzehnten Jahre nicht mehr gewachsen, und so reichte ich dem hünenhaften Greise bis an die Schultern.
Mit großer Freude musterte er mich abermals, klopfte mir auf die Achsel und sagte strahlend: »Schön, schön! Gut, sehr gut! Sie heißen Schnabel?« fragte er dann.
»Nein. Faber.«
»Oh. Faber? des Sattlers? Da sind wir ja Nachbarn!«
»Ja. Ich habe Sie heute am Morgen unter den Emmausjüngern gesehen. Da bekam ich Lust, Sie kennenzulernen.«
»Bloß deswegen?« fragte er ironisch.
»Nicht allein«, antwortete ich etwas betreten. »Schon als Knabe habe ich mich gesehnt, hier oben zu stehen und über alles hinzublicken.«
Dann bog ich mich über einen Mauerzacken und starrte angestrengt hinunter, denn ich wollte den Alten hindern, über unsere Familie zu sprechen. Die verwitterten Dächer der Häuser, regellos durcheinander und übereinander geschoben, sahen aus wie die Rücken großer Schildkröten, die in Muße über den steilen Berg hinunterkrochen, um in den Wassern der Neiße unterzutauchen, die schwarz und still drunten vorüberzogen. Rund um die Stadt stieg das Land in langgestreckten Hügeln empor, als eile es, sich von den grauen Mauern der Stadt zu den fernen Bergen fortzuschwingen, damit es nicht auch gebändigt und von Dächern vergraben werde. Tiefblau, groß und ruhig wallte das Gebirge weit draußen vorüber. Da räusperte sich der alte Willmann hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich in seine sinnenden Augen und erkannte, daß er mich die ganze Zeit über betrachtet habe. Er nickte mir freundlich zu und rückte auf dem kleinen Bänkchen hin, daß ich neben ihm Platz nehme. Der Gang, der, von den Mauerzacken gegen die Tiefe geschützt, um die hohe, pyramidenförmige Spitze lief, war nicht breiter als zwei Schritte und dazu noch kurze. Seine innere Hälfte nahmen zierliche Beete ein. Sie waren peinlich sauber gehalten und trugen an manchen Stellen schon frisches Grün.
Dann redeten wir dies und das von seiner Arbeit an dem seltenen Gärtchen. und er behauptete, daß ihm die Mühe gar keine Beschwerde bereite, weil das Alter nicht mehr so ungeduldig sei, die Handgriffe zu zählen.
»Wissen Sie, und die Blumen gedeihen hier droben besser, weil sie der Sonne näher gehoben sind. Denn je tiefer das Licht hinunterlangen muß an die Erde, desto mehr entartet es«, sagte er nach einer Pause, in der ich, abgewandt, wieder sein sinnendes Auge auf mich gefühlt hatte. Aber aus seiner Stimme war nun die forcierte Borstigkeit geschwunden; sie hatte einen weichen, tiefen Klang. Mit unauffälligem Erstaunen kehrte ich mich zu ihm und war überrascht von der milden Schönheit seines Gesichtes, in dem die Augen voll jener fernhinzielenden Träumerei lagen, die nur ein reines Alter entzünden kann.
»Sagen Sie mal,« begann er nach wohligem Säumen, »warum bin ich Ihnen denn heute morgen aufgefallen?«
»Na, Herr Willmann ... Sie trugen Ihre schönen, weißen Haare über all den Alten und Müden wie, wie eine Siegerfahne«, antwortete ich, plötzlich von einem rätselhaften Schwung gepackt.
»Das wollte ich nicht hören, junger Mann.« sagte er, betroffen zur Erde schauend, »das nicht! Aber Sie mögen wegen Ihrer Augen recht haben und denken, das Geblase und Geläut hat mir den Kopf gereckt. Ja, sehen Sie. und es ist dann auch etwas Wahres darin, es hat mir wirklich den Kopf gehoben – aber, weil es ihn mir nicht gehoben hat.«
In seine Züge kam eine große Leidenschaftlichkeit. Plötzlich erhob er sich wie fliehend, trat an die Mauerbrüstung und wendete sein Gesicht ab, dem Gebirge zu. Als er sich wieder neben mir niederließ, hatte die stille Heiterkeit aufs neue Besitz von ihm genommen, und in sich hineingesprächelnd sagte er: »Komisch, wie die frühe Jugend und das späte Menschenalter sich gleichen; beiden siedet das Wasser in der hohlen Hand. Aber wir Weißen lassen es nicht überlaufen. Das ist der einzige Unterschied.«
Ich glaubte ihn zu verstehen und antwortete: »Sie mögen mit Ihrem Mißtrauen recht haben, Herr Willmann. Allein ich würde die verspritzten Tropfen nicht nehmen, unter die Leute gehen und sagen, das hat der alte Herr getan.«
»Wie alt sind Sie?« fragte er darauf.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Denn der meisten Leute Alter entspricht wohl nicht ihren Jahren, sind sie erst aus den Kinderschuhen heraus.«
»Sie meinen, wenn Menschen geboren werden, so ist es, als ob ein Handwerker zu seiner unterbrochenen Arbeit in die Werkstatt zurückkehrt?« fragte der Greis mit großen Augen.
»Ja,« sprach ich, »oder vielleicht wie ein junger Vogel schon dem Himmel näher ist, wenn er sein Nest verläßt, das auf einem Baume oder Berge gebaut ist.«
»Himmel?« fragte der Alte skeptisch. »Wo ist der Himmel?«
Ich hob die Hand und wies hinaus.
»Weil es das Lichte und Helle ist. Nicht wahr«, sagte Willmann und nickte. –
So saßen und redeten wir, und ich wurde von der Weite dieser alten Seele immer mehr über mich hinausgeführt und tauchte oft mit so fremden, fernen Worten vor mir auf, daß ich ganz verwundert war.
Als das Not über den Bergen schwamm, trieb ich wie im Rausch und mußte verstummen. Auch der alte Willmann saß schweigend neben mir und hielt wie verzückt sein weißes Gesicht dem Glanz des Abends hin.
Dann erhob er sich, warf einen Blick auf den Burgberg hinunter, trat zu mir und fragte: »So gehört Ihnen wohl auch der braune Kopf, den ich diese letzten Abende so oft in dem Fenster über der Tür Ihres väterlichen Hauses gesehen habe?«
»Ja«, antwortete ich zaghaft.
Da lächelte der Alte glücklich.
»Nun – neben uns aus der Stadtmauer guckt ein blonder Mädchenscheitel«, sagte er dann schalkhaft.
Mir schoß das Blut ins Gesicht, ich wehrte mich und sah auf die andere Seite.
Der Greis aber hob ein Samenbeutelchen von der Bank auf und streute einige Körner daraus in die rote Luft hinaus.
»Wir wollen das in das Licht säen, mein junger Freund, damit es ins Sonnenhafte gedeihe«, sagte er sinnend. »Und wenn Sie mir altem Wolkenpfründner wieder eine Freude machen – auch die Blumen aus der Nahe sehen wollen, die und andere –, dann lassen Sie sich bald wieder einmal hier oben sehen. Sie sollen mir herzlich willkommen sein.«
Ganz beklommen von dem, was mir widerfahren war, kam ich in meinem Stübchen an. Ich wagte nicht, aus dem Fenster zu schauen, sondern saß am Tisch und träumte in das Schöne hinein. Als ich auffuhr, starrte schon längst die schwere Nacht um mich. Auf der Straße drunten trappten dann und wann Schritte vorüber.
– – – – – – –
Welches Rätsel ist nicht der Gang des Menschen!
Immer ein rechter und ein linker Schritt, und jeder ist ein Irrtum, eine Entartung der Absicht. In jedem Augenblicke aber wiegt auch der unsichtbare Meister in uns diese Verfehlungen gegeneinander ab. und zwischen unseren Füßen zieht er den Weg.
Wie auf zwei Flügeln fallen wir über Abgründe unbekannten Küsten entgegen; denn auch unser ganzes Leben scheint aus dem Kampf des ewig Gegensätzlichen hervorzugehen. Den Ausschreitungen des Schicksals entlaufen wir, um in den Vertreibungen des Willens Schutz zu suchen. Aber welches Schema der Mensch auch ersinnt, um die stets flüchtige Hieroglyphe des Lebens zu bannen; er gleicht doch immer einem Manne, der ein Haus des Abends in Besitz nimmt und die Nacht über sich dort in eine Stube legt, um zu ruhen. Und wenn der Morgen heraufzieht, so muß er aufstehen und schon wieder davonziehen, und er weiß nicht, wer die waren, die in den dunkeln Stunden mit ihm unter demselben Dach gewesen sind, noch was ihm von ihnen und der unruhigen Nacht widerfahren ist. Nur auf dem Wege fällt ihm dies und das ein.
So geht es mir, wenn ich auf die folgende Zeit meines Daseins zurückschaue.
Nach der Ostervakanz zog ich auf das Seminar meiner Vaterstadt, das heißt, ich brachte die Unterrichtsstunden dort zu und wohnte als Ortseingesessener im Vaterhause, während meine Mitschüler im Internat hausten. War ich auch so der schlimmsten Beschädigung entrückt, so kostete ich doch soviel des Bitteren, daß ich es nie vergessen werde. Denn das System, nach dem man uns jungen Leute dort erzog, war das landläufige der Zerstörung und Unterjochung. Das Gebäude, in dem man uns in Unmündigkeit erhielt und jede freie Regung erdrosselte, lag außerhalb der Stadt, auf einer Bodenwelle und glich von außen in seiner kalten, grauen Härte einem Gerichtsgebäude oder einer Niederlassung der Trappisten. Durch seine hohen Gänge schlich eine pietistische Stickluft. Eine lebensfremde Frömmigkeit und Ehrbarkeit hockte in allen Winkeln, sprach aus allen Gesichtern. Die Lehrer schritten in steifer, geistlicher Würde einher und erlaubten sich nur, hinter verschlossenen Türen zu lachen. Sie thronten so fern in einer Wolke der Unnahbarkeit, daß keiner von denen, die sie führen sollten, es wagte, ihnen seine Bedrängnisse zu enthüllen und in der Not um Rat zu fragen. Mit Gebet stand man auf, mit Gebet aß man, schlief man ein, und alles das nicht nach dem milden Zwang herzlicher Frömmigkeit, nein, unter der mürrischen Stirn eines starren Gebotes. Eine Zigarre zu rauchen, war eine grobe Ausschreitung, ein Glas Bier zu trinken Völlerei, mit einem Mädchen zu sprechen Unkeuschheit. Nur jene, deren Blick immer in Demut gesenkt blieb, deren Lippen stets in stummen Gebeten zitterten, standen im Schatten der Huld. Es war eine militärische Drillanstalt der Gottseligkeit, ein Kloster mit den Formen der Kaserne, und deswegen gehörte sie damals zu den Musteranstalten. Aber wie es hier war, ist es wohl in den meisten Lehrerbildungsanstalten: Man erzieht die Jünglinge zum Servilismus, darum sind auch nirgends die Bedientenseelen so zahlreich wie in Preußen.
So kam es, daß ich mich im Seminar gar bald recht unbehaglich fühlte, nur mühevoll den instinktiven Widerwillen gegen den Beruf unterdrücken und den Entschluß aufrecht erhalten konnte, meiner Eltern wegen darin Tüchtiges zu leisten. Das Versprechen an meinen Vater bewahrte mich indes vor jeder Untreue. Mit finsterem Mut stürzte ich mich in die Arbeit. Die Furcht, aus Unachtsamkeit oder Schwäche in gemächlichen, aufgelösten Stunden über das Schicksal unserer Familie zu sprechen, schloß mich auch hier von meinen Mitschülern ab, so daß ich zu keinem in ein anderes als rein oberflächliches Verhältnis trat. Zudem hatte ich in den tollen Knabenjahren all jene kleinen Räubereien am Unerlaubten genossen, die meine Kameraden nun zu heimlichen Unternehmungen anregten, verbotene Zigarren. Bier, eben alles bis zu Liebschaften. Ich fand es fade, über solchen Krimskrams ein langes und breites zu sprechen und ging einsam, abseits meinen Weg, auf dem mich wohl manchmal Schwermut überfiel, wenn ich sah, wie er gar so fern von Heiterkeit und Sonne führte. Außerdem legte das Leben im Elternhause noch manche geheime Last hinzu. Denn es rieb sich in jener Reizbarkeit auf, mit der der Leidende den Leidenden erträgt. Kurz, ich erlag oft einem Gefühl tiefster Verlorenheit. Dann machte sich wohl eine Helle über mir auf, und die Erinnerung an jenen Ostersonntag kam, da ich neben dem alten Willmann über mich und alle Berge hinaus in das Abendrot geschwärmt hatte. Ich brachte es aber lange nicht über mich, wieder an das Pförtchen über der Torwölbung des Turmes zu klopfen, weil ich sorgte, mein Vater könne die Besuche bei dem Greise als die Absicht empfinden, sein Unglück an Fremde zu verraten, und beschränkte mich darauf, von meinem Fenster aus den alten Wartturm sehnsüchtig anzuschauen und auf meinem Wege zu und von der Anstalt hinaufzugrüßen.
An einem Sommerabend saß ich aber doch wieder auf dem Bänkchen hinter dem Mauerkranze an der Seite des einsamen Alten, anfangs stumm wegen der Untreue gegen meinen Vater und bedrückt über das lange Ausbleiben. Allein der Gütige wußte mit gleichmütigem Geplauder meine Beklommenheit zu heben und mit Warten und gelassenem Führen meine Verschlossenheit zu lösen, daß sich gar manches meiner geheimen Sorge in meine Worte verirrte. Erleichtert schlüpfte ich dann wieder unter dem Schutze des Dunkels hinter meinen Tisch und genoß die doppelte Freude, mich gegeben und bewahrt zu haben. Diese, bei einem Jünglinge meines Alters seltene Kargheit und Keuschheit war es wohl, wenn auch nicht allein, daß mich der Greis mit immer größerer Freude, zuletzt mit offener Liebe empfing, als sei ich nicht eines Fremden, sondern sein eigener Sohn. Bald gab es nur wenige Tage in der Woche, an denen ich nicht, sei es auch nur auf Augenblicke, zu dem Alten hinaufsprang. In demselben Maße, wie mich die Zurückhaltung etwas verließ, erwärmte sich der Alte an meiner leidenschaftlichen Not und meinen ungebärdigen Schmerzen für sein Leben, dessen Unruhe weit von ihm abgerückt war, wie hinter Bergen schlafende Städte stehen. Es dauerte Wochen, ehe er dies und jenes von seinen Geschicken in das Gespräch einflocht, und immer streifte er nur mit einigen Worten vorüber.
An einem Oktobertage aber verlor er sich tief an seine Erinnerungen. Der Herbst jenes Jahres war ungewöhnlich lang, mit immer wolkenlosen Tagen und einer Lichtfülle, der nur die sommerliche Glut fehlte. Und der Sonntagnachmittag, an dem ich hinter der Mauerzinne neben dem Greise saß, schien der Höhepunkt der herbstlichen Schönheit zu sein. Die Luft flimmerte im Licht. Über den Dächern unter uns zitterte es wie von unzähligen leuchtenden Flämmchen. Die Stadtmauer mit ihren verschiedenfarbigen Steinen hing wie bebend neben uns in der Höhe und sah nicht aus wie etwas Festes, sondern wie ein riesiger, uralter Teppich, dessen verwittertes Muster noch einmal schwach leuchtete. Die gelben Grasbüschel zwischen den Steinen muteten an wie goldene Fähnchen, die auf das morsche Gewebe gesteckt waren. Weit hinaus dieselbe fürchterliche Schöne, als verbrenne die ganze Natur in tausend bunten Flammen. Der Florianiberg loderte im gelben Feuer der Ahornkronen, in der Bronzeglut des Buchenlaubes und in dem wehenden Funkenregen der Birken. Diese bunte, entzückende Vernichtung zog alle Täler entlang, glomm um jede Hütte und breitete sich aus, soweit der Blick über die wellige Ebene flog, bis an die Berge, die in die Luft dampften wie silberblaue, mächtige Rauchwolken. Auf den Telegraphendrähten saßen Stare und quirlten ihr schrilles Pfeifen in die feiertägliche Stille. Meisen geigten ruhlos aus allen Gürten. Von Zeit zu Zeit klangen die Glocken der Ähren von den Türmen und verschollen traumhaft gleich den Paukenschlägen einer fernen, grandiosen Festmusik.
Dieses alles genossen wir miteinander, und gerade der Alte war unerschöpflich in Bildern, die tief in den Zauber des Herbstes fühlten, dieses Abendrot des Jahres. Plötzlich faßte er meine Hand und sagte: »Weißt du, mein lieber Junge, du bist doch nicht böse, daß ich so spreche?«
Ich schüttelte mit glücklichem Lächeln den Kopf und erwiderte den Druck der alten, bebenden Hand herzlich.
»Weißt du,« sprach er, »wenn man als alter Mann so sitzt und sieht, so fühlt man, daß einen das Leben doch nicht umsonst getrieben und gejagt hat, und daß das Dasein des Menschen doch einen hohen Sinn hat, der freilich anders ist als der, welcher die Menge führt.«
Ich fragte, wie er das meine. Er sann einen Augenblick und bewegte dann abwehrend den Kopf. Nach einer Weile stillen Überlegens begann der Greis aus seinem Leben zu erzählen.
Er stammte aus einem jener kleinen Häuser am Stadtgraben, die furchtsam, enganeinandergeschachtelt den Uferrand der Neiße entlang stehen und wie in weltabgewandter Demut sich kaum getrauen, nach der Straße zu ein Fenster zu kriegen. Nach der Neiße zu trieben sie lauschige Altanen, um in ihrem Schutze mit vielen Fenstern, wie mit stillen, verwundert-horchenden Augen über das Wasser drunten zu sehen. Sie standen damals so und haben sich heut wohl noch nicht geändert. In einem dieser Häuser wohnte Willmanns Vater, der Stadtschreiber und Vertraute des damaligen Bürgermeisters von Euen, in seinen guten Jahren ein hoher, fröhlich-strenger Mann. Wäre der Einfall der Franzosen nach der unglücklichen Auerstädter Schlacht nicht gewesen, er hätte sein Leben wie seinen Rock glatt gebürstet bis zum Tode. Nun erschienen Jeromes Franzosen, Bayern und Sachsen auch in unserer Gegend und schrieben von ihrem Hauptquartier zu Pischkowitz Kontributionen in der ganzen Umgegend aus. Das war so um das Jahr 1807. And während alle Bürgermeister und Schulzen den Eindringlingen alles nach Willen erfüllten, fiel ihnen Heisterbergs Oberhaupt, der Herr von Euen, durch Querulieren, Harthörigkeit und verletzliche Gehorsamtuerei so beschwerlich, daß ihm eines Tages der Befehl zuging, vor dem französischen General zur Verantwortung zu erscheinen. Der Stadtschreiber Willmann, in dem man die Haupttriebfeder zu allen Ärgerlichkeiten vermutete, mußte mit ihm gehen. Was dort auf dem Schlosse zu Pischkowitz geschehen ist, wird nie ganz aufgeklärt werden. Der fremde General, ein roher, äußerst gewalttätiger Patron, schlug den Herrn von Euen vor seinem Gefolge ins Gesicht und ließ ihm außerdem 30 Stockhiebe verabreichen. Dem verhaßten Stadtschreiber spielte man wohl noch übler mit. Bei Nacht und Nebel kamen die beiden wieder zu Hause an. Wochenlang hielt sich Willmann vor seinem Weibe und seinem einzigen Sohne verborgen, ging nicht aufs Rathaus und war durch kein Bitten und keine Tränen zu bewegen, sein Zimmer zu verlassen, in das er sich, durch den Türspalt, das Essen reichen ließ. Als er sich endlich wieder herauswagte und, den blauen Aktendeckel unterm Arm, dem Rathause zuschritt, war er ein verwandelter Wann. Die Augen scheu gesenkt, die Schultern hängend, den Rücken gekrümmt, die Brust eingeklemmt, scheu und zusammengehüfelt, stöberte er umher. Nach Monaten mußte er aus seinem Amte scheiden, weil es sich zeigte, daß sein Geist Schaden gelitten hatte. Nun saß er an seinem Schreibtisch und arbeitete vom Morgen bis in die Nacht ohne Unterlaß. Oft hörte man ihn mit lauter, befehlender Stimme sprechen, als verlese er ein langes, diatonisches Gesetz. Als die Nachricht von dem Sieg bei Leipzig ihn erreichte, starb er vor Freude. In seinem Nachlaß fand man in unzähligen Abschriften den »Entwurf einer Verfassung, die das Volk vor der Bedrückung durch Tyrannen zu schützen geeignet ist«. Die Frau verkaufte das Haus und zog zu ihren Eltern hoch ins Gebirge. Der junge Willmann kam zu einem Feinmechaniker nach Prag in die Lehre.
Die Auflösung, die damals ganz Europa ergriffen hatte, die Unruhe und Zerrüttung seiner Familie steckte ihm im Blute, und als er es in seinem Handwerk zur größten Geschicklichkeit gebracht hatte, riß es ihm die Augen von der Lupe weg und lenkte sie in die große Welt. Ein abenteuerlicher Wagemut trieb ihn aus der Metternichschen Stickluft überall dahin, wo ein Volk sein Leben gegen die Unterdrückung für die Freiheit einsetzte. Er kämpfte mit den weißen Burschen gegen die Engländer; rannte hinter dem Revolutionsruf des alten Lafayette durch die Straßen von Paris, vagabondierte mit den Carbonari in Italien umher, diente im Solde des Schweizerischen Siebener-Konkordats und exerzierte endlich unter Bem, schon ergraut, in seinem letzten verzweifelten Freiheitsdrange, vor den Toren Wiens. Aber auch hier brach die Sache seiner heiligsten Hoffnung durch den Kleinmut, die Uneinigkeit und aufgeblasene Torheit der meisten Freiheitshelden zusammen. Windischgrätz fegte sie von den Gassen und kehrte sie mit eisernem Besen in die Kerker. An dem Tage, an dem Blum erschossen wurde, hockte Willmann mit anderen in der verrammelten Stube eines Hinterhauses auf der Kettenbrücke, finster, verbittert und hörte schweigend dem Zank und den kindischen Prahlereien zu, mit denen die Mutlosen ihre geheime Furcht zu verbergen trachteten. Als der Tag glücklich vergangen war, ohne daß ein Gewehrkolben gegen die Tür geschmettert hatte, in der Nacht, wagten sie endlich aufzuatmen. Nun schleppten die Weiber Essen und Wein aus der nächsten Taverne, und es begann ein übermütiges, unbesorgtes Schmausen und Trinken, wie wenn alles auf das Beste gelungen sei. Da schrieb Willmann mit zornbebendem Finger das Wort »Dreck!« in den Staub auf den Deckel eines Klaviers und schlich hinaus. In dieser Nacht kam ihm die Erkenntnis, daß der Mensch sich erst innerlich frei machen müsse von Wahn, Niedrigkeit, Enge und Irrtum, dann fallen endlich alle äußeren Fesseln von selbst. Nun begann eine Periode innerer Erlebnisse, während er mit Anspannung aller Kräfte für die Sicherstellung des nahenden Alters zu sorgen begann. Er wandte sich dem Maschinenbau zu und sah sich nach zwei Jahrzehnten im Besitz eines Vermögens, das ihn aller Not überhob.
»Nun sitze ich«, so schloß er seine Erzählung, »an dem Ort, von dem ich ausgegangen bin, ledig der meisten Fesseln. Die Leute kennen mich nicht, und ich begreife selbst oft nicht, wer ich bin. Aber wenn Abende glänzen, wie der unter uns, an denen der Tag so bunt und heiter zu Tode kommt, dann fühle ich mich geborgen in meinen Augen, die durch tausend Erblindungen in wunscharme Klarheit gerettet wurden.«
Dann erhob er sich und schaute lächelnd auf das Gewimmel der Spaziergänger, das unter dem Turm verschwand und aus der Torwölbung quoll. Als er sich wieder zu mir kehrte, fragte ich: »Herr Willmann, und welches ist der Sinn des Lebens?«
Da antwortete er mit gütigem Ernst: »Mein Junge, das darfst du fragen; aber ich darf nicht antworten. Noch nicht. Vielleicht später. Vielleicht auch nicht.« – Traurig darüber, daß mich der Greis doch nicht seines ganzen Vertrauens würdigte, ging ich davon.
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Ich hätte müssen kein Jüngling sein, wäre des alten Willmanns Erzählung spurlos an mir vorübergegangen. Aber die tollen Abenteuer des greisen Revolutionärs warfen meine Phantasie doch nicht zu sehr aus der gewohnten Bahn, denn unser ganzes Haus war ja voll von, wenn auch siecher, Unbeugsamkeit, und in mir selbst kochte der Freiheitsdurst wie eine verschüttete heiße Quelle. In jener Zeit drangen auch die ersten Nachrichten von dem Schicksal meines Großvaters an mein Ohr. So kam es, daß ich in manchen Augenblicken träumte, mein Ahne sei gar nicht in dem Kampf bei Waghäusel umgekommen, sondern habe sich unter fremdem Namen seiner Familie nachgeschlichen und sitze nun als der Alte vom Turm in dem Schutze einer grotesken Vergangenheit uns nahe und wache über unser Wohl. Seltsam war ja auch Willmanns fast väterliche Zärtlichkeit zu mir, die noch immer zunahm. Wenn ich aber mit neugierigen Fragen um sein Geheimnis schlich, wurde er plötzlich der fremde Wann, fern, hart, sogar feindselig. Tage lag dann Schwermut und Kummer über ihm, und sein Blick wirkte wie eine schmerzvolle Drohung. Hatte er mich gründlich verscheucht, so blühte nur seine Güte doppelt rührend, und ich fühlte gar bald, daß die kleinen Überraschungen, mit denen der Greis mich neckend erfreute, den Zweck hatten, den Nachhall seiner Härte schneller in mir zu verwischen.
Mit dem Einsetzen der kalten Jahreszeit brach unser Verkehr ab. Der Schnee duldete kein Verweilen hinter dem Mauerkranze, und mit derselben heiteren Festigkeit, wie am ersten Tage, verwehrte mir der wunderliche Alte den Eintritt in sein niedriges Stübchen. Er tat das mit vielen gewaltsamen, humorvollen Gründen, hielt mir in der hohen Finsternis der plumpen Spitze eine Art feierlicher Rede, gab mir allerlei gute Räte für den Winter und verabschiedete sich, unvermutet in schweren Ernst verfallend, mit ein paar bebenden Worten und dem herzlichen Druck seiner kalten, zitternden Hände. Er schob mich eilig durch das Pförtchen und kreischte sofort das Schloß ein. Verblüfft stand ich unter dem Vordächlein und hörte Willmanns Schritt mühsam, wie schmerzvoll, der Stube zuschleichen und zögernd verschwinden. Der Gedanke, bis zum Frühjahr allein sein zu müssen, kam mich recht hart an, denn all meine Kümmernisse und Aufregungen hatte ich zu dem lieben Greise getragen, damit er sie in mir schlichte und glätte. Daß er mir die Erlaubnis erteilte, bei einem Anlaß von höchster Wichtigkeit an seine Tür klopfen zu dürfen, erschien mir als ein gar magerer Trost; denn wo sollte das Überschlimme herkommen, da ich über unsere Familie noch immer mir Schweigen auferlegte und es auch fernerhin tun wollte. Aber der Fall trat eher ein, als es mir lieb war.
Wie in allen Seminaren bestand auch in Heisterberg die Einrichtung, den Zöglingen zweimal im Jahre, um Weihnachten und um die großen Ferien, Stipendien zu verabreichen, deren Höhe von der Bedürftigkeit, dem Fleiß und der Führung des einzelnen abhängen sollte. So sagte wenigstens unser Direktor, der Doktor Bode, der einen gestutzten Schnurrbart wie ein Kanzlist und einen sokratischen Hängebauch sein eigen nannte und außerdem die Gewohnheit besaß, vor seinem Eintritt ins Klassenzimmer stets erst die Mütze zur Tür hereinzustecken. Wurde er von einem Vorgesetzten angeredet, so lächelte er entschuldigend, ehe er antwortete. Es war ein grundguter Mann mit dem vorsichtigen Auftreten eines preußischen Beamten und den unbeholfenen Manieren eines Stubengelehrten. Ich hatte keinen Grund, an seiner Versicherung zu zweifeln. So bemühte ich mich tapfer um ein großes Stipendium und saß halbe Nächte bei den Büchern. Vor Jugendtollheiten hielt mich der ernste Geist ab, den unsere trüben Familienverhältnisse und die Erfahrung in mir geboren hatten. Indem war ich ohne Geld, denn bei uns war nun schon oft Schmalhans Küchenmeister. Wenn ich so abends die Mutter, mit scheuem Blick zum Vater hin, die Salzkartoffeln und das trockene Brot auf den Tisch tragen sah, wenn ich bemerkte, wie der Gebeugte geringschätzig die Speise musterte, mit Knirschen zulangte, mit bitterem Lächeln aß und dann empört aufstand, indem er das Messer auf den Tisch hieb, wenn all die Bitterkeit, Trauer und Wehmut mich bestürmten, dann kam ein unendlich süßes Glücksgefühl über mich bei dem Gedanken, daß ich einst an das engbrüstige Tischlein treten und vor den Augen der lieben Gebückten einen klingenden Reichtum hinstreuen würde: Lacht, Vater und Mutter, lacht!
Bei der ersten Ausschüttung, drei Monate nach meinem Eintritt ins Seminar, wurde mein Hoffen enttäuscht. Ich erhielt nur das Schulgeld erlassen, nicht einen roten Heller in die Hand, trat an den Tisch neben dem bärbeißigen Lehrer, dem die Verwaltung der Anstaltskasse übertragen war und quittierte mit etwas affektierter Kühle. Das Fehlschlagen meiner Erwartung regte mich auch wirklich nicht sehr auf, denn ich tröstete mich damit, daß man mich erst beobachten wolle, um dann doppelt zu geben, wenn man sich von der Grundlosigkeit des Verdachtes überzeugt hatte. Ein Verdacht bestand, denn es war mir bekannt, daß Doktor Bode ein Studienfreund des Stadtpfarrers Zimbal war und die beiden Männer die Beziehungen, wenn auch etwas gedämpft, noch aufrecht erhielten. Außerdem verkehrte unser Religionslehrer Neumann als gerngesehener Gast auf dem Pfarrhofe, der im Laufe der Jahre, und besonders seit Herr Zimbal in den Reichs- und Landtag als Abgeordneter gesandt worden war, den Mittelpunkt der klerikalen Politik unserer Gegend bildete. So oder so. Der Geistliche, wenn er zum Pfaffen wird, ist unversöhnlich wie eine alte Jungfrau, und der Pfarrer Zimbal musterte mich bei Begegnungen auf der Straße noch immer mit der alten, kühlen Härte, mit der er mich armen Jungen einst von seinem Flur vertrieben hatte. Es ist auch nebensächlich, wie seine Abneigung gegen mich das Lehrerkollegium angesteckt hat. Die Tatsachen haben bewiesen, daß ich mit meinem vorschnellen Verdacht nicht auf unrechter Fährte gewesen bin.
Bald sollte ich das erfahren. In Heisterberg war es üblich, daß die Seminaristen in der Schulmesse, die allmorgendlich in der Aula des Seminars abgehalten wurde, dem Geistlichen am Altar zu dienen hatten. Des Sonntags war für die Schüler ein feierlicher Gottesdienst in der Pfarrkirche. Dann mußten die Seminaristen, mit bunten Röckchen und weißen Hemdchen bekleidet, denselben Dienst versehen. Es war putzig anzuschauen, wenn hochgeschossene Jünglinge in dieser kirchlichen Tracht, die eigentlich für Knaben berechnet war und den jungen Männern kaum bis an die Knie reichte, vor dem Altar hin- und herknicksen mußten. Als ich das erstemal das sah, befiel mich Scham, denn ich war einer der Größten meiner Klasse und hätte in dieser Montur unzweifelhaft eine vollkommen lächerliche Figur abgegeben. Darum beschloß ich, diese Ehre auf jeden Fall von mir abzuwenden. Mein Hintermann in der Klasse, der Sohn eines Dominialschäfers, von Geburt aus in jeder Art von Unterwürfigkeit bewandert, fand sich leicht bereit, meine Rolle als Ministrant zu übernehmen, wenn mich die Reihe traf und freute sich mit seinem glucksenden Lachen recht herzhaft in sich hinein, weil es ihm vergönnt war, ohne Gefahr auch einmal ein Abenteuer zu bestehen. So ging es an den gelben Bäumen vorbei in den Winter hinein, und ich hatte in all meinen geheimen Lebensnöten diese Verfehlung beinahe vergessen. Eines Morgens, in der Katechismusstunde – es war etwa vier Wochen vor Weihnachten – rief mich der Religionslehrer mit eigentümlich eingekniffener Stimme auf, daß ich das gelernte Pensum hersage; ich fuhr in die Höh', und als ich es wie verhaltenen Zorn in seinen langen, geraden Backen hinunterlaufen sah, richtete ich mich noch straffer auf und packte mit vollem Blick in sein blasses Gesicht. Dann begann mein Vortrag. Pater Neumann senkte seine hohe Stirn so tief, daß ich die hintere Seite seiner großen, abstehenden Ohren betrachten konnte, und das Haarhäufchen, das wie eine schwarze Maus mitten auf seinem blanken Schädel kauerte, kam in Gefahr, herunterzurutschen. Nun hatte ich geendet. Der Religionslehrer tippte noch einige Male mit dem Bleistift auf das Katheder und richtete sich dann auf. »Hmja, Faber, gut«, sagte er und lenkte jetzt seine dunklen Augen, die wie zwei große Stanzlöcher aussahen, auf mich. »Sie haben gut memoriert – und nicht ministriert. Sie sind diese Woche an der Reihe, lassen sich aber vor dem Altar nicht sehen, jetzt nicht, und, erinnere ich mich recht, früher auch nicht.« Ich sagte ihm meinen Grund, schlicht und furchtlos. Pater Neumann schlug seinen Bleistift leicht auf und stieg mit dürren, umständlichen Beinen vom Katheder. Als er sein Haarmäuschen auf dem Kopf aufgedreht hatte, war er wieder ruhig in seinem langen Rock und begann, in dem Raum vor den Bänken auf- und niederwandelnd, von der hohen Würde und heiligen Ehre des Ministrierens einen langen Sermon, ja, verstieg sich soweit, diesen Dienst ein Werk zu nennen, um das die Engel im Himmel uns beneiden. Ich hörte aufrecht und ernst zu. Dann stieg er wieder auf seinen Kathederstuhl und fragte nach gepreßtem Aufatmen: »Und was haben Sie nun zu sagen?«
»Ich habe den Danske ersucht, mich zu vertreten«, antwortete ich. Er schob die Brauen über der Nasenwurzel zusammen und hieß mich ruhig setzen.
Alles war so ganz im Ton einer beiläufigen Unterhaltung verhandelt worden, daß alle meinten, die Sache sei erledigt. Es kam aber anders ...
Acht Tage später sah ich zwischen der dritten und vierten Abendstunde, also nach fünf Uhr, unter meinen Mitschülern in der Klasse. Da erschien der Hilfslehrer Mieding und rief mich ins Konferenzzimmer. Dort traf ich das Lehrerkollegium vollzählig um den langen, grünen Tisch versammelt, alle stumm, pfahlsteif, voll drohender Würde. Mir blieb der Atem in der Brust stehen, aber ich drückte mir die Nägel in die Hand und dachte: Kopf hoch!
Da fuhr auch schon Doktor Bode so ungestüm empor, daß die Knöpfe seiner Weste an der Tischkante rasselten.
»Sie haben die Anstaltsgesetze auf das gröblichste verletzt!« schrie er ohne Umschweife mit erzwungener Aufregung, schilderte dann mein Verbrechen, bewies mir Ungehorsam, Hartnäckigkeit und überlegten Trotz, da ich nach der eingestandenen Schuld weder Reue gezeigt, noch auch, wie es sich doch gehöre, Herrn Pater Neumann um Verzeihung gebeten habe. Eine Rüge und Verlust des Stipendiums war meine Strafe. Ich traf auf keinen milden Zug bei all meinen Richtern.
Mit fast schreiender Stimme bat ich um einige Worte zu meiner Verteidigung, denn es schnürte mir die Kehle ein.
Doktor Bode, der gute Mann, schoß in höchster Wut wie ein Bolzen wieder herauf und brachte nichts heraus als ein mehrmaliges: »Raus!« Alle markierten Entsetzen, und der dröhnende Baß des bärbeißigen Kassierers überschlug sich wegen meiner »bodenlosen Frechheit«. Der eilige, kleine Mieding sprang auf mich zu und fragte höhnisch, ob er mir die Tür öffnen solle. Finster und feindselig sagte ich: »Bitte!« Die Tür flog auf, ich machte Kehrt und war draußen auf dem Korridor. Der war voll Rauschens wie von unsichtbaren Wassern, die Lampen schwirrten wie gelbe Vögel hin und her. Ich wartete, bis alles still war, die Lichter wieder sicher an den Wänden glühten und betrat dann aufgereckt, mit erzwungenem Lächeln, das ich kalt und verzerrt wie eine Fratze im Gesicht fühlte, das Klassenzimmer. Niemand wagte zu fragen, was es gegeben habe. Ich nahm meine Stirn in die Hand und machte mich über mein Buch.
So war es also wieder nichts mit der Unterstützung, und ich hatte es mir schon ausgemalt, wie ich meine Eltern zu Weihnachten überraschen wollte. Ein kleines Christbäumchen, über und über mit blitzenden Silberstücken behängen, sollte unvermutet im Dämmern vom Werktisch meines Vaters aufleuchten.
Noch während ich nach der letzten Unterrichtsstunde aus dem Seminar nach Hause ging, fraß die bittere Trauer über die Vernichtung meiner Hoffnung an mir. Plötzlich überfiel mich eine Stille, die war voll geheimen, sarkastischen Frohlockens; ich war nicht imstande, mich ihr zu entziehen. So, als ob die Lehrer, durch das Böse, das sie mir auf Drängen des Paters Neumann angetan, mich von sich losgebunden und mir die ganze Freiheit wiedergeschenkt hätten, war es mir. Ein bitterer Jubel, den ich vorderhand nicht begriff, lag in mir, schwang meine Beine zu trotzigem Schreiten und läutete mir das Herz hart und kalt. Meine Eltern merkten nichts von dem, was vorgegangen war; nur trieb es mich früher als sonst auf mein Stübchen. Denn, wenn ich das zerknitterte, demütige Gesicht meiner Mutter und die düstere Verlorenheit im Auge meines Vaters bemerkte, dann faltete es mir die Hand zur Faust, und ich war versucht, sie dröhnend mitten auf den Tisch zu setzen. Darum schützte ich dringende Arbeit vor, wünschte beiden gute Nacht und stieg hinauf hinter meine Tür.
Mein Zimmerchen war finster wie ein zugenagelter Kasten. Das Bombenöfchen in der Ecke schluckte an seinem kleinen Feuer und blinzelte dann und wann mit dem roten Türloch auf, wie mit einem einzigen Auge, schläfrig und mißvergnügt, und sein roter Blick glitt träge an der gegenüberliegenden Wand entlang. Ich mochte die Lampe nicht anzünden und mich in den engen Kreis des Lichtes gefangen setzen, sondern stand in der Finsternis wie in schwarzer, grenzenloser Weite, erlöst und verlassen zugleich. Kam dann der rote Streifen neben mir auf und sank vorüber, so war es mir, als gehe unsichtbar ein wegkundiger Wanderer vorbei, und der Lichtstreifen aus seiner Laterne zittere über einen stillen Flußspiegel zwischen mir und ihm. Davon kam ein dumpfes Stocken in mein Hirn, so, als würde ich von einer letzten, rätselhaften Sicherheit abgedrängt. Bald puffte das Feuer im Ofen nur noch in langen Zwischenräumen schwach auf und blies ein Schwelen ins Dunkel, das so matt war, daß es wie machtloser, roter Atem zerrann, ehe es die Wand ertastet hatte. In Angst murmelte ich: Man müßte zum Direktor gehen und bitten, die Strafe zurückzunehmen, oder zum Pater! Wir brauchen doch das Geld! Denn meine Eltern hungern ja. Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, als ein Picken, Knistern und Rasseln durch den kleinen Ofen lief, in dem Rohre hinaufhuschte und scheinbar durch die Mauer verschwand. Ich war von jeher ein beherzter Mensch. Aber nun dies hören und denken, die Großmutter spuke um mich, war eins. Ohne zu überlegen, griff ich über die Bettdecke nach meiner Mütze und schlüpfte auf den Zehen in den Flur. Die Treppe knarrte nicht unter meinen Füßen. Drunten hörte ich den schweren, brodelnden Atem meines Vaters aus der Schlafstube, stellte die Klingel ab, schloß die Haustür auf und stand draußen unter dem Nachthimmel; der hing in der Höhe wie ein schwarzblaues Stahlschild mit unzähligen, blitzenden Silberbuckeln. Ich werde mich nicht bücken, dachte ich bei mir, als ich das sah, und begann die Füße zu setzen, einen vor den andern, über den Berg hinauf, in die Torwölbung hinein, über die enge Stiege, immer schneller, als könne es gar nicht anders sein und hielt bald den rostigen Griff von Willmanns Türpforte in der Hand. Ich wartete und schlang ein wenig an meinem fliegenden Atem. Erst jetzt fiel mir's ein, ob der Greis noch wach sei. Ich hob den Kopf und sah durch das Weingerank den Schein des stillen Lichtes aus seinem Fenster in die Nacht hinaushängen. Im nächsten Augenblick wirbelte ich auch schon mit ungestümer Hand die drei verabredeten Schläge gegen die Tür. Drinnen kam des Greises Schritt vorsichtig bis hart ans Pförtchen. Hier hielt er, und ich hörte den Alten schwer überlegend atmen, dann sprach er unwirsch und knurrend meinen Namen als Frage. Ich sagte: »Ja« und schämte mich, daß in einem Frost, der mich plötzlich befiel, mir die Zähne aufeinanderschlugen und eine Erregung über mich kam, die als Zittern durch meinen Körper lief. Am liebsten wäre ich wieder nach Hause gerannt, doch das Pförtchen ging auf, und der Schein der Lampe, die Willmann in der Hand trug, sank heraus. Kein Gruß, kein Laut kam von den Lippen des Alten, und als ich ihm drin gegenüberstand, musterte er mich mit finster-ernstem Blick. Da rührte sich mein verletzter Stolz. »Wenn ich störe, Herr Willmann, so will ich nur gleich wieder gehen«, sagte ich möglichst fest. Er griff, ohne etwas zu erwidern, mit seiner freien Hand nach meiner herunterhängenden Rechten, und als er das Beben in ihr wahrnahm, sprach er kühl: »Schließ' ab und komm'!« Bei meinem Eintritt ins Zimmer stand die Lampe schon auf dem Tisch, und Willmann zog vor einer Nische in der Mauer den grünen Vorhang fester zusammen. Der Raum war eng und niedrig, aber ihm fehlte das Heimelige nicht, das alten Wachtstuben eigen ist. Seine Einrichtung, aus einfachen, dunkelgebeizten Eichenmöbeln, entsprach eigentlich ganz der früheren Bestimmung und bestand aus einem rammigen Tisch, zwei Stühlen und einer Bank, die um zwei Wände und in die tiefe Fensternische hineinlief. In der Ecke knotzte ein winziger, grüner Kachelofen, und an den Wänden hingen einige vergilbte Kupferstiche. Willmann hatte sich in der dämmerigen Fensternische niedergelassen, und obwohl sein Haupt in den breiten, weißen Bart gesunken war, bemerkte ich doch, wie er mich aufmerksam beobachtete. Ich stand noch immer in der Nähe der Tür und konnte meiner Bestürzung über das veränderte Betragen des Verehrten nicht Herr werden. Doch die Überzeugung, es sei besser, die Sache im Guten oder im Schlimmen ans Ende zu bringen, als fortzulaufen, bestimmte mich, ohne Aufforderung auf der Bank Platz zu nehmen. Kaum war das geschehen, so hob Willmann den Kopf, strich sich den Bart zurecht und erzählte ohne Umschweife etwa folgendes:
»Als ich noch in Prag lernte, war ich einst allein in der Werkstatt und machte mich in Neugier an eine Maschine heran, die der Meister niemand anvertraute. Hinter meinen unkundigen Griffen löste sich irgendwo die Sicherung, und das äußerst zierliche, komplizierte Werk begann nun so rasend zu arbeiten, daß ich fürchten mußte, es könne jeden Augenblick in Stücke fliegen. In Angst riß ich die Tür auf und rief nach dem Meister. Er kam, sah, worum es sich handle, stellte mit einem Fingerdruck die Maschine ah, verabreichte mir eine Ohrfeige und sprach: ›Man soll nicht nach Hilfe schreien, ehe man nicht selbst alles versucht hat.‹« Nach diesen Worten ließ der Greis eine Pause eintreten, richtete seine Augen fest auf mich und fragte: »Hast du mich verstanden?« »Ja.« antwortete ich, »alles. Sogar das von der Ohrfeige.«
»Und willst du mir jetzt noch etwas anvertrauen?« fragte er weiter.
Ich zögerte. Willmann blickte indessen zum Fenster hinaus, dann drehte er sich um und sah, wie ich dasaß, mit finsterem Blick die Tischplatte anstierend.
»Hast du deinen Eltern schon davon gesprochen?« fragte er abermals, aber ein wenig weicher.
»Nein.« sagte ich dumpf, »sie würden zu sehr darunter leiden.«
»So?« sprach er. »nun, dann erzähle also!«
Ich begann stockend und unsicher, aber je weiter ich kam, desto mehr verwandelte sich die Angelegenheit und wurde aus dem vereinzelten, bitteren Mißgeschick zu, einem festverbundenen Glied in der Kette der Lieblosigkeiten und Bedrückungen, die ich in meinem Leben erfahren hatte. Doch von dieser Erkenntnis schwieg ich. um nicht das Unglück meiner Eltern antasten zu müssen und beschränkte mich darauf, dem Greis eine Vorstellung von dem Kummer zu geben, den die Verweigerung des Stipendiums mir verursachte. Allein, ich habe wohl nicht verhindern können, daß die geheime, tiefe Finsternis meiner Seele meine Worte verzweifelter und gramvoller gestaltet hat, als es die Bedeutung des Vorganges an sich erforderte, denn schon ehe ich geendet hatte, sah ich Willmanns weißes Haupt wie von unterdrücktem Lachen rucken, und als ich dann verdutzt schwieg, sprang er auf und brach in schrankenlose Lustigkeit aus. »Huhu! Schrecklich, furchtbar!« sprach er erstickt und wurde von einem neuen Lachkrampf geschüttelt. Da kam ich auch steil auf die Füße, wie von oben her ein Balken auf die Stirnseite fällt. »Herr Willmann, für mich ist es aber schlimmer Ernst, sehr schlimmer«, sagte ich bebend und trat hinter dem Tisch hervor.
»Ach nee«, entgegnete er und näherte sich mir in ungebrochener Laune, um seine erhobene Rechte auf meine Achsel zu legen.
Ich wich vor ihm zurück, unfähig zu atmen und fast betäubt vor Bitterkeit.
Da zog er den Schritt wieder an sich. Die Lustigkeit fiel wie eine Vermummung von ihm, und sein Auge forschte über meine Züge. Dann sagte er trocken: »Schön. Gehe nach Hause und lege dich schlafen. Morgen früh trittst du vor den Pater Neumann und bittest ihn um Verzeihung.«
Da war es mir, als erhielte ich einen Stoß vor die Brust. Was Zimmerchen verfinsterte sich von meinen aufsteigenden Tränen, und indem ich ganz leise mein »Gute Nacht« stotterte, drehte ich mich dem Ausgange zu, griff nach meiner Mütze und suchte den Drücker an der Tür. Die Wand floß wie ein graues Wasser vor mir, und der Griff war nicht zu finden.
Plötzlich fühlte ich mich an der Achsel gefaßt und wurde herumgezogen. Willmann stand dicht vor mir. Sein Gesicht strahlte in der tiefen Güte, die ich an ihm gewohnt war. »Nein, nein,« sagte er herzlich, »so war es nicht gemeint. Komm' und setz' dich, mein lieber Junge!« Er zog mir die Mütze aus der Hand, drückte mich auf die Bank und neigte sich so nahe zu mir Erschüttertem, daß sein Bart meine Wange streifte. »Hat die Ohrfeige sehr weh getan. Faberlein?« fragte er liebreich.
»Herr Willmann, wenn Sie alles wüßten«, stammelte ich vorwurfsvoll und griff nach seiner Hand.
Er erwiderte den Druck mit voller Herzlichkeit und sagte: »Faß dich nur jetzt! Wenn du älter geworden bist und daran zurückdenkst, hoffe ich, wirst du mir nicht mehr zürnen deswegen, denn wer sich gegen seine Vorgesetzten auflehnt, muß ein Recht dazu haben in der Notwendigkeit seines Lebens. Der Aufsässige aus bloßer Leidenschaft wird ein unfreier und knechtischer Mann.«
Ich hob den Kopf, um etwas zu erwidern. Er ließ mich nicht beginnen, sondern fuhr fort: »Nein, nein, ich weiß schon. Was die Lehrer dir angetan haben, war töricht und hart. Abzubitten gibt es da natürlich nichts. Doch nun sage mir alles, was du sonst auf dem Herzen trägst, vielleicht kann ich dir helfen.«
Das erstemal in meinem Leben kam die Wollust des Ausströmens über mich, die eine Angst und neues Beladen ist. Wie man aus einer dunklen Stube in die andere flieht, so entrann ich mit meinem Wort der Gebundenheit unabwendbarer Tatsachen, um mich zum Schlecken in meinem Leben erst recht als in einer weglosen Fremde wiederzufinden. Mein Erzählen wurde ein Jagen, ein Wirbel leidenschaftlicher Ausrufe. Wie Stößer, vom Sturm getrieben, taumelten meine Worte, und mir ging die Empfindung ganz verloren, was zu verschweigen und was zu bekennen sei. Ich vergaß, wo ich war und was das Neben sollte, das wie ein Rausch mit mir arbeitete. Als säße ich einsam am fremden Tisch in einsamer Stube, niemand zum Genossen, als den Klang meiner zerhackten, freudlos heißen Stimme, so redete ich von meiner Frömmigkeit und ahnungsvollen Kindersehnsucht nach Licht, dem Kampf meines Vaters mit dem Tischler und Pfarrer, von Zimbals Härte, von Kaliske, Hirzels Tod und dem Pfarrer Nitsche. Die Zweifel an meinem Glauben, die ich vor mir verheimlicht und doch alle getreulich aufbewahrt hatte, tauchten herauf wie grelle Sicherheiten, und da es für mich damals noch keinen anderen Standpunkt gab denn den, die Kirche wirklich als eine Institution Gottes und jeden Priester als seinen geheiligten Diener anzusehen, einen Himmelsmittler, hocherhoben über die Menschen: Ward ich nicht nur tiefer ratlos in meinem Leben und mutlos im Herzen, während ich erzählte, sondern sogar irre an Gott selber, weil gerade von der Kirche mir das schwerste Unrecht widerfahren war und ihre Gewalten meine Not wie eine Schande behandelt, mich verlassen, von sich gestoßen und verfolgt hatten.
Als ich geendet hatte, erwachte ich wie aus einem Traumwandeln und wußte nicht, sei es der Nachhall meiner Stimme, der sich lang und singend durch die Stube dehnte, oder sei es der Laut des Windes, der sich aufgemacht hatte und um die Fenster strich. Willmann sah mir gegenüber, finster und leidenschaftlich, seine Augen groß und kochend, und sein Mund bewegte sich in leisen, stoßenden Worten, die ich nicht verstand.
»Herr Willmann«, sagte ich zaghaft und bittend. Er rührte sich nicht aus seinem bösen Bann. »Herr Willmann«, bat ich dringender. Der Greis verharrte noch eine Weile versunken und entstellt. Dann richtete er sich schwer auf und lenkte seinen Blick auf mich. Sein Auge war tastend und unsicher, als sitze ich in großer Ferne, oder als liege dichter Nebel zwischen mir und ihm. Während er mich so zu suchen schien, sank die Härte ganz aus seinem Gesicht, und jener trauervolle Ernst kam in den Zügen auf, der mich von ihm geschreckt hatte, wenn ich früher mit Fragen über den Sinn des Lebens in ihn gedrungen war.
Nachdem er mich lange sinnend betrachtet hatte, sagte er: »Faber, und wenn ich dir nun den Rat gebe, gehe nach Hause und versuche mit ernstem Willen, ob du es über dich bringst, daß dein zerschlagener Glaube wieder zusammenheilt, könntest du das, mein lieber Junge?«
»Herr Willmann,« antwortete ich, »wenn ich nur vergessen könnte, was ich erfahren habe und gegen meine Absicht sinnen mußte. Aber wenn ich sitze und im Katechismus lese oder in der Bibel, so steht es in mir auf und mäkelt an allem, und Zweifel fressen an mir. Ich kann nicht mehr beten, und selbst von den Sakramenten kommt kein Frieden in mich. Denn sehen Sie, die Priester lehren anders und handeln anders, und gar vieles aus den Naturwissenschaften stimmt auch mit ihrem Wort nicht überein. Ist es falsch, warum lehrt man es uns? Ist es wahr, warum muß ich anders glauben? Ich kann nicht! Ich kann das nicht, was sie von mir wollen.«
Wieder verging eine lange Pause. Willmann saß regungslos da und sann schwer vor sich nieder. Dann begann er in demselben fast drohenden Ernst: »Ich wollte, es stünde anders um dich. Aber es läßt sich wohl nicht mehr auswischen. Das sehe ich. Ja, es ist finster um dich, und wenn ich dich gehen lasse in deiner Not, so kannst du stürzen, und ich müßte mir Vorwürfe machen, daß ich dir nicht beigesprungen bin mit der Hilfe, die ich habe.«
Darauf fuhr er entschlossen in die Höhe und sagte fest: »Gut, es muß sein!«
Ich hatte mich auch erhoben. Willmann packte mit festem Blick in meine Augen, streckte mir die Hand über den Tisch entgegen und sprach: »Aber Faber, hier versprich mir's, daß du in deinem Leben keinen unrechten Gebrauch machen willst von dem, was sich dir nun öffnen soll. Denn viele sind schon zugrunde gegangen daran. Und ich weiß nicht, was mir geschähe, wenn es zu deinem Verderben ausschlüge. Nun geh' nach Hause, und morgen, wenn du Zeit hast, wollen wir den Vorhang wegziehen.«
Stumm und tief ergriffen tastete ich mich durch den finsteren Vorraum, und Willmann schloß hinter mir ab. Eben schlug die Uhr auf dem Ratsturm zwölf. Der hohe Wind blies die Schläge ineinander, daß sie sich anhörten wie ein einziges mächtiges Signal.
– – – – – – –
Am andern Abend fand ich mich bei guter Zeit in dem Turmzimmer ein, und der Alte begrüßte mich mit ernster, vertrauter Freundlichkeit. Mit keinem Wort kam er auf die Vorgänge der vergangenen Nacht zurück. Nach einigen belanglosen Fragen schob er den grünen Vorhang von der Nische und enthüllte seine kleine Bücherei. Da standen die Werke von Renan, Feuerbach, Strauß, Spinoza, Darwin, Kant, Gibbon, Ranke und mancher anderer großer, freier Männer. Dies und jenes der Bücher nahm ich mit ehrfurchtsvoller Erregung in die Hand, wog und betastete es, kurz, sättigte in jugendlich überschwänglicher Weise meine sinnliche Neugier, bis er mit Lächeln den Vorhang wieder zuzog. »Das sind nun die Bösewichte,« sagte er dann, »die dir bis jetzt den Zutritt in meine Stube verwehrt haben. Aber wenn ich dich mit ihnen nun bekannt mache, so warne ich dich im voraus, ihnen aufs Wort zu glauben und so in ähnliche Abhängigkeit zu geraten, wie die ist, aus der du dich lösen willst. Den Gott können sie dich so wenig lehren, wie irgendwer auf der Welt, den mußt du in deinem eigenen Herzen erleben. Aber den Schutt wollen wir aus der Seele räumen und niedrige, unwürdige Dächer einreißen, daß du zu dir gelangen kannst, denn der einzige Weg zu Gott ist der Mensch selbst!«
Er saß eine Weile und sann. Darauf fuhr er fort: »Rühme dich auch deines neuen Wissens keinem Menschen gegenüber. Man soll keinem Brot reichen, der an Brei gewöhnt ist, und wenn du deinen Mund nicht hältst, so werden sie dich verfolgen und nicht ruhen, bis sie dich zugrunde gerichtet haben. Bist du reif und sicher, magst du tun, wozu dein Herz dich treibt. Denke an deinen Vater!«
So oder doch ähnlich so redete er zu mir, und ich versprach, ganz nach seinen Worten zu handeln.
In der gleichen, ernst-würdigen Art lehrte und handelte er alle die vielen Stunden und vergaß auch nicht, mich immer und immer wieder zu treuem Fleiß in der Schule zu ermahnen. Seine Unterweisungen sollten zwei Teile umfassen, einen negativen und einen positiven. Leider haben die Ereignisse nur die Abhandlung der ersten Hälfte zugelassen. Aber das wußten wir ja damals nicht. Voll Begeisterung und einem Eifer, als gelte es die Welt aufs neue zu erobern, gingen wir an die Arbeit. Teils trug Willmann an der Hand von Aufzeichnungen, die er sich tagsüber gemacht hatte, vor, teils las er aus diesem oder jenem Werke vor, das den Gegenstand, um den es sich gerade handelte, in wissenschaftlich gründlicher Weise beleuchtete. Manchmal mußte auch ich vorlesen. Seine Absicht ging dahin, mir den Beweis zu liefern, daß die Kirche nichts als eine geschichtlich gewordene Institution und die Fortsetzung des römischen Imperiums sei, die in ihrer Lehre nicht nur den willkürlichsten Gebrauch von den eigenen Kirchenvätern gemacht, sondern in ihrem Bestreben, zur Weltmacht anzuwachsen, sich nicht gescheut habe, selbst klare und eindeutige Worte Christi und der Apostel zu unterdrücken, zu verdrehen, ja sogar als häretisch zu bezeichnen, wie es die Bulle »Unigenitus« mit Sätzen aus Augustinus und dem heiligen Paulus unternimmt; du kennst ja wohl auch all das talmudisch-scholastische Versteckspiel. Ich aber wurde damals von den neuen Erkenntnissen wie von hellem Licht in die Augensterne getroffen, die, an halbes Dämmern gewöhnt, erst im Schmerz des Sehens und vor Erstaunen nicht recht zu begreifen wagten, dann aber ein Feuer in mir entzündeten, daß ich zu den verwegensten Vermutungen fortgerissen wurde und mich oft zu bizarren Meinungen verstieg. Der Greis duldete das anfangs kopfschüttelnd, faßte bei den phantastischen Ausschreitungen mahnend oft meine Hand, um mich zur Besinnung zu bringen und verwies mir, als all die kleinen Mittel seines Unwillens fruchtlos blieben, ernst dies ungesunde Schweifen. Aber er konnte ja nicht ahnen, daß diese Explosionen meiner leidenschaftlichen Natur die Folge des jahrelangen Verkrümmtseins in Winkeln und stummen Bohrens seien. Er sah darin mehr die Unbedachtsamkeit und Eitelkeit meiner Jugend und verfiel in Trauer und Bekümmernis, daß ich immer und immer wieder losraste. Mit ernstem Willen zwang ich mich daher zu äußerlicher Ruhe, konnte aber nicht verhüten, daß innerlich der von meiner Erfahrung zu Trümmern geschlagene Glaube wie von einem gepeitschten Brande vernichtet wurde.
Als der Frühling über unsere Stadt sank, war aus meinem blühenden Kinderglauben eine Schar grauer, sonnenloser Schemen geworden. Ich hütete sie sorgsam aus Klugheit an meiner Oberfläche und schob die gewohnten religiösen Worte wie Marionetten am Draht meines Willens aus und ein. Drunten in mir, fern, lag das neue Erkennen und Fühlen, ein geheimer Garten, mein Hoffen, mein Frieden. Diese seelische Zweiteilung hatte sich ohne mein Zutun vollzogen und erfüllte mich anfangs mit geheimer Freude. Je mehr aber die lebendige Welt meiner Wesenheit in die Tiefe sank, je mehr die alten Straßen meiner Empfindungen, Betrachtungen und Urteile verödeten, desto peinigender wurde dieser Zustand. Ließ auch Willmann, um die seelische Gefahr zu mildern, in die mich seine systematische Zerstörung alter Begriffe brachte, dann und wann einen Zipfel des Glaubens sehen, den er sich erlebt und erarbeitet hatte, seine gelegentlichen Bemerkungen waren zu karg, eine sichere Vorstellung seiner Anschauung zu ermöglichen. Wenn ich es mir heut' überlege, so war ihm Gott die unvorstellbare Allgewalt, die alles bildet, durchdringt und erfüllt. Nicht als etwas Fremdes, Hineinwirkendes, sondern der tiefste Grund und Inhalt jedes Dinges, jeder Wesenheit. So wandelte seine Seele durch die Natur und die Schicksale der Menschen wie zwischen hohen, tiefsinnigen Götterbildern hin. Liebe, Güte, Barmherzigkeit; alle süße, tiefe Sorgsamkeit des Herzens bildeten ihm den nur uns Menschen eigentümlichen Adel. Das war ein zu hohes, weißes Firnenlicht für mich, der ich damals noch zu tief in der Idolatrie meines alten Glaubens, in der sinnlichen Not eines engen Lebens verstrickt war; eine zu ferne und späte Weisheit, als daß sie hätte vollen Eingang in meine junge Seele finden können. Viele selige Ahnungen, Träume mystisch gestillten Verlangens, geheimnisvolle Sicherheiten waren heimatlos geworden in mir, bedrängten mein Inneres als dumpfe Beklemmungen und warfen es in Schweifen und Suchen hin und her
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Da schwammen die blauen Inseln des Frühlingshimmels wieder durch das weiße Gewölk heran; die Grasbüschel zwischen den Steinen der Stadtmauer fingen grünes Feuer, und eines Tages blühte gar aus dem Fenster der blonde Mädchenkopf, den ich in der ernsten Winterarbeit fast vergessen hatte. Wie das Gesicht einer versunkenen Welt, mir noch lebendig gerettet, tauchte sie vor mir auf, und das Spiel scheuer Zärtlichkeit zwischen uns begann aufs neue, aber süßer und etwas voller durch inneres Vertrautsein, kühner und deutlicher unter dem Einfluß der steigenden Sonne. Meine Unruhe fand ein Ziel, meine Friedlosigkeit Erfüllung. Träume und Ahnungen webten und sangen her und hin. Im Feuer meines Schwärmens ertrug ich jetzt sogar das Wissen, daß das Mädchen ein Mensch sei, Wally Göppert heiße und bei ihrem Schwager, dem Kaufmann Pausewang, wohne. Ich schrieb sogar Briefe an sie, die ich anfangs wieder vernichtete und dann tagelang nur verborgen und ängstlich des Mädchens Anblick genoß, weil es mir war, als müsse sie es erraten, daß ich mich an ihr vergangen habe. Endlich fand ich den Mut, diese kalligraphisch geschriebenen Epistel an sie zu senden, und obwohl ich keinen Namen daruntersetzte, verursachte mir dann jeder Briefträger, der auf unsere Haustüre zusteuerte, Herzklopfen. Wally lehnte nach solchen Ergüssen länger aus dem Fenster, und vermied sie auch, nach mir herunterzusehen, so hörte ich dafür aus der Tiefe des Zimmers ihre weiche Altstimme glücklich singen, wenn sie sich zurückgezogen hatte, und nahm es als ihre Antwort auf.
In dieser Verfassung befand ich mich, als ich zu Anfang des neuen Schuljahres als einer der ersten auf dem langen Korridor eine Tür weiter trabte. Voll eines neuen Mutes, gerettet und zugleich tiefer gefährdet, nahm ich Platz in der höheren Klasse.
Mein Gesicht war in jener Zeit blaß und hohlwangig und meine Schweigsamkeit herb und fast bitter. Die Mitschüler legten mir die Wortkargheit als Hochmut aus und zielten sogar mit versteckten Hänseleien nach mir. Dann entglitten mir manchmal die Zügel der Selbstbeherrschung, und ich geißelte sie in Ausdrücken, über die ich nachträglich erschrak, weil sie dies und das von meinem geheimen Wissen verrieten. Bei den Lehrern verlor ich jede Sympathie. Sie verstanden mich nicht, darum mißtrauten sie mir und erblickten vielleicht in meiner Blässe und dem Hang zur Einsamkeit die Merkmale verborgener Sünden. Wenigstens sprach Doktor Bode einst von den Gefahren des Alleinseins, der kindlichen Fröhlichkeit und den frischen Farben der Wangen als den Kennzeichen reiner Herzen und unverdorbener Seelen.
Und das sagten die, die so wenig das Amt eines gütigen, weisen Jugendführers erfüllten und mit schuld an der Not und Gefahr meines Lebens waren. Der Zorn tropfte oft heiß in meinen Drosselknoten, aber das Mitleid mit meinen Eltern und das Versprechen an den alten Willmann duckten mich immer wieder unter.
Eines Tages aber fiel doch der Funken in die geheime Zündmasse. Das Jahr war schon weit in den Sommer gerückt; das reifende Korn zitterte in der Hitze, und schon der Morgen kochte. Wir saßen in jenem Klassenzimmer, dessen Fenster auf den grellbesonnten Sand des Hofes hinausgehen. Sie waren geöffnet, die grauen Drellvorhänge heruntergelassen, und, obwohl es doch die erste Stunde war, hingen die meisten schon mehr in den Bänken. Pater Neumanns Stimme klang matt und undeutlich, als komme sie aus einem tiefen Korbe. Lange redete er so monoton und zerkaut; von Zeit zu Zeit streckte er sich und stieß einige Sätze schrill und gereizt heraus. Dann ruckten sich die Zusammengesunkenen auf und stellten den Kopf eine Weile aufrecht auf den steifen Hals. Aber wenn der schlecht vorbereitete Präzeptor wieder nichts bot als die Langweiligkeit wirrer Umschweife, krochen die Köpfe wieder enttäuscht zwischen die Schultern. Der Vortrag stolperte wie ein schlechtgeleitetes Gefährt auf unwegsamer Straße weiter, und mir bereitete es ein Vergnügen, zu beobachten, daß der Pater immer erregter wurde und manche Worte geradezu wieherte. Ich saß aufrecht da und sah ihm unverwandt in die Augen, um ihn noch mehr zu verwirren. Oft senkte er die Stirn, drückte sein Haarmäuschen auf den blanken Kopf und las unter dem Schutze der Hand große Strecken aus dem aufgeschlagenen Buch. Kam er dann wieder zur Höhe, so gab ich meinen Augen einen verweisenden Glanz und hakte mich mit dem Blick wieder fest. Ich geriet in die beste Stimmung. In dieser Weise sprach er vom Primat Petri und schleppte unter Schweiß aus dem Dogmengestrüpp allerhand Beweismittel zusammen, zu denen ich für mich kritische Fußnoten machte. Endlich gelangte er zu den Zeremonien der Papstwahl und betonte breit und wuchtig, daß die Kardinäle im Konklave nur unter direktem Einfluß des heiligen Geistes das Oberhaupt der Kirche wählen.
Bei diesen Worten muß ich wohl gelächelt haben, denn er hielt im Vortrag inne, fixierte mich mit kalter Blässe und rief mir dann schrill zu: »Nun, Faber! Sie – Sie – Sie wagen zu lachen?«
Die ganze Klasse zuckte wie unter einem Peitschenhieb aus halbem Traume, und ich wußte vor Verdutztheit nicht gleich, was er von mir wollte.
Endlich hatte ich mich gefaßt und sagte etwas verlegen: »Verzeihung, ich glaube nicht gelacht zu haben!«
»Glauben! Glauben Sie, wo es notwendig ist! Hier sind Tatsachen! Sie haben gelacht«, fuhr er weiter auf mich los.
»Bitte, wenn es so ist, so geschah es ohne meinen Willen«, antwortete ich.
»Was? Freche Ausflüchte! Nun lügen Sie noch vor Ihren Mitschülern!« Seine Worte stürzten nur so aus dem Munde.
»Ich lüge nicht!« versetzte ich nun scharf.
»Nun, also, Faber, warum lächelten Sie denn?« fragte er plötzlich liebreich und vertrauenerweckend.
Und ich Unseliger ließ mich wirklich übertölpeln und antwortete: »Ich dachte im Moment an Alexander den Sechsten und Benedikt den Achten.«
»Schweigen Sie, schweigen Sie!« fistelte er in höchster Wut. »Jetzt habe ich Sie erkannt, und alles ist wahr. Setzen Sie sich«, fügte er nach einer Weile voll Verachtung hinzu und nahm zögernd den Vortrag wieder auf.
Plötzlich aber brach er ab und sagte gequält: »Nein! Nicht! Die Luft ist mir zu verdorben hier«, ergriff mit bebenden Händen den Hut und stürmte hinaus, wobei das Haarmäuschen auf seinem Kopfe ein entrüstetes Männchen machte.
Furchtsam sahen mich meine Mitschüler an, denn sie begriffen offenbar den Vorgang nicht. Mir aber kam alles schrecklich komisch vor, und ich begann laut zu lachen. Doch die Reue folgte.
Zu Hause saß mein armer Vater am Werktisch, den Nähkloben zwischen den Beinen und zog emsig den Faden durch den Lederbesatz von Hosenträgern. Bei meinem Eintritt in das Zimmer warf er die verhaßte Arbeit hin.
»Na, wie is?« Er stand auf und erwiderte mit diesen Worten meinen langen, trauervollen Blick.
»Gelt ja, immer Hosenträger – Hosenträger – Hosenträger!
Ja, und noch einen Pfennig weniger pro Stück. Man möchte sich aufknüpfen am ersten besten ... aber was will man machen? Junge, Junge!«
»Wie wär's, Vater, wenn du in der Zeitung ...«
»Haha!« Er fiel mir mit Hohnlachen ins Wort. »Junge! Weiter nichts.« Das sagte er bitter und machte eine abwehrende Handbewegung durch die Luft. »Nicht wahr? In den Zeitungen, so etwas wie versteckte Bettelei treiben, damit alle sagen dürfen: dem Faber lauft das Wasser in die Mundwinkel. Niemals! Na, und?«
Er stand vor mir und wartete spöttisch auf einen neuen Einwurf. Eine ferne, leise Angst vor schwerer Verantwortung, die ich durch die unbedachte Antwort an den Religionslehrer auf mich geladen hatte, brachte mich dazu, einen andern Vorschlag zu äußern.
»Oder wie wär's.« sagte ich. »wenn du die Waren weniger genau und aus leichteren Zutaten herstelltest, damit du mit den Fabrikwaren der Geschäfte konkurrieren könntest?«
»Die Waren!« höhnte er. »Wer fragt mich nach Waren!« Dann trat er an seinen Meisterbrief, der eingerahmt an der Wand neben der Tür in dem Laden hing, fuhr über das Glas und murmelte bitter: »Meister. Meister ... ha!«
Darauf wandte er sich wieder zu mir und sprach: »Was ich aus der Hand gebe, muß so redlich und gut sein, wie jedes Wort aus meinem Munde. Wer lumpige Arbeit macht, wird langsam selber ein Lump!« Darauf verfiel er in Brüten.
Meine Mutter aber stand geknickt an der Ofenbank und wagte nicht, die Wassersuppe auf den Tisch zu tragen.
Das Fenster war halb geöffnet. Das Schüttern eines Lastwagens tönte vom Stadtgraben herauf, dumpf und hohl, wie die Bässe eines Trauermarsches. Dazwischen hörte man den leisen Gesang spielender Kinder aus dem Spitalgarten:
Ringel, ringel Kasten,
morgen müss' mer fasten ...
Die Wanduhr tickte hüstelnd in unseren Kummer. Da scholl der schrille Pfiff einer Lokomotive vom Bahnhof herüber.
Mein Vater fuhr herum, stürmte über die Stube und schlug das Fenster zu.
»Ich kann das Pfeifen für meinen Tod nicht leiden«, murmelte er und ging an seinen Platz auf dem Sofa.
Ich aber hätte weinen mögen vor Trauer über meine Voreiligkeit gegen den Pater Neumann.
Eine große Unruhe und unbezwingbare Furcht, als stehe mir die Auflösung und Zerstörung meines ganzen Lebens bevor, bemächtigte sich meiner und trieben mich umher.
Die Straßen des Städtchens wurden mir oft zu eng, und ich irrte draußen in den Feldern umher. Aber überall schreckten mich meine Einbildungen: Die Berge zitterten grau und erschöpft, wie Aschenhaufen in dem Dunst der mittsommerlichen Luft; die Bäume wagten kaum ein Blatt zu wenden, und die Sträucher lauerten wie verendetes Wild auf den Raien. Und einst sah ich fern von mir einen Mann auf der Straße, der blieb von Zeit zu Zeit stehen, fingerte erregt zum Himmel, trabte in komischer Eile ein Stück weiter, den Rücken gekrümmt, als suche er etwas Verlorenes und begann dann über den Graben zu springen. Dabei hörte ich ihn laut rufen, als feuere er sich an, und meckernd lachen. Neugierig spielte ich mich zwischen den Ährengassen heraus auf die Chaussee und sah ihn bald vor mir. Es war der irre Dorn-Schuster. Noch immer sprang er herüber und hinüber. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen weit und erregt, seine Mütze saß ihm im Nacken. Ich rief ihn an. Da stand er still, ging an den nächsten Baum, kratzte mit den Fingernägeln an der Rinde umher und kam dann unvermutet so schnell auf mich zu, daß ich zur Seite treten mußte, damit er mich nicht umrenne. »Kennen Sie mich denn nicht. Herr Dorn? Ich bin ja der Faber-Franz, der Sohn des Sattlermeisters Robert Faber, Robert«, sprach ich. Er richtete sich stier auf und horchte wie auf ein rätselhaftes Geräusch aus der Ferne.
»Aha,« sagte er und streckte mir seine mehlweiße, große Hand hin. »ein Sohn, haha, ein Sohn! Wissen Sie, ein Sohn! – Ein Sohn!«
Er schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Gebärde mit der Hand. Dann schaute er finster auf die Erde und atmete aus wie ein überwachtes Tier. Bald aber erholte er sich zu seiner kindhaften Fröhlichkeit und begann unbändig zu lachen: »Also, hähähä. Sie sind also ein Sohn. Komisch! Das ist wie mit dem Könige von Serbien. Wie der aso die Leute – und auf der Heinoldhöh' stürzte ein Wagen, pardautz, samt 'm Bauer über den Rand nunder. Jaja, der Wind, der Wind! Es is mit 'm Bürgermeester sei'm Hunde auch nie anders. Da hat der Pfarrer gesagt: Recht muß Recht bleiben; aber das Wasser, das Wasser –! Das kümmert sich um nischt. Das geht bergunter. Ja. Na, ich muß gehen. Die Schwester Marianne hat nämlich die Raupen eingesperrt. Adje!«
Er wandte sich ab, sprang zehnmal über einen Straßenstein und tollte dann gestikulierend und lachend in die Stadt zurück, ins Spital.
Mir lösten sich die Knie. Ich mußte mich auf den Grabenrand setzen. Nach langem fiel es auf meine Seele: Wenn es deinem Vater geht wie dem Dorn-Schuster, dann bist du schuld. Du! Du!
Ich blieb erstarrt sitzen, bis die Abendschatten mich nach Hause trieben.
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So kamen die großen Ferien heran.
Drei Tage vor Beginn der Freiwochen, zum Schluß der letzten Unterrichtsstunde, verlas der Direktor die Namen der mit einer Unterstützung Bedachten.
Jener seltsame Instand, in dem man mit Inbrunst die Erfüllung einer Hoffnung ersehnt und sich zugleich sagen muß, daß jede Erwartung töricht sei; jenes Herzklopfen schlotterte in meiner Brust, das heiße, kurze Atemstöße loslöst, während das Denken eine kalte Starre im Bann hält.
Nichts als das Bestreben, unter allen Umständen eine würdige Haltung zu bewahren, verleitete mich, meinen Nachbar zu fragen, wann er abzureisen gedenke, als der Direktor hinter seiner Kopfbedeckung in der Klasse erschien. Ich erhielt keine Antwort. Der Gefragte sah gespannt auf das Katheder, wo Doktor Bode seine Brillengläser putzte und indessen schiefen Kopfes nach dem Bogen schielte, der vor ihm lag. Ich fühlte mich allein und verlassen und glaubte, auf dem Rücken von den schadenfrohen Augen meiner Mitschüler ein Brennen zu spüren. Am den Direktor nicht ansehen zu müssen, ergriff ich in meiner Verlegenheit und Aufgeregtheit ein Tintenglas, neigte es zu mir her und blickte gespannt hinein.
Derweil begann der Mann mit dem Kanzleibart die einleitenden Worte.
»Es gereicht mir zur Freude,« so sprach er etwa, »den meisten von Ihnen eine Freude bereiten zu können. Sie werden heut' die Stipendien erhalten. Fleiß und Bedürftigkeit sind auch diesmal wieder die ausschlaggebenden Faktoren, beziehungsweise Gründe für die Bemessung der Höhe der Unterstützung gewesen. Daß daneben die Führung sehr schwer ins Gewicht gefallen ist, versteht sich von selbst. Nur ein Fall ist bei der diesmaligen Verteilung als Novum vorgekommen. Wir mußten einen Schüler trotz guter äußerer Führung und tadelloser Leistungen wegen einer Gesinnung ausschließen, die die Grenze des Erträglichen fast überschreitet. Nur die Erwägung, daß sie nicht das Produkt freien Willens sei und bei dem Ernst und den guten Anlagen des Betreffenden wohl noch in die rechten Wege einlenken wird, haben das Kollegium bestimmt, es bei dieser geringen Strafe zu belassen.«
Das Hüsteln um mich hatte aufgehört. Die Worte des Direktors verklangen in einer vollkommenen Stille. Wir war es, als sei die Stube von dem Geflatter von Vögeln erfüllt. Ich neigte das Tintenglas immer mehr. Die Tinte floß heraus, über die Pultfläche der Bank auf den Fußboden. Und während ich abwesend auf den glänzenden, schwarzen Streifen vor mir starrte, raste, lachte, fluchte und wimmerte es in mir.
»Faber!« rief der Direktor.
Ich sprang auf.
»Nein, durchaus nicht ... glauben Sie?« stotterte ich.
»Sie vergießen ja die Tinte!« sprach er laut, um mich Verstörten zu sich zu bringen.
»Oh ... vergessen ... bitte ...« Mit Gewalt entriß ich mich endlich dem betäubenden Wirbel meines Innern. Eben setzte um mich ein leises Lachen ein. Da hatte ich meine Sicherheit wieder. Mit kaltem Haß antwortete ich: »Verzeihen Sie, Herr Direktor, ich war auf Ihren Zuruf nicht vorbereitet. Der kleine Schaden, den meine Unachtsamkeit verursachte, läßt sich wohl leicht wieder entfernen.«
Er sah mich forschend an. Ich erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Setzen Sie sich«, sagte er, wühlte hastig in seinen Papieren, stellte die Mütze hier- und dorthin, streifte prüfend mit seinen Augen über mich, als wolle er noch etwas sprechen, raffte aber dann alles zusammen und ging schnell hinaus. In der Tür drehte er sich zurück und rief grell in den Lärm: »Ich bemerke, daß die Stipendien heut' nachmittag um fünf Uhr im Konferenzzimmer ausgezahlt werden.«
Mechanisch, mit überlangen, steifen Armen und klammen Fingern trödelte ich meine Bücher zusammen. Die Gesichter meiner Mitschüler sah ich wie blasse Papierfetzen durch eine graue Luft an mir vorbeihuschen. Unter großem, glücklichem Gelärm leerte sich die Klasse. Ich allein blieb zurück, und weil ich einsah, daß ich so wie so nicht nach Hause gehen könne, stopfte ich die Bücher unter die Bank und trat ans Fenster. In diesem Augenblick begann das Mittagsgeläut auf dem nicht allzu fernen Kirchturme. Die Glockenschläge fuhren wie tönende Kugeln durch die Luft, prasselten auf das hohe Dach des Seminargebäudes und schlugen vor mir auf den schrill besonnten Sand, daß er davon weithin zu erzittern schien. Dieser Sturmwirbel in die dicke, stehende Mittagshitze löste die Starre, die über mir lag. Laufend verlieh ich das Seminar. Noch immer trommelten die Schläge der Glocken in der Höh'. Doch nun war es, als würden sie mir gegen den Rücken geschleudert, daß ich unmöglich langsamer gehen oder stehenbleiben konnte. Die Leute, die mir entgegenkamen, trugen den Kopf geneigt und blinzelten von unten in die grelle Sonne. Manche Männer hielten die Mütze in der Hand und bewegten betend die Lippen. Als ich das sah, kam jäher Zorn über mich. Sie haben meinen hungernden Eltern das Brot vom Munde gerissen, murmelte ich vor mir hin, und sagen, sie tun es im Namen Gottes. Eines sauberen Gottes.
Dann riß ich den Hut vom Kopfe und stürmte weiter zwischen Obstgärten hin und war bald im Felde. Dort hob ich den Blick und sah einen Bauer vor mir gehen. Er hatte die kurze Jacke ausgezogen und trug sie und ein Bündel in einem rotkarierten Tuche am Stock auf der Achsel. Bei seinen langsamen, watenden Schritten wetzten die Schäfte seiner langen Stiefel laut aneinander. Der Anblick solch rauher Gelassenheit gab mir eine gewisse Ruhe zurück, und ich sagte zu mir, daß dies Rasen zu nichts führe. Links vom Wege stieg der sanfte Rücken der Kaiserhöh' an, auf dem ein verknorrter Feldbirnbaum stand. Dorthin lenkte ich meine Schritte und warf mich lang in seinen Schatten.
Nach kurzer Zeit fiel eine solche Trauer und Mutlosigkeit über mich, daß ich mein Gesicht in das Gras drücken und schluchzend weinen mußte, soviel ich mich dagegen wehren mochte. Der Gott meiner Kindheit lag zerschlagen und entweiht von jenen, die ihn mir gepredigt hatten. Auch der Allgeist Willmanns, an den ich mich mit Staunen und geheimer Scheu geschmiegt, hatte mich verlassen. Ohne Hilfe und Zuflucht lag ich wie vertrieben in der Öde. Hingehen und mir den Anschein geben, als sei nichts gewesen? Um alles in der Welt nicht mehr in die Feigheit zurückkriechen, die mich um der Kindesliebe willen in den letzten Wochen entwürdigt hatte! Ich mußte heraus aus dem Berufe, der mich erniedrigte und zerstörte und den Glauben an die Göttlichkeit einer Macht verlangte, der es nur um bedingungslose Unterwerfung, nie aber um Wahrheit und den aufrechten Frieden meiner Seele zu tun war. Kaum hatte sich dieser Gedanke in mir zusammengeschoben, so wich aller Traum und Schimmer, alles ahnungsvolle Empfinden einer großen und guten Ordnung der Welt von mir, und ich sah mich in einem erbarmungslosen Leben, wo nur Macht gegen Macht steht, rücksichtsloser Kampf tobt, Grausamkeit, Härte und Verlogenheit. Die Erschütterung meines Gemütes war so stark, daß ich aufspringen mußte, damit es mich nicht erwürge.
Lange stand ich so an den Baum gelehnt, und die feste Erde um mich wogte wie ein Meer. Ich aber sah auf das entheiligte Leben mit starren Augen, über die langsam die letzten Tränen sanken.
Ihr habt meinen hungernden Eltern das Brot vom Munde gerissen, murmelte ich fortwährend vor mir hin und wußte kaum, was ich sagte, denn ich war wie in dumpfer Trunkenheit.
Endlich wich der Schmerz von mir. Jene grausame Gelassenheit kam über mich, die aus großer Erschöpfung steigt.
Ich werde hingehen, sann ich kühl, und meinen Vater aufreißen, wie es mich aufgerissen hat, daß er die Scheu vor dieser großen Lüge verliert und sieht, es gibt keinen anderen Glauben als den an uns. Dann wird er alles verkaufen, was ihm noch etwa geblieben ist, und wir gehen in ein neues Leben.
Dem Pater Neumann aber will ich erst seine Lehre vor die Füße werfen.
Damit war ich fertig. Ich hob meine Augen und sah in die Runde. Die Sonne lag längst hinter den Bergen. Da und dort richtete sich schwerfällig ein Mann aus dunklen Ährenweiten auf, als steige er krumm aus der Erde. Die Männer riefen sich rauh eine gute Nacht zu und verschwanden langsam gegen das nahe Dorf hin in den Schatten der Dämmerung. Von der Stadt her stöhnte die letzte Dampfpfeife.
Ich schritt den Rain nach der Straße hinunter und strebte der Stadt zu.
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Die Straßen Heisterbergs waren finster. Die Lichter in den Laternen sahen aus wie blutige Augäpfel in Käfigen aufgehängt. Rote, lange Fäden gingen von ihnen aus und verloren sich im Schwarzen. Die winzigen Ladenklingeln pinkten, Türen knarrten auf und polterten zu, die Leute wuselten matt und zwecklos umher. Ich hatte die Empfindung, ganz hoch und dünn zu sein und kam nur mit großer Beherrschung vorwärts. Trotzdem rannte ich bald an diesen und jenen an und hörte hinter mir entrüstete Ausrufe »über den besoffenen Kerl«. Endlich erblickte ich in einem kleinen Schaufenster Peitschen, Schabracken, in der Mitte einen ältlichen Reitsattel, Strumpfbänder und Pferdezäume. Ich stand vor dem Hause des Sattlermeisters Günzel an der Ecke der Balkengasse, in dem Pater Neumann wohnte. Aus irgendeinem Grunde betrat ich das Gebäude durch die Seitentür und befand mich in einem engen Flur, den der Geruch von Leder, Lack und Schwärze erfüllte. Dies weckte in mir den Gedanken an die zerstörte Existenz meines Vaters. Aufgepeitscht und aufs neue erbittert, stieg ich die Treppe hinauf. Sie wollte kein Ende nehmen und drehte sich immerfort durch einen fast finstern Schacht. Zuletzt stand ich noch vor einer Tür. Ludmilla Brendel, Damenschneiderin, lautete die verschnörkelte Aufschrift. Gegenüber, den schmalen Flur hin, hing ein Briefkasten neben der Tür. Darunter befand sich ein Schildchen mit den zwei Worten: Neumann, Religionslehrer. Ich zog tief Atem, rückte mich in die Höh' und stieß bann energisch den Drücker in das Porzellannäpfchen.
Der Schein der Flurlampe fiel über mich.
Da stand der Verhaßte auch schon vor mir. Als er mich starr und finster Aufgerichteten sah, stutzte er und erbleichte.
Mit kaltem Lächeln grüßte ich: »Guten Abend!«
»In Ewigkeit«, antwortete er schwach, ermannte sich aber und fragte freundlich: »Was wollen Sie, Faber?«
»Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, antwortete ich mit meiner ausgetrockneten, harten Stimme laut.
»Kommen Sie in einer Stunde wieder«, beschied er mich kurz, schlug die Tür zu und schloß sie ab.
Im Augenblick kam Wut in mir auf, und ich war versucht, die Tür mit den Fäusten einzuschlagen. Aber im nächsten Moment lächelte ich über mich. Ich krieg' dich heute abend schon noch, Freundchen, murmelte ich böse vor mir hin, tastete mich bis in die Mitte der Treppe und setzte mich dort auf eine Stufe, um zu warten, bis die Stunde vorbei sei. Da konnte ich ihn außerdem sicher abfangen, wenn er sich drücken wollte. Doch wie ich so eine Weile in dem halben Dunkel saß, kam die Müdigkeit schwer über mich. Um den Schlaf zu verscheuchen, rief ich mir alles ins Gedächtnis zurück, was ich sagen wollte und murmelte es zwischen meinen gespreizten Beinen gegen die Diele: Noch Origines wußte nichts von der Hölle, nur von Gewissensqualen ... Paulus, der Apostel, warnt in Kolosser zwei, achtzehn, vor dem Glauben an Engel... Es war, als schraube der Schlaf schmerzhaft mein Hirn ein; aber ich riß mich auf und begann, die Geschichte von den Dekretalen des Isidorus zu sagen. Mehr weiß ich nicht.
Nach vielleicht einer halben Stunde fühlte ich einen Druck auf meiner Achsel. Als ich die Augen aufschlug, gewahrte ich zunächst nichts als ein gelb-rötliches Schummern um mich. Ich versuchte vergeblich, es zu durchdringen und neigte dann den Kopf, um weiterzuschlafen. »Herr Faber,« sagte da eine feine, ängstliche Mädchenstimme, »was machen Sie denn hier?« Nun wurde ich des Schlafes Herr und schlug die Augen auf. Vor mir stand Wally Göppert, neigte sich so tief zu mir herab, daß der Rand ihres Strohhutes meine Stirn berührte und fragte bekümmert: »Sind Sie denn krank?« Ich konnte nicht begreifen, was geschehen sei, sah mich erstaunt um, und als ich neben mir die Traillen des Treppengeländers erblickte, erfaßte ich ungefähr die Ereignisse, die mich hierhergeführt hatten. »Ich warte«, sagte ich dumpf. »Was sagten Sie?« fragte das liebe, blasse Mädchen mit fliegender Stimme und neigte sich wieder zu mir. Da traf mich der Geruch ihres Haares. Eine heiße, schmerzvolle Betörung kam über mich. Denn ich dachte, sie sei mir nachgeschlichen und wolle mich nun erretten. »Wally,« flüsterte ich, »liebe Wally!« und streckte ihr verlangend beide Hände hin. Sie erfaßte meine Finger, zog mich sanft nach dem Ausgange zu und hauchte in großer Aufregung: »Um Gottes willen, wenn uns jemand hier trifft!« Eine dunkle Überzeugung, daß ich hierbleiben müsse, lehnte mich zurück. Da näherten sich droben im Flur hinter einer Tür Schritte. In höchstem Schrecken sprach sie: »Es kommt jemand!« und eilte die Treppe hinunter. Ich taumelte ihr nach. Als mich auf der Straße die kühlere Nachtluft anwehte, wurde ich ganz wach und wußte, daß ich meinem Vorsatz untreu geworden sei. Am liebsten wäre ich weggelaufen und hätte mich wieder auf die Lauer gelegt. Aber ein Bangen schnürte meine Brust ein. und so blieb ich an der Seite des Mädchens. Wir gingen den dunklen Stadtgraben hin und wider. Keines wagte ein Wort zu sprechen. Ich hörte auch sie von Zeit zu Zeit schwer atmen. Plötzlich rief sie: »Da fällt ein Stern!« und streckte die Hand nach dem Nachthimmel aus.
Ich sagte: »Ja, es war ein weißer!« und blickte wie trunken auch hinauf. Dann begann sie mit weicher, ruhiger Stimme zu erzählen, wie sie auf dem Wege zu ihrer Schneiderin mich anfangs nicht recht erkannt und für einen Trunkenen gehalten, nach dem Verlassen der Brendelschen Wohnung sich aber überzeugt habe, daß ich es sei, der, wohl von plötzlichem Unwohlsein befallen, diesen absonderlichen Ort aufgesucht habe, um sich zu erholen. Die seltsamen Worte, die ich im Schlaf vor mich hingesprochen, hatten sie besonders erschreckt.
Anfangs wiegte ich mich auf dem Tonfall ihrer stillen, sanften Stimme, ohne eigentlich recht dem Sinn der Worte zu lauschen. Je mehr aber ihre Erzählung fortschritt, desto mehr kam der kalte, unerbittliche Schmerz über mich, und als sie am Ende nach der Bedeutung meines Traumredens fragte, stand es kraß vor mir: ich müsse nach Hause, meinen Vater aufreißen und mit ihm in ein neues Leben gehen. Wir waren durch den Torbogen an der Ritterstraße geschritten und befanden uns am Anfange dieses kurzen, dunklen Schlundes. Mein Gram und der Schmerz der ersten Liebe, die Ersehnte, kaum gewonnen, wieder verlassen zu müssen, stürzten mich aufs neue in einen bitteren Rausch, und unvermutet ergriff ich ihre Hand, bedeckte sie mit Küssen und stammelte irgendwelche Worte, ließ sie stehen und lief dem Ringe zu, der mit seiner Ecklaterne fahl in die Gasse hereinblinzte.
In wenigen Augenblicken trabte ich schon den Burgberg hinunter.
In der Stube meiner Eltern kam ich wieder zu mir.
Meine Mutter bemühte sich, mich Erschöpften aufzurichten, der auf dem Schemel am Werktisch zusammengekauert saß. Ich konnte nicht sprechen und strengte mich fortwährend an, den Hut zu erlangen, der neben meinen Füßen lag. Die Hände meiner Mutter zitterten, und sie drang mit aller schonenden Liebe in mich, zu sagen, was mir fehle.
Mein Vater stand am Fenster: steif, stumm und bleich. »Nun, was hat's also?« brach er endlich los.
»Nichts hat's – nichts – nichts – rein gar nichts!« antwortete ich dumpf.
»Aha!« sagte er nach einer Pause, kam mit langen, leisen Schritten auf mich zu, blieb vor mir stehen und musterte mich durchdringend vom Kopf bis zu den Füßen. »Siehst du.« rief er dann mit wankender Stimme an mir vorüber der Mutter zu, »so muß es kommen! So – so – man hat ja einen breiten Rücken. Nun ladet der Junge noch seinen Pack darauf. – – – Zum Donnerwetter, also was gibts?«
Drohend wartete er eine Weile auf Antwort.
Ich konnte nur schlingen und bebte am ganzen Leibe. Da sah ich, daß er ein langes Messer vom Tisch raffte. Ich sprang auf. Er aber packte mich an der Brust, rüttelte mich und sprach so nahe in mein Gesicht, daß mich sein kochender Atem ganz übergoß: »Rede! Auf der Stelle! Und wenn du, Hund, Schande in mein Haus gebracht hast, so stoß' ich dir das Messer zwischen die Rippen. – Nun, wird's?!«
»Wenn du mich nicht losläßt, schon gar nicht«, stotterte ich.
Er ließ mich fahren, trat zurück und rief: »Haha, nun wird's gut! Also doch, wie?«
Ich aber sank wieder auf den Schemel. Mein Herz wogte müde, und mein Leben lag wie ein verwüstetes Land in mir. Ich war schwach wie ein Kind, das eben die Krämpfe verlassen haben.
Warum stirbt man in solchen Momenten nicht, da alle innersten Lichter erlöschen.
Stier und tonlos, die Dielen mit leeren Augen betrachtend, sagte ich endlich: »... Du hast recht. Vater ... Hunde, ja Hunde ... es ist alles Lüge, alles ... der Gott der Kirche ist ein Wahn ...«
Und obwohl ich das heute schon so oft gesagt hatte, kam jetzt, da ich es vor meinen Eltern wiederholte, eine verzweifelte Angst über mich, und ich schrie qualvoll: »Wir müssen den wahren Gott suchen!«
Dann sank mir der Kopf auf die Brust, und ich fühlte auf meinen Händen, daß ich weinte.
Der Vater trat herzu und hob mir sanft das Gesicht herauf.
»Franz. um Gottes willen, rede«, sagte er weich. Aus seinem Antlitz war alles Blut gewichen, und feine schmalgenagten Lippen bebten.
»Ich bin nicht schlecht. Vater.« sprach ich schwach, »und wenn ihr ein wenig Geduld mit mir habt, will ich alles sagen.«
Der Vater trat zurück und lehnte sich mit aufgestützten Armen so an den Tisch, daß er das Licht der Lampe verdeckte. Ich war froh, daß er mein Gesicht nicht sehen konnte.
Dann begann ich zu erzählen.
Mein Vater rührte sich nicht. Seine Gestalt schien sich unhörbar auseinanderzurecken.
Als ich von meiner Sehnsucht, seiner Bedrängnis zu helfen, redete, breitete er die Arme nach mir aus und rief erregt: »Kind! Mein Kind!« Aber er ließ sie bald wieder sinken, neigte den Kopf so tief, daß sein Kinn auf die Brust stieß und murmelte: »Weiter! Weiter!«
Es wurde wie ein Eisgang in mir und alles strömte heraus, was mich bis zur Zerstörung gepeinigt hatte, nur von Willmann und Wally Göppert schwieg ich. Dann war ich am Ende.
Mein Vater hing zusammengeschrumpft am Tisch und hielt seine Augen auf etwas Unsichtbares gerichtet. Das schien ganz fern zu liegen. Dann schüttelte er sein Haupt, und der Flug eines bitteren Lächelns zerknitterte seine Züge. Er hob seine Faust vor die Augen, öffnete und schlug sie wieder ein. Dabei begann er, das Ferne anzureden:
»O ja, die schlügen wohl noch, o ja! – Aber, was würdet ihr dann sagen, ihr zwei toten Augen, die nicht tot sind!? Ich weiß, ihr seht alles. Nein, ich hab' dir gefolgt, ich hab' sie dir nicht zugedrückt, und überall gehen sie mit mir wie Engel ... wie Engel? ... doch nun ... dein Herze muß das wohl wissen. – – Aber, müssen die Toten nicht tot sein, und wären's Mütter? Muß mein Leben immer über deinen Sarg stolpern? Und es stolpert, es zerbricht!
Siehst du's denn nicht, Mutter, nun sind sie über meinem Kinde her. Mach' deine toten Augen zu! Ein einziges Mal mach' sie zu, einen Tag und eine Nacht! Ich bitt' dich um alles in der Welt!« Er hatte zwei springende Schritte in die Mitte der Stube getan, toll seine Faust in die Luft gebohrt, war wieder starr geworden, und aus den Schächten seiner Vergangenheit kam es wieder hervor: »... sengen, morden, brennen – denn das Gericht ist für Lumpen – es würde so. Ein Rebeller, wie mein Vater, und mit Schande zugedeckt ...« Plötzlich stockte er, sah sich in höchster Aufgeregtheit um und stürzte, wo er stand, auf die Knie, hob seine ausgezehrten braunen Hände betend empor wie ein Kind und rief in inbrünstiger Qual:
»Du meine Mutter, du hast mich im Leibe getragen, hilf mir! Mich packt die Wut! Es wird mir rot vor den Augen!«
Meine Mutter war von der Ofenbank gerutscht und lag, die Hände über dem Kopf gefaltet, auf der Diele.
Ich sprang in höchster Bestürzung auf.
»Vater!« hauchte ich in Sorge.
Da riß es ihm den Kopf herauf. Graue Scham im Gesicht, arbeitete er sich auf die Füße. Als er die schluchzend daliegende Mutter gewahrte, trat er zurück, beschattete seine Augen mit der Hand, stand eine Weile überlegend und drückte sich dann stumm wie ein Verurteilter durch die Tür.
Hinter gütigem Zuspruch hob ich meine Mutter auf. Ihr Leib war welk, ihr Gesicht eingefallen. Während ich sie zum Sofa gängelte, murmelte sie fortwährend: »Nun hab' ich keine Hoffnung mehr ... nun hab' ich keine Hoffnung mehr ...«
Gegen meinen Kuß wehrte sie sich mit steifen Armen, zusammengepreßten Lippen und großen, verzweifelten Augen. Sie bog den Kopf in den Nacken und stammelte kämpfend: »... Nein! ... Nicht! Nicht!! ...«
Ich war selbst am Umfallen und wankte blöde und leer ins Bett.
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Solange die Menschen Brot essen, bleibt ihr Leben irrational, und wenn ich die Welt meines Gemütes mit der Laterne meines Denkens durchleuchte, so werden für alle Zeit weite Strecken und gerade jene sich meinen Begriffen entziehen, in denen die Wurzeln unseres Schicksals liegen. Das Ich, das wir kennen, ist nicht identisch mit dem Ich, wie es ist; denn das Leben des Menschen verhält sich zu seinem Dasein wie die Bildsäule zu dem Berg, aus dessen Marmorbrüchen sie stammt. Aus dieser Erkenntnis rührt alle Hoffnung und Verzweiflung der Menschen.
Als ich am Morgen erwachte, war es mir, als sei mein Dasein zu Schutt zerschlagen. Ich fand mich im zerwühlten Bett zusammengeringelt wie ein verwundetes Tier. Langsam, unter Schmerzen, zog ich meinen Leib auseinander. Da drang das ganze Leid meines jungen Lebens auf mich ein. und ich empfand nicht anders, als strecke ich mich in Martern hinein. Eilig schob ich mich deswegen wieder zusammen, die Knie unters Kinn, wie Kinder im Mutterleibe ruhen. Meine Seele suchte Schutz beim Körper. So hätte ich vielleicht den ganzen Tag gelegen, mit leeren Augen die gegenüberliegende Wand anstierend, wenn nicht der Schlag der Turmuhr an mein Fenster gefahren wäre, mich an meine Pflicht gemahnend. Ich stand auf und sagte mir, daß ich mich um der Eltern willen zusammenraffen müsse. Das war der dünne Faden, an dem ich mich in den Tag zurückgriff. Sonst hatte mich jede Widerstandskraft verlassen. Wie einer, der mit nacktem Leibe einem verheerenden Brande entronnen ist, kam ich in die Stube meiner Eltern. Auch sie traf ich, mit Handgriffen gegen eine Betäubung ankämpfend. Die Mutter diente, umständlich mit den Füßen die Schritte suchend, um den Ofen. Der Vater bastelte versunken am Werktisch. Bei meinem Gruß huschte ein Lächeln schwach nestelnd an den Mundwinkeln meiner Mutter auf, mein Vater sprang nervös-hastig von seinem Schemel und kam mir entgegen.
»Na, guten Morgen,« rief er mit abgerungener Heiterkeit und gab mir die Hand, »auch guten Morgen. Kind!«
Ich habe wohl die Trauer und Besorgnis wegen seiner lauten Herzlichkeit nicht ganz unterdrücken können, denn er schüttelte den Kopf und sagte: »Ach, ich bin alt. Das muß man sich eben endlich eingestehen. Wenn man jung ist, ängstet man sich in Träumen. Das Alter hat auch schwere Träume im Wachen; aber die gehn vorüber. Es geht überhaupt.«
Dann trat er zu meiner Mutter, klopfte sie weich auf die Schulter und sprach mit Jucken im Gesicht: »Kümmert euch bloß nicht um mich! Ich war öfter grob wie Bohnenstroh, ich seh's ein. Aber nu wird's anders. Du vergehst mir ja sonst ganz. Mutter! So wer'n wir's machen: gut zu 'nander sein und fester zusammenrücken.
Und du,« wandte er sich von neuem an mich, »wisch das Wort aus dem Kopf. Du weißt, welches. Ich habe es aus meinen Ohren gewischt. Das mit dem Gelde muß ertragen werden wie schlechtes Wetter.«
Bei diesen Worten kehrte mir die Mutter ihr entfärbtes Gesicht zu und sah mich furchtsam an. Deswegen fand ich nicht den Mut, mein Heiligstes vor ihnen zu retten, sondern senkte den Kopf und schwieg. So, den Kopf geneigt und schweigend saß ich auch die letzten Stunden bis zu den Ferien in der Klasse und duldete das Getriebe des Unterrichts, das wie belangloses Gesurr um mich lief. Die Lehrer ließen mich in meiner Abgeschiedenheit sitzen, nur der Pater Neumann fragte mich gleich am nächsten Tage, was ich am Abend bei ihm gewollt habe.
»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete ich und sah gleichgültig vor mich hin.
Der Geistliche forschte lange in meinem Gesicht und sagte dann verwundert, aber doch mit einem leisen Beben in der Stimme. Wohl wegen meiner stillen Verstörtheit: »Komisch!« und bewegte wiegend seinen Kopf. »Ja, es ist komisch«, antwortete ich und versank wieder in stumme Verschlossenheit. Denn meine Entwickelung schien abgebrochen und zerschlagen zu sein. Von all den inneren Erleuchtungen und leidenschaftlich heißem Planen waren nichts übrig geblieben als leise Geräusche, die mich weltfern, gleichsam außer Hörweite umschwebten: Klopfen, Hämmern. Fallen wie von Brettern, und die nur wahrzunehmen waren, wenn ich die Augen eindrückte und gleichsam in mich zurückkroch. So ging und saß ich umher wie im Schlafwandeln. Meine Eltern sahen diesem seltsamen Gebaren ratlos zu, hüteten sich aber aus Takt, mir mit Fragen und voreiliger Sorge wehe zu tun. Mich hielt Scheu ab, ihren notvollen Zustand durch das Geständnis meiner Lage zu erschweren, weil ich mich schuldig an dem Zusammenbruch meiner Eltern fühlte. Eine Seele gab es, die sich meiner Verfinsterung tätig angenommen und dies Kauern an den verworrenen Straßen meines Lebens in klare Einsicht umgewandelt hätte: Das war der alte Willmann.
Aber seit dem Tage, an dem ich gegen den Pater Neumann unrechten Gebrauch von meinem verborgenen Wissen gemacht und damit das feierliche Versprechen an Willmann gebrochen hatte, betrachtete ich nicht bloß den Weg zur Turmpforte für mich auf immer verrammelt, sondern ich arbeitete mich endlich zu dem Entschluß durch, solange alle Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Welt, alles Suchen nach Wahrheit zu unterlassen, bis ich die Schuld gegen meine Eltern und die Untreue gegen den ehrwürdigen Greis abgebüßt hätte. Nichts sollte mehr in mir Raum haben als die Sorge für meine Eltern. Durch dieses selbstgeschaffene Gelübde hoffte ich auch den Allgeist Willmanns Zu versöhnen, gegen den ich freventlich gesündigt hatte. Ich glaubte seine Nähe oft zu fühlen im Brausen des Windes, in einem fast redenden Rauschen der Bäume, in einem großen Schatten, den ich, vom Schlafe auffahrend, neben meinem Bett empfand, und nahm diese Beklemmungen und rätselhaften Heimsuchungen für Beweise seines Daseins. So verwandelte sich unmerklich die stille Verlorenheit meiner Seele in stille, ahnungsvolle Sicherheit, und während ich noch als Unwürdiger und Abgedrängter trauerte, näherte ich mich, ohne es zu wissen, schon schüchtern und furchtsam meinem Gott. Allein das Schicksal meiner Eltern war zu weit gediehen. Fall folgte auf Fall, und der Fortgang dieser geheimen Bildung wurde schon im Anfang wieder in Frage gestellt.
Meine Mutter schien sich am ehesten von uns allen der Folgen jenes Abends erwehrt zu haben, der keinen Zweifel mehr zuließ, welche schicksalsvollen Verkettungen das Glück von unserem Hause fernhielten. Ihre Augen glommen oft in einem Glanz, der mich restlos erfreut hätte, wäre er nicht manchmal in starres Brennen übergegangen. In solchen Momenten faßten ihre Hände, was sie auch hielt, krampfhaft und drohend wie eine Waffe. Aber schnell, wie diese schreckhafte Veränderung kam, ging sie auch wieder, und ich legte ihr leine Bedeutung bei; denn eine obwohl umwölkte, doch tiefe Liebe und Zärtlichkeit verschönte dann tagelang ihr emsiges Schaffen.
Nach einer schlaflosen Nacht trat ich ungewöhnlich früh in unsere Wohnstube. Das Grau des ersten Lichtes lag wie ein schwerer Dunst in dem Gemach, daß die Gegenstände nur schwach hervortraten. Ich setzte mich an Vaters Platz auf das Sofa und sah zum Fenster hinaus, um das Kommen des Morgens zu beobachten, der wie ein schwacher Feuerbrodem hinter den Tüchern rot zu rauchen begann. Eben sann ich darüber nach, ob die Natur oder meine zerwühlte Nacht dem Morgen diese schwere Stimmung gegeben habe, als aus der Gegend des väterlichen Werktisches ein Seufzen klang, leise und zäh, wie es manchmal aus dem Munde angstvoll Träumender kommt. Ich sah gespannt hin, gewahrte aber nichts als die gerade Linie der Werkplatte und darüber die Schemen irgendwelcher Geräte. Deswegen glaubte ich, dies niedergezwungene Stöhnen bewußtlos selbst ausgestoßen zu haben und versuchte, zu meiner Beruhigung, es ein zweites Wal hervorzubringen. Wie ich mich auch bemühte, der Ton wurde jedesmal rauher und tiefer. Das wehe Vibrieren dieses langen, müden Atemzuges gelang mir nicht: Also rührte der Laut doch nicht von mir her. Ich stand auf und sah mich mit einer Ungründlichkeit in der Stube um, die mir die Wahrnehmung als Täuschung bestätigen sollte. Denn das Grübeln einer langen Nacht macht unlustig zu neuen seelischen Aufregungen. Ein leerer Breitwagen fuhr polternd den Stadtgraben hin, und seine Eisenteile klirrten. Ich war im Begriff, an das Fenster zu treten, um in flüchtender Neugier zu sehen, wer so zeitig und schnell fahre, als kennte ich alle Fuhrleute der Stadt. Bei den ersten Schlitten stieß ich an einen weichen Ballen, und als ich mich niederbeugte, erkannte ich die zusammengekauerte Gestalt meiner Mutter, die vor dem Arbeitsschemel des Vaters hockte. Sie wandte mir ihr übernächtigtes Gesicht einen Augenblick zu und lieh es dann langsam wie vor großer Ermattung wieder zwischen die Hände auf den Sitz des Schemels sinken.
»Guten Morgen, Mutter,« redete ich sie an, als ich mich von der Überraschung erholt hatte, »warum stehst du denn so zeitig auf? Es ist ja noch grauer Morgen.« Eine tiefe Stille nahm meine Worte auf. Endlich antwortete meine Mutter: »Nein, nein, es ist Nacht. Tiefe Nacht.« Sie redete tonlos, wie ein unabwendbares Geschick in uns laut wird.
Trotzdem ich sofort wußte, daß ihre Worte einen tieferen Sinn hatten, lautete mein Trost: »Aber Mutter! Dort ist der Morgen, rauchrot wie ein Kohlenfeuer!«
Es dauerte wieder eine Weile, ehe sie antwortete:
»Mein Kind, es ist Nacht. Nacht. Du müßt's doch auch wissen, du, denn du hast die Nacht auch.«
»Mutter, du bist krank,« sagte ich nun hastig, »ich werde den Vater rufen.«
Ihre Augen bekamen den Glanz einer frischen Wunde. »Ja, ja, geh'!« sprach sie strafend, »seit dem Abend weiß ich's ja, daß du es verstehst, deinem Vater weh zu tun.«
»Aber, Gott im Himmel, Mutter!...« rief ich bestürzt.
»Was sagst du da?« Mit dieser Frage schnitt sie mir die Worte ab, und jäh kam in ihr Gesicht ein heißes Leben. Sie hob im Schwung eines einsetzenden Sturmes beschwörend ihre Hand. Doch nur einen Augenblick verharrte sie so. Dann sank ihr Arm wieder fallend auf den Sitz des Schemels, und sie kauerte sich hin wie vorher.
»Ach, wenn doch ein Mensch wär', zu dem ich reden könnte«, sagte sie in ringendem Aufatmen.
»Mutter, bin ich dir nicht gut genug?« fragte ich unsicher. »Du!« sagte sie und sah mich mit beängstigender Starrheit an, »ich red' anders, und du red'st anders. Wir verstehen uns nicht mehr ... aber ich hör' doch nicht auf.«
Dann hob sie ihr Haupt und wandte das Gesicht dem Fenster zu, durch das eben der erste Strom des vollen Lichtes floß. In diesem roten Glanz verharrte sie solange, bis ein entrücktes Lächeln ihre Züge verklärte, eine Hingenommenheit über sie kam, daß offenbar nichts vor ihrer Seele stand, als ihre geheime Sehnsucht. Diese flüsterte sie bewußtlos ins Licht: »... er rang mit dem Engel, bis die Morgenröte heraufstieg ... wieder vorbei ... aber in Gott sind drei Personen, und das waren erst zwei Nächte... Warum ist mein Glauben so klein! Es ist ja noch der heilige Geist, der mit den linden, weißen Flügeln ... ja, ja; der wird's machen.«
Ich erkannte, daß ihr Glaube geschont werden müsse, um ihr die letzte Hoffnung nicht zu zerstören. Deswegen ließ ich mich neben ihr nieder, die immer noch, ohne mich zu beachten, mit ihrer Sorge redete. Behutsam legte ich meinen Arm um sie und näherte das Gesicht dem ihren, mit einem Kuß den Bann zu brechen, dem sie verfallen war. Obwohl ihre Augen geschlossen blieben, mußte sie meine Absicht gemerkt haben, denn sie wich zurück und sagte plötzlich mit rauher Stimme zu mir: »O ja, ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Deswegen wird mich Gott auch erhören. Für wen bet' ich denn, wie für dich und Vater?«
»Für mich?« fragte ich. »Ja.« antwortete sie. »seit dem bösen Abend weiß ich, daß auch du in ihrer Macht bist.« Ich ahnte, daß sie die Großmutter meinte, wagte aber nicht zu widersprechen, um sie nicht noch mehr zu reizen, sondern sah sie nur lächelnd an und schüttelte den Kopf. Allein ihr Auge bekam doch jenen bohrenden Blick, der so schrecklich wirkte, und um mich zu überzeugen, sprach sie über das geheime Ringen mit dem Gespenst unserer Familie, wie sie mit ihrem Gebet alle Zugänge unseres Hauses verrammelt, die Luft mit ihrem reinen Atem gesättigt und tödlich für böse Geister gemacht habe. Der Hexe mit den unsterblichen Augen seien die Flügel aus dem Rücken, die Zunge aus dem Munde gerissen, in allen Winkeln des Hauses keime ein Segen. Aber nun, da die Teufelin unserer Familie äußerlich nichts mehr anhaben könne, sei sie, zum bösen Geist geworden, auf die List verfallen, uns innerlich zu schaden. Nur die schreckliche Hausdrude habe mich zu der Untat des schweren Abends verstrickt und löse die stolze Seele des Vaters auf. Meine Mutter sprach alles leise, heiß, mit einem Zittern der Angst und des Hasses in der Stimme. Sie war ganz in die heidnischen Grundwasser des Christentums, in den Dämonenglauben untergetaucht und trug im Gesicht die Züge einer Märtyrerin. Nicht dieser Anblick allein, wie eine heilige Seele von unbegrenzter Liebe aus ihren stillen Kreisen gerissen, in Flackern und Zucken umhergetrieben wurde, sondern vor allem die Erkenntnis erschütterte mich, daß meine Mutter eigentlich gegen keinen Wahn, nein, gegen Tatsachen rang. Denn von den Totenhügeln meiner Ahnen strich wirklich der Wind, der unser Haus in Trümmer legte. »Mutter!« sagte ich verstört und muß mich wohl vorgeneigt haben, so daß sie glauben mochte, ich wolle abermals den Versuch machen, ihren Mund im Kuß zu berühren, denn sie schob mich zurück und beteuerte, solange eine Liebkosung von mir entbehren zu müssen, bis ich durch inbrünstiges Gebet wieder meine Lippen geheiligt habe, die von den gotteslästerlichen Worten des bösen Abends entweiht worden seien.
»Denn küssest du mich so,« sagte sie, »dann legst du deinen Unsegen auf meinen Mund und mein Gebet, wenn es herfürgeht, verliert alle Kraft der Hilfe.«
Sie sah wohl meine tiefe Erschütterung und empfand mein geheimes Einverständnis mit ihr, und so fühlte ich mich plötzlich von ihrem Verlangen innerlich bedrängt, der Not ihrer Liebe beizustehen. Deshalb klang ihre Frage wie ein Jubel: »Willst du mit mir beten, mein Junge, mein lieber?« – »Aus vollem, ehrlichem Herzen?« fragte sie noch einmal. – »Ja, ja, alles, alles, was du willst«, antwortete ich.
Dann knieten wir nebeneinander wie in den Tagen meiner frühen Kindheit, ich, der verirrte Wahrheitssucher, und meine beglückte Mutter, und beteten flüsternd, um den Vater nicht zu wecken, und über mich kam, soviel ich auch innerlich dagegen kämpfte, doch ein ganz schwaches Zittern der Inbrunst, ein allerletzter Schimmer von dem Trümmerfelde meines vernichteten Kinderglaubens.
Als wir geendet hatten, umarmte mich Mutter in solcher Freude, wie wenn ihr eben ein neues Leben geschenkt worden sei und ging gleich so frisch an ihr Tagewerk, als habe sie ein langer, gnädiger Schlaf gestärkt. Allein unsere Seele kennt keine Klugheit; sie will selbst Barmherzigkeit und Liebe nicht gelten lassen, wenn es mit dem Verzicht auf eine heilige Notwendigkeit bezahlt werden muß. Und wenn ich mir auch unzählige Male bewies, daß auch der Stärkste nicht hätte anders handeln dürfen, wie ich gegen meine Mutter gehandelt hatte: ein schwerer, dumpfer Rest blieb in mir, der mich des erneuten Vergehens gegen den hohen Allgeist anklagte. Doch trotz dieser Anfechtungen blieb ich dem einmal gefaßten Entschluß treu, solange meines Lebens gar nicht zu achten, bis ich meinen Eltern aus jener Not geholfen hatte, in die sie durch mich geraten waren. Alles, was ich tun konnte, um das Andenken an Willmanns Güte in mir nicht zu Tode zu kränken und wenigstens in der Seele ein enges Pförtchen zur Freiheit offen zu halten, bestand darin, daß ich die Gebete, zu denen mich Mutter nun fast alle Tage zwang, im stillen jenem unbekannten Gotte weihte und ihm alle Schmerzen opferte, die ich darüber empfand. Diesen gleichen verborgenen Diebstahl beging ich auch durch den Empfang der Beichte und des Abendmahls in seinem Namen. Wohl hatte ich viele sonnenlose Tage und düstere Nächte deswegen, aber ich schmiegte mich dennoch ganz vor die Füße meiner Eltern.
An einem Morgen kam ich mit meiner Mutter aus der Frühmesse, ich bedrückt und mit niedergeschlagenen Augen, wie einer, den das böse Gewissen belastet ..., sie schlüpfte leicht und eilig einen Schritt vor mir her. Als wir aus der Torfahrt des Wartturmes heraustraten, fiel eine rote Nelke aus der Höhe vor meine Füße nieder. Ohne nach dem Spender zu spähen, bückte ich mich und hob sie unbemerkt auf. Niemand konnte sie geworfen haben als der ehrwürdige Greis, und wenn es auch sicher Torheit war, ich deutete diesen Gruß als ein Zeichen seiner unverminderten Neigung zu mir und faßte den Entschluß, zu ihm zu eilen, sobald ich ohne Scham vor ihm bestehen könne. Auf solchen Schleichwegen erlistete ich mir endlich karge Ruhe und das Recht auf die Hoffnung, mein und meiner Eltern Leben werde sich nach so langen Bedrängnissen doch noch ins Lichte heben.
Denn auch in meinem Vaterhaus wohnte seit dem Morgen, an dem ich mit der Mutter das erstemal nach Jahren wieder gebetet hatte, eine wundersam stille, schwach besonnte Luft. Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, so ist es mir, als sähe ich eine Reihe klarer, schöner Spätherbstmorgen. Alle Weiten sind leer von der Schneide der Sense; alle Felder müde und weich im Widerschein entschwundenen Glückes, dessen wirrer Traum in flüchtenden Vogelschwärmen noch einmal über sie hinstreicht oder aus unerreichbaren Fernen in weißen Wölkchen noch einmal grüßt. Durch die gelichteten Wälder plappern die Bäche wie ratlos Verirrte. Aus allen Poren der Erde aber bricht das Licht, das sie in gesegneten Tagen einsog und nun vor Erschöpfung wieder ausströmt, daß alle Dinge in einer fortwandelnden Helle stehen, durch die sich die letzten Blätter lautlos zur Erde drehen. Nur wenn sie irgendwo anstreichen, entsteht ein wispernd-surrender Ton, gleich dem verwankenden Geräusch des letzten Rädchens eines stehenbleibenden kunstvollen Werkes. Das Schicksal des Menschen hat Jahreszeiten wie das Jahr.
Meine Mutter hauste in alter froher Geschäftigkeit, und auch mein Vater schien verändert: ganz Güte, ganz Sanftmut. Er begrüßte mich stets mit einem Lächeln, das anfangs wohl wie unter Anstrengung durch eine starre Verbitterung brach, bald aber mühelos das eingefallene Gesicht erleuchtete. Nur wenn er sich ganz allein in der Stube sah, erlahmte sein froher Fleiß, und mit großen Augen ins Leere starrend, sah er lange untätig. Auch stand er auf, trat ans Fenster und fuhr, in sich versinkend, fortwährend mit der Rechten über das Holz des Fensterbrettes. Er rückte an den Bildern der Wand, hob den Werktisch hin und her, als habe er gewackelt; verlor sich Wohl auch mitten in der Stube und nagte an seinen Fingern. Wie auf eine geheime Verabredung blieben meine Mutter und ich daher tunlichst um ihn: sie saß und strickte endlos, ich hockte am Tisch über meinen Büchern. Der Vater aber schielte dann und wann verstohlen nach uns herum und trommelte darauf frisch mit seinem Hämmerchen über das Leder. Denn unser Geschäft war wirklich ganz aus der Erinnerung der Leute getilgt. Die wenigen Waren hingen unter großen Leinenlaken im Laden. Aber mein Vater gab doch den Anschein seines freien Meistertums nicht auf, obwohl er in Wirklichkeit nichts als Lohnarbeiter der Firma Kahl und Maruske in Breslau war, für die er noch immer Hosenträger fertigte. Der geheime Grimm hatte ihn scheinbar verlassen und war einer sicheren Resignation gewichen. Wenn er seine zehn Paar Traggürtel fix und sauber neben sich liegen hatte, setzte der Beginn des Feierabends mit dem Nachtessen ein. Wir öffneten das Fenster, und die Kühle der zeitigeren Dämmerung erfüllte das Zimmer. Das Not schlich manchmal über die Diele, das Rauschen der Bäume aus dem Spitalgarten tönte schwach herein, und wir saßen, um Licht zu sparen, bis tief in die Nacht im Finstern. Ich gab wohl meine gelernten Pensa zum besten und beantwortete, soweit mein Wissen reichte, die Fragen, die mein Vater an mich richtete. Die Stricknadeln meiner Mutter pinkten ihr feines, eintöniges Lied dazwischen. Manchmal aber wuchs mit den Schatten der Nacht lastendes Schweigen in unsere Stube; jedes saß stumm wie hinter einer schwarzen Wand gefangen; das Strickzeug der Mutter klang wie schwaches Kettenklirren, und setzte es aus, dann hörte man nur den Atem unserer Brust furchtsam und schneidend wie durch ein Gitter blasen.
An einem dieser von verborgener Furcht beladenen Abende erlosch in mir die Hoffnung für immer, das Glück unseres Hauses könne doch noch reifen, wie eine bittere Frucht in der letzten Herbstsonne zu Fülle und Schönheit sich rundet. Es war später geworden als je an einem anderen Tage. Keines wagte das Licht anzuzünden, denn jedes scheute sich wohl, des anderen Blässe und Sorge zu erleuchten, und so warteten wir stumm auf einen Hirnschlag der Stimmung zum Besseren. Vom Stadtgraben herauf klang selten das Gespräch Vorübergehender, die Bäume des Spitalgartens murmelten mit hartem Laube; die Wasser der Neiße hörte man leise ziehen. Ich saß auf dem Schemel am Werktisch und lauschte dem Laut des wandernden Flusses, der mir vernehmlicher tönte, wenn ich meinen Blick auf den ruhigen Nachthimmel lichtete, in dem die Sterne wie spielende Funken hingen.
»Es klingt, als wenn die Mücken in der Luft tanzten«, sagte meine Mutter vom Ofen her und begann ihre Nadeln wieder zu rühren.
Nein Vater atmete laut ein, als wolle er etwas erwidern, räusperte sich aber und schwieg.
Auf dem Stadtgraben näherten sich vom Pfeffer-Gerber her jagende Schritte. Die Hackeneisen schwerer Stiefel klapperten gegen das Pflaster. Hinter unseren Fenstern warf es den Läufer klatschend hin. Mit Gemurmel arbeitete er sich wieder auf. Man hörte ihn torkelnd umhertreten, als suche er etwas, und dann begann eine hohe, ausgemergelte Stimme an unserem Hause heraufzusingen:
– – – – – – –
»Unser Herr Professor trinkt gern ein Dideldideldum. und dann wird's besser, dreht er sich um.«
– – – – – – –
Ich erkannte, daß es der Rinke-Tischler sei, der uns wieder einen Besuch abstattete. Meine Mutter mußte von dem gleichen Schrecken getroffen worden sein, denn es ging wie ein Schnitt durch das Dunkel. Sie erhob sich und griff am Ofen herum, nach Streichhölzern suchend. Ich bewegte mich zum Fenster, sah gleichmütig hinaus und sagte leicht: »Das ist wieder so ein Bruder aus der Destille!« Rinke sang immer lauter und wilder. Dazwischen rief er fortwährend: »Prost, Sattlermeister!« Ehe ich das Fenster schließen konnte, jächte auf der Straße ein anderer heran und schrie: »Franze! Franze! Meinen Stecken her, Franze!«
Da flammte das Licht in unserer Stube auf.
Der Vater saß steif auf seinem Sofaplatz und hörte auf den Lärm der Trinker. Rinke sang noch immer, und der andere schrie fortwährend darein. Da ging plötzlich ein reißendes Gewittern über das Gesicht meines Vaters. Mit ein paar Schritten war er am Fenster und hob den Arm, es zu öffnen. Meine Mutter verfolgte mit fast krankhafter Gespanntheit seine Gebärden und griff verlegen ihren Strumpf durch. Der Vater aber ließ plötzlich seine Hand sinken und brach zu unserem Erstaunen in ein tolles Gelächter aus. »Franze,« so äffte er des Trunkenen weinerlich-zornigen Ruf nach. »Franze, haha, ja, ganz so!« Er sah belustigt durch die Scheiben und wurde immer von neuen Anfällen, fast wie vom Lachkrampf, geschüttelt.
Meine Mutter war sehr blaß geworden, legte enttäuscht den Strumpf weg, krümmte die Lippen in erzwungenem Lächeln und fragte mit beklommener Stimme: »Aber Mann, du wirst dir noch ein' Schaden tun. Was hat's denn?«
Er drehte sich um, sah, nach Sammlung ringend, gegen die Erde, schüttelte den Kopf, als begreife er etwas nicht und sagte dann, ohne uns anzusehen: »Hmhm! Ich werd' mir erst anrauchen, dann erzähl' ich's euch.«
Als er die Pfeife in Brand gesteckt hatte, begann er zu erzählen: »'s sind jetzt dreißig Jahre her – nun ja –. Ich war dazumal ein junger Kerle, forsch und lustig; adrett, geschniegelt und gebügelt. Ich arbeitete dazumal in Neiße und verdiente sieben Mark die Woche, nach altem Gelde zwei Taler zehn Silbergroschen. Die Meisterin kochte was Ordentliches, die Arbeit war sein und sauber, ha, was sollte da 'nen jungen Kerl nicht der Hafer stechen! Wir machen also 'nen schönen Sonntags eine Spritzfahrt nach Jauernig, der Hecht-Franze, ich und der Geselle vom Tapezier Wimpel, unser Huzelmann. Wir nannten ihn aber bloß so, eigentlich hieß er Thadäus Hutzler – nein Hubler – doch Hutzler ... Also ... wir – n – mieten uns eine offene zweispannige Droschke, steigen auf wie die Barone mitten auf'm Ringe und kutschen, mir nichts, dir nichts, als gehöre uns ganz Preußen, durch Neiße ...«
Hier brach er ab, nachdem er den letzten Satz mit Anstrengung, unter wiederholten Anlaufen gegen eine sichtbare Abneigung gesprochen hatte. Er riß sich aber doch aus der hereinbrechenden Verdüsterung gewaltsam auf und fuhr fort: »Hutzelmann hatte eine Liebste – – also, wie wir auf die Mährngasse kommen, da ...« Seine Worte verdorrten ihm auf den Lippen. Er stützte den Kopf in die Hand und lächelte in bösem Hohn gegen die Tischplatte, während die Finger seiner Rechten grabend den Schnurrbart auszogen. Dann spuckte er verächtlich aus und murmelte: »Haha, ich Esel! Warum sitze ich hier und schwatze wie ein Weib?« Er raffte sich grimmig auf und fing an, rasch in der Stube auf und ab zu gehen. Obwohl meine Mutter so gut wie ich wußte, daß ihn nur seine unterdrückte Rachsucht stachelte, daß es ihn trieb, das Gift der erzwungenen Sanftmut in wildem Zorne auszubrechen, redete sie ihm gütig zu und sprach: »Nun, da ist doch nichts dabei, wenn du erzählst. Es ist ja Feierabend.«
»Vielleicht, ja.« antwortete der Vater und trieb die Luft schnaubend durch die Nase, »hast recht, man hätte Zeit und sollte ein Ende machen.«
»Aber du hast doch früher auch manchmal erzählt«, setzte die Mutter unbeirrt fort, und ihre Worte klangen zaghaft und aufreizend zugleich.
Mit einem Schritt, der mehr einem Sprung glich, stand mein Vater vor ihr, sah bohrend auf sie nieder und schrie endlich gemartert: »Früher! Warum sagst du: Früher?«
»Mußt du dich etwa schämen vor diesem Worte?« fragte meine Mutter, und ich spürte, wie sie ihn vorsichtig weiterführen wollte. Denn nun klang leise sogar etwas wie Hohn in ihrer Stimme.
Der Vater stutzte, beugte sich nahe zu ihrem Gesicht und sagte stockend: »Du meinst, Weib, ich sollte doch noch meine Hände freimachen?«
»Warum nicht?« fragte sie und sah ihm furchtlos in die Augen, »jawohl, freimachen, dich und uns, reinwaschen, dich und uns.«
»Wie?« sprach mein Vater in schreckhaftem Staunen, »das sagst du? Hier, auf dem Flecke, wo deine Füße stehn, solltest du niederknien und beten, daß ich mich erhalt'. Dem Stein, der aus meiner Hand fliegt, muß ich nach, und dann gnade Gott uns allen. Ich kenn' mich besser! Das ist das eine. Und dann: Wenn ich dem Pack zuleide gehen will und dem treulosen Freunde, muß ich erst selber treulos werden, Pack sein, innerlich Pack sein. Solange ich lebe, will ich halten, was ich der Mutter in die kalte Hand gelobt habe, mich an keines Menschen Leben vergreifen und an keiner Macht, die über mir ist. Geh' ich daran zugrunde, so sterb' ich in Ehren.« Er trat weg und begann wieder umherzuwandeln. Während er hin- und widerging, verschwand seine Aufgerecktheit immer mehr, er sank ein und schüttelte murmelnd fortwährend das Haupt. Unvermutet blieb er vor mir stehen, maß mich mit den Augen, und sich halb zur Mutter wendend, sagte er feierlich: »Da, Mutter, mein Sohn ist auch noch einer! Und ruft es mich ab, ehe es hell um mich geworden ist, so wird er das Licht an meinem Grabe anstecken.«
Erschüttert, ohne zu wissen, was ich tue, bot ich meine Hand zum Versprechen. Aber er bewegte verneinend den Kopf und sagte: »Nein, keinen Knebel, um Gottes willen, keinen Knebel! Wenn du Ehre mitbekommen hast, dann wirst du aus eigener Kraft dich hüten, mein Grab zu besudeln.«
Er lehrte sich ab und ging mit den behutsamen Schritten, die er sich seit Monaten angewöhnt hatte, an seinen Platz zurück, rauchte sich die Pfeife an und sah vor sich nieder. Darauf kam ein kümmerliches Armenlächeln über sein Gesicht, das langsam in der Versunkenheit leeren Ernstes erlosch.
Mir war zumute, als habe sich mein Vater eben lebendig begraben. Ich schlug ein Buch auf und starrte auf die Buchstaben, maß mit den Augen die Ränder, die Schriftfläche, zählte die Zeilen und litt indessen an der Empfindung, von unsichtbaren Banden immer enger und enger zusammengeschnürt zu werden.
Da begann meine Mutter zu singen:
»Graus war die Nacht, und um die Giebel
der Försterwohnung heulte Sturm.
Der fromme Greis las in der Bibel,
und sieben schlug's am Kirchhofsturm.«
Leise, wie Vogelflügel über entblätternde Blüten streichen, sang sie; leise, wie die Hände einer Krankenpflegerin, waren die Töne des alten Liedes. Sie bewegte kaum die blassen Lippen beim Gesänge. Manchmal riß das Mitleid zuckend an ihrer Stimme, manchmal zitterte sie in angstvoller Liebe. So sang sie die dreizehn Strophen.
Und als der letzte Ton wie ein niedergleitendes Blatt sich in der Ecke verloren hatte, schlief der Schmerz in unseren offenen Wunden. Der tote Ernst war aus dem Gesicht des Vaters verschwunden, und eine weiche Aufgelöstheit hatte die scharfen Runzeln geglättet.
»Es ist elf«, sagte er milde und erhob sich. »Ich bin müde, und dein Singen hat den Schlaf gerufen. Gute Nacht, liebes Weib! Gute Nacht, mein Sohn!«
Mit stillen, gleichen Schlitten ging er von uns.
Weine Mutter sah ihm gedankenvoll nach.
»Hab' ich's recht gemacht, Franz?« fragte sie mich nach einer Weile.
Ich sah sie traurig an. Da verstand sie, was ich sagen wollte und sprach: »Freilich, du hast recht, besser war es, wenn er aufgesprungen wäre. Aber, das ist ja wohl vorbei.«
– – – – – – –
Als ich in meinem Stübchen angekommen war, lehnte ich mich zum Fenster hinaus und schaute zum Nachthimmel auf. Er war tief, fast schwarzblau. und je länger mein Blick auf ihm ruhte, desto mehr verdunkelte er sich. Stern um Stern sog er in seine bodenlose Tiefe, bis zuletzt nur ein einziges, winziges Flackerlichtlein in der unübersehbaren, finsteren Höhenwüste übrigblieb. Das stand nicht allzu fern über den Dächern der Häuser, die wie die Rücken riesiger, schwarzer Tiere anzusehen waren.
Mein Vater stirbt an seiner Mutter, sann ich; er ist schon so gut wie erloschen. Und als ich mein Äuge wieder zum Himmel wendete, war auch der letzte Stern von der Nacht ausgewischt. Da fiel es mir auf die Seele: Und ich werde um seinetwillen auch zugrunde gehen müssen.
In der Luft nahte ein Wuchten, wie der Schwung von großen, unsichtbaren Flügeln. Muß das so sein? fragte ich die finstere Höhe. Aber sie gab mir keine Antwort. Das Rauschen der Flügel droben war vorübergehuscht, und kein Laut rührte sich rundum, als der ferne Schritt des Wächters und das Knarren des eisernen Doppeladlers auf dem Wartturm. Niemand auf der ganzen Erde konnte mir sagen, ob das der Sinn des Lebens sei, daß Kinder um ihrer Eltern willen sterben müssen. War es nicht genug, daß ich aus Liebe zu meinem Vater einen Beruf auf mich genommen hatte, den ich nicht liebte? Sollte ich ihm nun auch die Sehnsucht nach meinem Gott opfern, bei dem alten, toten Glauben verharren und dadurch einem Leben mich unterwerfen, das nichts als ein langes Verwesen bedeutete?
Das Licht aus Willmanns Stube glomm ruhig und geborgen aus der Mauer, tröstlich und sanft. Da wurde ich von leidenschaftlicher Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden aus Kampf, Finsternis und Schmerz, die mein Leben waren, gefaßt und überlegte: Wenn ich mir ein Herz nähme, zu ihm ginge, meine Untreue eingestände, seine Vergebung erbäte und meine schweren Nöte ihm anvertraute, so würde er weder mit seiner Güte noch mit seiner Weisheit zurückhalten, und ich könnte noch einmal meines Daseins und meiner Hoffnung froh werden. Kaum hatte ich dies gesonnen, so sah ich das Licht aus der Tiefe des Zimmers heranschwanken, als sei der Greis durch meine Gedanken vom Tische aufgescheucht worden. Ich konnte deutlich die Lampe sehen und glaubte sogar den Kopf des Alten wahrzunehmen. Lange schwebte das Licht so am Fenster, und ich war ganz glücklich in dem Wahn, Willmann stehe dort und schaue nach mir her. Dann verschwand der Schein wieder tiefer ins Zimmer, stand eine Weile ruhig, wankte hin und her, erlosch scheinbar, tauchte auf, schwamm ans Fenster, schimmerte verlangend in die Nacht und sank in die Tiefe zurück, um nach einiger Zeit wieder wie ratlos umherzuwandeln. Selbst als ich mich ausgekleidet hatte und noch einmal zum Turme hinaufsah, gewahrte ich noch immer das Licht unruhig umherirren. Ich legte mich nieder und bemühte mich, meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, um den Greis nicht weiter zu stören.
– – – – – – –
Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen. Am anderen Morgen war er schon nicht mehr unter den Lebenden. In der späten Nacht, gegen die zwölfte Stunde, hatte der revidierende Wächter hinter den Willmannschen Fenstern einen grellen Feuerschein wahrgenommen. Da aber die Röte nicht ununterbrochen gegen die Scheiben stand, sondern zurückging, auflohte und wieder auf Augenblicke ganz versank, glaubte der biedere Mann, es handle sich um irgendeine der vielen Marotten des Greises, durch die er dem niederen Volke Heisterbergs ein unbegreifliches Wesen geworden war, betrachtete noch ein Weilchen das Spiel des Feuers hinter den kleinen Fenstern und ging mit Verwünschungen von dannen, als er den Greis droben ein durchdringendes, wieherndes Gelächter ausstoßen hörte. Auf dem Ringe zog er einen Kameraden aus einer Nische und erzählte ihm den Vorfall. Doch indem er nun des sonderbar gellenden Lachens Erwähnung tat, kam ihm plötzlich der eben gehörte Laut selbst nicht mehr als die Äußerung unbändiger Lust vor, sondern nun klang er ihm wie der hohe Schrei der Todesnot. Laufend erreichten die beiden wieder den Wartturm. Da sahen sie schon die Lohe hinter den Fenstern lecken. Jetzt zerbrachen die Scheiben und klirrten aufs Pflaster. Die Flammen züngelten am Gemäuer hinauf. Einer der Männer rannte die Stiege hinauf und donnerte rufend gegen die Pforte, der andere lief und lärmte die Feuerwehr aus dem Schlafe. Allein ehe die Löschmannschaft auf dem Platze erscheinen konnte, hatte der Brand einen Umfang angenommen, der eine Rettung unmöglich erscheinen ließ. Vergeblich versuchte man durch die niedrige Tür ins Innere vorzudringen; umsonst schlugen die Äxte der Steiger gegen das uralte, eisenfeste Gemäuer, um die Fensteröffnungen zu erweitern. Der Hauptmann tobte und pfiff, die Gendarmen fluchten, das Wasser der Spritze prasselte meistens gegen die Mauer. Nach zwei Stunden war alles vorüber. Aus den Fensterlöchern puffte dann und wann ein Schwaden bleichen Rauches.
So war ein Menschenleben in Flammen aufgegangen, das alle Stunden seines Daseins in Feuer gelodert hatte. In der Frühe nach dem Brande führte ein Bauer aus einem fernen Gebirgsdorfe seinen hochgeleiterten Lastwagen nach Heisterberg. Er war ein ferner Verwandter Willmanns mütterlicherseits und hatte vor zwei Tagen einen Brief des Greises empfangen, in dem dieser ihm das Mobiliar seiner beiden kleinen Stuben schenkte, da er entschlossen sei, die Stadt zu verlassen und auf immer nach Österreich zurückzukehren. Es kostete Mühe, den alten Mann von der Tätsächlichkeit des Unglücks zu überzeugen. Hartnäckig buchstabierte er in dem Briefe umher, stand lange auf der Schwelle des Turmpförtchens und schaute trübselig in die Finsternis der hohen Spitze, aus deren zusammengebrochener Tiefe der schwelende Rauch der letzten Balkenreste stieg, fiel sogar dem gealterten, galligen Bürgermeister Schrader beschwerlich und fuhr endlich untröstlich und mit Verwünschungen von dannen, als habe der alte Willmann diesen tragischen Tod nur gewählt, um seine geizige Sippe noch einmal gründlich zu ärgern. Die ganze Stadt, die das Wesen dieses einzigen Greises nur nach seinen vielfältigen Schrullen beurteilt hatte, machte sich die törichte Meinung des Bauers zu eigen und verunehrte sein Andenken sogar durch Zorn, der so weit ging, daß man nach den oberflächlichsten Bemühungen es für unmöglich erklärte, seine Überreste in der Asche aufzufinden und in geweihter Erde zu bergen. Selbst die Kirche nahm sich seiner Gebeine nicht an, weil er der österlichen Pflicht nie genügt hatte. Ja, der Pfarrer Zimbal fand in der sonntäglichen Predigt Gelegenheit, auf das schreckliche Ende als die gerechte Strafe eines unversöhnten Sünders hinzuweisen. So schweifte der einzige Mensch, der mein wegloses Leben ins Sichere hätte weisen können, als ungeborgener, verfemter Geist, und mir blieb nicht einmal der Trost, mich reinen Herzens an seinen Schatten schmiegen zu dürfen. Denn ob ich auch bald von der selbstquälerischen Bezichtigung loskam, ihn an seinem letzten Abende mit meiner Unruhe aufgescheucht und durch seine Stuben in den Tod getrieben zu haben, über die Neue wurde ich nicht Herr, daß mein untreues Fernbleiben seine letzten Wochen vergällt und den bitteren Entschluß in ihm gereift hatte, in der Fremde sein Grab zu suchen.
In jenen Tagen lag vollkommene Windstille über Heisterberg. und aus der herbstfeuchten Erde braute dichter Nebel um die Dächer der Stadt. Auf diese Weise quälte mich die Klage um den Toten ohne Unterlaß, und in den Bemühungen, sein Leben und sein Ende mit den Notwendigkeiten meines Geschickes in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, geriet ich in das undurchdringliche Dunkel, das mein Leben bis heute umfängt. Denn ich sagte mir, daß Willmanns Dasein wahrscheinlich ausgeklungen wäre, wie der Ton einer Glocke im Abendrot des fluchtreichen Herbstes einschläft, wenn ich nicht seinen geneigten Weg gekreuzt hätte. Und ich kam, selbstzerstörerisch diesem Gedanken nachhängend, zu der Überzeugung, nicht nur unsere Familie sei vom Schicksal zur Vernichtung bestimmt, sondern vor allem auf meinem Dasein laste so die Fülle des Unsegens, daß meine Berührung Heitere verdüstere und schon Bedrängte noch in tiefere Not hineintreibe. Kein Sonnenstrahl sank in die Schlucht, in die ich mich verirrt hatte, und doch umgab mich auch nicht ganz lichtlose Nacht. Denn wie hätte ich dann überhaupt existieren können!
Wenn ich den Zustand meines Lebens betrachte, wie er damals begann und mit wenigen Erleichterungen bis zu diesem Augenblicke angedauert hat, so gleicht er der Luft in diesem kleinen Zimmer in Wecknitz. Und wie ich hier hinter dem Schrank kauere, die Schatten meines Lebens heraufbeschwöre und noch einmal mit ihnen ringe, so habe ich all die schweren Jahre einsam und notvoll gegen sie gekämpft. Aber es blieb stockend um mich von den Finsternissen der Nacht wie hier. Kaum schwelte zu manchen Zeiten blasse Helle der Hoffnung über mich, wie vor den beiden Fenstern neben mir das eiste Wittern der Frühe bebt, während drunten noch alle verdunkelten Gärten schlafen und weiter draußen die schwarzen Feistelberge herüberdrohen. And wie das Licht dort auf dem Tische müde zuckt und doch an seinem Verdursten sich immer wieder zu neuen bleichen Schleiern aufrafft, so glomm mein Geist stets neue, blasse Kreise der Erkenntnis vor meine Füße, daß ich nicht ganz verzagte. Aber ich blieb doch in Mauern gefangen, die eng und niedrig wie die Wände dieses Zimmers um mich standen, und der Ausweg schwankte stets ungewiß und verschlossen in den Schatten vor mir wie die Tür dort neben Bettstatt und Ofen.
Es waren fast oresteische Ketten, mit denen ich mich selbst gefesselt hatte. Aber eines der seltsamsten Mittel, die Menschen anwenden, ihrem Leiden zu entschlüpfen, besteht darin, daß sie es übertreiben, und so hatte ich es in den vier Nebeltagen nach Willmanns Tode dahin gebracht, mir nicht nur unsere Familie und vor allem mich, sondern das Leben der Menschen überhaupt und die ganze Welt zu Schmerz und Not geschaffen vorzustellen. Mochte ich die kurze Burgzeile hinauf- oder hinuntersehen, überall fand ich die geheimnisvolle grause Nacht am Werke, die Menschen in immer tiefere Finsternisse zu ziehen. Den Fleischer Mahn hatte der Trunk von seinem jagenden Gefährt unter die Räder gestoßen, der alte Grulich saß erblindet vor der Schusterkugel in seiner Stube, und der Pfeffer-Gerber strich zwar wie sonst noch an den Abenden hinter den Johannisbeersträuchern des Gärtleins an der Stadtmauer umher und sang, die rechte Hand unters Kinn geschlagen, in die Schatten, aber sein Lied klang nicht mehr verschüchtert und leise. Denn seine eheliche Rechtlosigkeit hatte ihn endlich wundgerieben, und von heimlichem Rausch entzündet, schnob das demütige, zerbrechliche Männchen Revolutionsgesänge, bis er in der Laube über den Tisch sank und einschlief. Wohin ich sinnen und sehen mochte, es gab nicht einen Menschen, den sein Schicksal nicht plagte. Hatte ich also ein Recht, gegen das große Dunkel mich aufzulehnen, das alle führt? War es nicht vielmehr meine Pflicht, meine Qual mutig auf mich zu nehmen und treu zu tragen? Soweit war ich, als der Nebel, der so lange die Dächer Heisterbergs bedrückt hatte, eines Abends verschwand wie eine Decke, die unversehens jemand wegzieht, und alles schimmerte und läutete in der Stadt. Die Kinder faßten sich an den Händen und wogten in bunten, singenden Ketten die Häuser hin. Der Himmel flatterte über den Türmen wie eine blauseidene, schimmernde Fahne, in die die sinkende Sonne rote Streifen malte. Und plötzlich kam mit der Tod des alten Willmann auch nicht mehr so schrecklich vor. Er war in das Feuer hineingestorben, in das Licht, in die Verklärung alles Irdischen, und wie mich dieser Gedanke, gleich einer Erlösung, überfiel, brachte ich es auch über mich, aus meinem Fenster hinaus wieder den alten Wartturm anzusehen.
Er stand in rosigem Licht da. Aber seinem verwitterten Gemäuer bebte der Schimmer wie eine empfindsame Haut, und der Adler lag mit gebreiteten Schwingen über der Spitze, als sei er im Begriff, gestreckten Fluges sich in den Himmel fortzuschwingen. So war die Seele des Greises ins Unermeßliche entwichen, reißend, mit einem schreckhaft frohen Jauchzen, und ich betrachtete den Turm, von Abendglut übergossen, wie eine Offenbarung, wie ein tiefes Symbol eines tiefen Lebens. Meine Augen suchten selbst in den Winkeln und ausgebröckelten Löchern des verwitternden Gebäudes noch bedeutsame Spuren dieses geliebten, ausgereiften Lebens. Das schwindende Licht rückte indessen immer höher an dem Gemäuer hinauf, und nun loderten die Mauerzacken wie ein Feuerkranz um die plumpe, hohe Spitze. Und in der linken Ecke bemerkte ich auf einer Stange, gleich einer winkenden, blassen Hand, einen hohen Strauß weißer Astern. Ich war von dem Anblick so erschüttert, daß mir die Tränen nur so über die Wangen schossen. Mit Blumen grüßte mich der Tote noch von jenseits des Grabes her! Ich barg meinen Kopf in die Hände und verlor mich in die Vergangenheit. Da sah ich den Ehrwürdigen hinter der Wehrmauer stehen, und der Abend blühte so rot wie heute um die Spitze. Aus dem Fenster in der Stadtmauer neigte sich ein blonder Mädchenkopf. Als Willmann den sah, blinzelte sein Auge glücklich zu mir her, der neben ihm stand, nahm Samenkörner, streute sie in den Abend hinaus und sagte: Wir wollen das ins Licht säen, damit ihr Leben ins Sonnenhafte gedeihe ...
Als ich meinen Kopf aus den Tränen hob, war das Rot längst erloschen, und das Dunkel braute um den Turm; aber die bleiche Asternhand sah ich noch hinter den Mauerzacken winken.
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Die blasse Hand hat mich wirklich in den Schimmer geführt. Eines Sonntags fand ich mich als Teilnehmer an der Prozession ein, die nach dem Laternenanzünden allabendlich um den Ring unseres Städtchens zog, bis die Nachtwächter ihre erste Stunde pfiffen. Sie bestand fast nur aus Gesellen und Dienstmädchen. Wenige Schreiber, Schüler und Töchter kleinerer Bürger waren darunter. Nach dem Abendessen strömten sie aus den vier Straßen auf das breite Trottoir des Ringes und pilgerten unermüdlich nach Liebe, immer wechselweise eine Reihe Schürzen und eine Reihe Glimmstengel. Scherzreden und Gelächter flogen hin und wider, und im Scheine der Ecklaternen verfingen sich auf einen Moment die Blicke der Verliebten. Bürger kreuzten dick und langsam den bunten Schwarm. Der Herbsthimmel hing hoch und voller Sternenfunken über dem Rathaus. Er war so groß und blau, daß man verstummen mußte, wenn man ihn ansah. Dies Schweigen ergriff oft alle. Dann war es so still, daß man das Wasser des Stadtbrunnens über den ganzen Platz klingen hörte. In solchen Augenblicken wurde mir vor Erwartung fast bange, denn ich glaubte, nun werde Wally Göppert unvermutet an mich herantreten und fragen: »Warum gehen Sie so allein?« Dann wollte ich antworten: »Fräulein Wally oder liebe Wally, ich warte auf Sie. Nehmen Sie es mir nicht Übel, daß ich an dem Sommerabend so von Ihnen fortgelaufen bin, denn ich war damals sehr unglücklich. Ehe die weißen Astern verwelkt find, müssen Sie wieder gut sein auf mich.« Das wollte ich sagen, wenn sie kommen und mit der Hand meine Achsel berühren würde. Ich dachte mir noch vieles Schöne aus, auch von dem alten Willmann. Aber wenn ich im besten Zuge war, prasselte das Lachen und Scherzen vor und hinter mir wieder auf. Alles, was ich mir ausgesonnen hatte, kam mir recht töricht vor. Ganz beklemmt ging ich an der weit offenen Tür des Kaufmann Pausewangschen Hauses vorüber und sah immer nur das winzige Flurlämpchen, das wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Wand schimmerte. So kreiste ich unzähligemal um das Rathaus und hatte eben wieder den Entschluß gefaßt, unwiderruflich den letzten Rundgang anzutreten, als ich einen Burschen vor der breiten Tür zu meiner Ersehnten in aufgereckter Haltung und geckenhaftem Schritt auf- und niederpendeln sah. Er wippte mit seinem Spazierstöckchen, sang ausgelassen lustig durch die Zähne, blieb häufig stehen und leuchtete mit brennender Zigarre auf das Zifferblatt seiner Uhr, kurz, benahm sich wie einer, der ungeduldig ein versprochenes Stelldichein erwartet. Das machte ihn mir verdächtig, und als ich näher hinsah, erkannte ich in ihm den Sohn des Glöckners Kinzel, der als Kommis in der Eisenhandlung der Stadt beschäftigt war. Ein fader, widerlicher Schwätzer mit dem Draufgängertum, der Ladendiener auszeichnet. Wenn Wally Göppert mit ihm ging, so wollte ich ihr keine Stunde im Wege sein, konnte ich auch nicht begreifen, wie dann die Verheißung Willmanns von meinem glücklichen, sonnenhaften Leben in Erfüllung gehen sollte, die mich doch eigentlich hierher geführt hatte. Das Wort Lebendiger ist vieldeutig und unsicher wie ihr Leben; aber das Versprechen, das Abgeschiedene uns hinterlassen haben, gilt uns als heilig. Es mußte wahr sein, was der Greis zu mir gesagt hatte, und ich fühlte, daß ich mein Leben nicht würde ertragen können, wenn mir das Licht dieser blonden Mädchenhaare erblassen müßte. So ward ich verhindert, jäh und barsch vom Ringe weg in mein Bett zu laufen. Geduldig, wenn auch in zweifelsüchtiger Unruhe, begann ich, wieder vor der breiten Tür vorbeizukreisen.
Schon pfiff in einer fernen Gasse der erste Nachtwächter. Nur wenige, nun schon zu Paaren verschlungen, wandelten noch umher. Ich trat, um mir nichts entgehen zu lassen, vom Bürgersteig auf das Pflaster des Platzes und behielt den Hauseingang sorgsam im Auge. Die helle Hose Kinzels schwenkte noch immer auf und ab. Plötzlich flammte im Innern des Hauses ein Licht auf, und der Verliebte verschwand, wie von dem Schein gerufen, in den Flur. Allein schon bald tauchte er mit schnellem Schritt wieder unter der Tür aus und entfernte sich eilig und ohne Umsehen in der Richtung nach der Kirche. Hinter ihm quoll ein fettes, grunzendes Husten aus dem Hause, und noch ehe der Flüchtling die nächste Straße erreicht hatte, stand der dicke Pausewang auf der Schwelle, schaute sichernd die Ringseite auf und ab, schnob zornigen Atem ins Dunkel und steuerte dann quer über den Platz auf das rote Licht der Stadtbrauerei zu.
Obwohl der erste Versuch einer Annäherung so mißlungen war, obwohl ich mich sogar an den folgenden Abenden überzeugen mußte, daß zwischen Wally und dem faden Kommis eine Beziehung bestehe, ich verlor doch nicht die frohe Sicherheit, das Mädchen sei mir noch geneigt. Sie stand zwar neben ihm und duldete, daß er auf sie einsprach; näherte ich mich aber, um von ferne vorüberzugehen, so bemerkte ich, wie sie teilnahmslos wurde, von ihm ein wenig abrückte und nach mir hinsah, als wünsche sie, ich möchte hinzutreten und sie von dem Zudringlichen befreien. Doch was soll ich all die süße Unruhe beschreiben, was an dem bunten Spiel verheimlichter Liebe herumtasten! An einem Abende, eben als ich an den beiden wieder vorüberging, ließ sie Kinzel brüsk stehen und entfernte sich von ihm nach der Kirchstraße hin. In einer dunklen Nebengasse holte ich sie ein und sagte ihr all die schönen Worte, die ich mir seit langem ausgesonnen hatte. Das Städtchen lag still. Die Laternen blinzelten, und wir gingen bald Hand in Hand wie Kinder, die sich verloren und endlich wiedergefunden haben. Wir kamen bis hinaus zwischen die Gärten, und wie unsere Schritte in dem Laube unhörbar wurden, verstummten wir auch. Durch das Gewirr der fast kahlen Äste sahen wir die fadendünne Mondsichel hinter den Bergen heraufschwimmen, und aus dem Seminar klang heiser und schwach der Diskant einer Orgel, als zirpe eine letzte Grille im schwarzen Felde draußen. Wir hatten uns losgelassen und horchten in das Dunkel. Die dumpfen, großen Laute der Nacht, die Last der unbarmherzigen Einsamkeit drangen auf uns ein, und ich weiß nicht, wie es kam: ich hatte Wally an mich gezogen. Wir standen aneinandergelehnt: das unnennbare Bangen, das uns eben noch getrennt, vor dem wir mit den Augen ins Dunkel hinausgeflüchtet waren, wuchs nicht mehr aus der Erde. Das Gefühl tiefster Geborgenheit erfüllte uns. Aber als sich in verschwiegenem Rausch unsere Stirnen berührten, durchzuckte mich ein so schmerzvolles Beben, daß ich erschrak. Auch Wally trat hochaufatmend von mir weg und sagte mit erstickter Stimme, sie habe Furcht und wolle nach Hause gehen. Ich lachte sie zwar tapfer aus; aber mir war doch auch wieder so seltsam bange, und so wandelten wir zurück. Unterwegs sprach sie von Kinzel: Das sei gewiß kein guter Mensch. Er rede wohl ganz amüsant, immer vergnügt und nett, daß sie ihm gern zuhöre. Allein es liege etwas hinter seinen Worten, mehr im Klang der Stimme und in seinen Augen, das ihr Furcht einflöße und sie zugleich schwach und willenlos mache. Immer, wenn er ihr nahe, bringe sie es nicht fertig, davonzugehen. Und wenn ich nicht gut aufpasse, dann könne es vielleicht wirklich noch dahin kommen, daß er sie einmal küsse. Scherzend und glücklich trennten wir uns.
In der Nacht brach ein starker Wind los. und am Morgen waren die Astern über der Wehrmauer des Wartturms verschwunden. Willmanns blasse Hand hatte mir den Weg ins Licht gewiesen und war nun auf ewig in die Luft verweht. Ich hielt mich wirklich für einen jener Glücklichen, denen alles Harte des Daseins überreich durch Liebe vergolten wird.
Alle Tage blühte mir wieder das seine, lange Gesicht des lieben Mädchens aus dem Fenster der Stadtmauer, und ich war reicher als je. Singend spielte ich mich in meine Arbeit und sah mit leichtem Wut auf den Berg der Wiederholungen zur Entlassungsprüfung.
Manchmal war Wally durch Arbeiten im Hause an dem Zusammensein mit mir verhindert. Dann ließ sie ein weißes Tuch vom Fenster flattern, und wir tauschten aus der Entfernung Zärtlichkeiten, denen ich, wieder mit mir allein im Stübchen, Worte verlieh. Erregt zwischen Tür und Tisch auf- und abschreitend, redete ich das Stürmen meiner Verliebtheit vor mich hin. Ich sah Wally leibhaftig um mich, und die Worte, die ich zu ihr sprach, klangen mir oft so schön, daß ich sie mir zur Erinnerung aufschrieb. Auf diese Weise wurde ich fast so etwas wie ein Dichter. Wirklich! Und mochte alles, was ich zu Papier brachte, auch nur krauses Stammeln sein, ich kostete doch den Zauber, mich in ein unaussprechlich anderes Leben zu erhöhen, das mein Glück und meinen Schmerz tiefer befreite und tiefer belud. Die Unbegreiflichleiten der Wirklichkeit wurden mir zu Unbegreiflichleiten des Traumes, und alle Dinge umwitterte oft ein Klang von ferner her, daß ich kaum den Sinn meiner Worte verstand oder über die Tatsache eines weitschauenden Wissens hinter der Erkenntnis betroffen war, wenn die Nüchternheit wieder um mich klapperte. Geradezu schmerzhaft war mein Erstaunen, als ich einst den Vers gedichtet hatte:
Auf bleicher Stirn wohnt deiner Schönheit Glanz,
in schweren Augen trägst du all mein Glück:
Und seh ich dies und deines Goldhaars Kranz,
ergreift mich Bangigkeit um dein Geschick.
Die letzte Zeile bohrte sich mir wie ein Drohen ins Ohr. Ich kam nicht darüber hinweg, trotzdem ich diesen ganzen Anfang mehreremal laut las, um von dem Rhythmus der Worte weitergetragen zu werden. Nun hing wohl über Wallys Wesen eine flüchtige, leise Umwölkung; aber nie wäre es mir wachend in den Sinn gekommen, hinter ihrer gedämpften Heiterkeit das steigende Grau eines fernen Schicksals zu wittern. Im Gegenteil schwebte um ihre schlanke, behende Gestalt die Musik des Traumes, den meine Kindheit mit der Schwester Anna erlebt hatte. Irrtümer des Verstandes lassen sich leicht ausmerzen wie Rechenfehler; gegen den sogenannten Wahn der Einbildungen sind die meisten Menschen wehrlos, vor allem aber Liebende. Und während ich ehrlich dagegen kämpfte, verdüsterte sich die Luft um mein geliebtes Mädchen, veränderten geheime Befürchtungen ihr Bild, so daß mir gar ihre rührende, hingebende Schönheit manchmal zuckend zu schimmern schien, wie unter den Schauern eines verborgenen Fiebers. Um mir Wally aus diesen Schatten wieder in sonnige Sicherheit zu bringen, beschloß ich endlich, diese unheilvolle Probe meiner Dichtkunst vor ihr preiszugeben und war schon im voraus froher Hoffnung voll, ihr ausgelassenes Lachen werde mich gründlich von allen Grillen heilen.
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Am Allerheiligentage schritt ich wartend den schmalen, felsigen Steig hin und hei, der, an der Sohle des Florianiberges dem Laufe der Neiße dicht angeschmiegt, über einen sanft gehobenen Wiesenstreifen den Ausblick nach der übereinandergetürmten Stadt freiläßt. Nach Norden zu sieht man einen Zipfel des Kirchhofes über den Abhang gleiten. Die Luft war ein einziges, silbriges Schimmern, kalt und köstlich. Die makellose, winterliche Blässe des Himmels spannte sich still über die Dächer und Türme von Heisterberg. Nur ein Beben schwebte fortwährend ganz schwach in der Höhe wie von eben verklungenem, eben anhebendem Geläut. In mir wurde es ein geruhiges Erwarten und doch auch ein leises, wiewohl verklärtes Zittern. Das Wasser zu meinen Füßen ging lautlos und glänzend über die Steine; die kahlen Zweige der Buchen, Erlen und Ahorne standen unbeweglich über mir und ließen aus tiefem Schlaf noch dann und wann ein vergessenes Blatt sinken, das sich behutsam auf den Wellen niederließ und wie ein rotes oder gelbes Schifflein davongetragen wurde. Ich dachte eben darüber nach, was es doch für einen Zweck habe, mein Mädchen mit törichten Befürchtungen zu betrüben, und daß es vielleicht das beste wäre, ich ließe die Grillen von dem Wasser auf Nimmerwiedersehen fortnehmen wie diese welken Blätter, da stand Wally unvermutet neben mir Versunkenem. Ihr Gesicht war von dem Lauf über den steilen Abhang noch blasser als sonst, die schwarzblauen Augen glühten tiefer, und ihr heißer Atem traf meine Wangen wie reife Sommerluft. Da sah auch schon das geheime Bangen um sie wieder fest in mir, und ich dachte nicht mehr daran, es ungesehen fortschwimmen zu lassen. Ehrliche Verliebte find die ungeschicktesten Heuchler, und es dauerte nicht lange, so hatte es Wally heraus, daß mich etwas bedrücke. Aber ich zögerte, mein Geheimnis mir nichts dir nichts vor ihren ungeduldigen Augen auszubreiten, sondern redete, sie und mich zu versuchen, spielend daran herum, als sei es die ausbündigste Torheit der Welt und zugleich ein schlimmes Verhängnis. Endlich erklärte Wally sehr entschieden, es wissen zu müssen, und weil ich mich immer noch neckend weigerte, kamen wir überein, eine Art Gottesurteil anzustellen. Zwei gleich lange Zweige sollten nebeneinander auf das Wasser gesetzt werden. Wessen Rütlein zuerst an dem kleinen Strudel angelangt sein würde, nach dem mußte es gehen, und der andere durfte kein Wort dawider sagen. Ich wählte die Zweige von der Erle, dem zauberkräftigsten unter den Laubbäumen, und Wally umwand den ihren mit einem roten Faden aus ihrem Hutbande. Die Hände zitterten ihr kaum merklich dabei, und ihr Busen stieg und sank beklommen. Auf herausstehenden Steinen balanzierte ich ein Stück in den Fluß hinein und richtete, ehe ich die Zweiglein dem Wasser übergab, noch einen fragenden Blick nach dem Mädchen, das sich auf einem Stein niedergelassen hatte und mit zusammengezogenen Brauen und harten Augen meine Bewegungen verfolgte. Bald schwammen unsere Schicksalshölzchen auf dem schwarzen, ruhigen Wasser. Erst hielten sie sich zusammen, denn ich hatte sie mit den Knospen aneinandergeklemmt; aber in der Mitte des Weges wurden sie ein paarmal gedreht und dann auseinandergerissen. Mein Zweig taumelte zur Seite und begann sich am Ufer durch welkes Laub zu winden; Wallys Rütlein stellte sich sofort wieder ein und schoß gerade auf den Strudel zu, in dem es, mit dem roten Wimpel voran, verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam. Wir waren beide betroffen. Wally hob ein Blatt auf, zerzupfte es versunken und nickte dazu schwer mit dem Kopfe. Dann lehrte sie mir ihr Gesicht zu und fragte lächelnd, aber mit unsicherer Stimme: »Hast du noch mehr solcher Zaubermittel?« Ich war nun entschlossen, den unglückseligen Vers auf jeden Fall für mich zu behalten, da er allein an dieser peinlichen Wandlung schuld war und antwortete trotzdem wie gebannt: »Wenn du versprichst, mich recht tüchtig mitzulachen, werde ich dir's sagen.« Sie leichte mir ihre Hand herauf, und nach einer kurzen Einleitung sprach ich die Strophe, nicht ohne geheime Beklemmung. Wally hörte mit zu Boden gekehrtem Gesicht zu und bat fortzufahren, als ich geendet hatte. Ich mußte bekennen, vor Bangen im Dichten steckengeblieben zu sein. »Wegen der letzten Zeile, nicht wahr?« fragte sie. Und als ich bejahte, hob sie den Kopf und sah mich mit verzehrenden Äugen an. Ihre Züge zuckten dabei in schmerzvoller Leidenschaftlichkeit. Ehe ich ein Wort sprechen konnte, kam es wie ein Sturm über sie. Sie sprang auf, umschlang mich, schluchzte, überdeckte mein Gesicht mit heißen, schlingenden Küssen, sog sich förmlich mit ihrem Körper an meinem Leibe fest und stammelte wie eine Verfolgte, in höchster Angst: Ich solle nicht an ihr zweifeln und sie nicht verlassen, denn sie liebe mich so unendlich, unendlich; mich, mich allein! Wir stockte das Herz vor Beklommenheit über die unbegreifliche Verwandlung dieses süßen, stillen Menschen. Ja, mich überfiel sogar etwas wie Scheu, daß ich nicht wagte, ihre fessellosen Liebkosungen zu erwidern. Da riß sie sich plötzlich los, hielt mich mit steifen Armen von sich, sah aus strömenden Augen forschend in mein Gesicht und sank mit einem leisen Wehlaut ganz erschöpft auf ihren früheren Sitz an dem Baum. Sie verfiel in totes Schweigen, und nichts rührte sich an ihr als die bebenden Schultern des über die Knie gebogenen Leibes. Ich trat heran, streichelte ihren Scheitel und rief sie liebreich bei ihrem Namen. Unter den Berührungen meiner Hände erschauerte sie wie frierend, und als ich Miene machte, sie herauf in meine Arme zu heben, entglitt sie mir, stand weggewandt, den Fluß hinaufsehend und begann dann langsam, wie in schwerer Betäubung, den Steig hinzuwandeln. Behutsam und still hielt ich mich neben ihr.
Derweil sickerte der Abend durch die Bäume, der Fluß begann zu rauchen, und wir kletterten den Abhang hinauf. Beim Abschiede war ihre Hand kalt und ihr Gesicht noch immer bewölkt von schamvollem Lächeln. »Auf Wiedersehen«, sagte ich und wollte sie umfangen; aber sie wich aus, krümmte schmerzvoll die Lippen und ging eiligen Schrittes davon.
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Am andern Tage wartete ich vergebens auf das Erscheinen Wallys am Fenster der Stadtmauer, vergeblich streifte ich abends vor dem zweiflügeligen Tore des Pausewangschen Hauses. Das Lämpchen blitzte wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Hinterwand des Flures, manchmal huschten Schritte die Stiege auf und nieder: Das Mädchen ließ sich nicht sehen. Und so blieb es auch die folgenden Tage. Ich war überzeugt, sie zürne mir, weil ich ihre leidenschaftlichen Liebkosungen unerwidert gelassen und kein Wort des Mitgefühls auf die Erzählung ihrer häuslichen Not gefunden hatte. Und wenn ich mich in der Tat der jungenhaften Angst auch ehrlich schämte, die mir das Wogen ihres Busens und das Feuer ihrer Küsse eingejagt hatte, so fühlte ich doch mit jedem Tage deutlicher, den sie sich entzog, daß das nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund meiner Scheu gewesen war. Nein, eigentlich hatte mich deswegen diese vollkommene Ratlosigkeit erfaßt, weil sie, die Süße, gedämpft Heitere, das ganze Ebenbild meiner verklärten Schwester Anna, sich so jäh vor meinen Augen in das Gegenteil, in einen mir fremden, unbegreiflichen Menschen verwandelt hatte. Und weit, weit in meiner Ferne dämmerte außerdem eine Furcht, die noch kein Gesicht, und ein Zweifel, der noch kein Wort hatte. Darum brannte ich darauf, mich vor ihr und sie vor mir wieder zu rechtfertigen. Nach einer Woche wurde sie mir durch das Dunkel zugeführt. Ich lehnte grübelnd und frierend in der Pfeilernische neben dem Eingang des Pausewangschen Hauses. Der Ring war menschenleer, und die eisten Schneeflocken flimmerten ungestört durch den roten Lichtdunst der Laternen zur Erde. Neben dem Rathause türmte sich die steinerne Dreifaltigkeitsstatue wie ein erstarrter Springbrunnen aus Schatten in die halbe Finsternis hinauf. Und wie ich denken muhte, so erloschen und zugleich doch furchterregend sieht der alte Glaube in mir aus, näherte sich jemand mit behenden, leichten Schritten aus der Walauer Straße, blieb einen Augenblick am Denkmal stehen und strebte dann geraden Weges auf mich zu. Noch ehe die Gestalt den breiten Bürgersteig erreicht hatte, erkannte ich in ihr die Erwartete. Sie fuhr leicht zusammen, als ich auf sie zutrat, faßte sich aber schnell und sprach einige belanglose Worte des Erstaunens, mich hier zu sehen; das gab mir einen leise schmerzenden Stich, und statt der liebkosenden Worte, die sie mir wiedergewinnen sollten, brachte ich nichts fertig, als ihre Hand zu ergreifen und bekümmert ihre Augen zu suchen. Endlich vermochte ich, traurig und vorwurfsvoll, ihren Namen zu sagen. Sie aber zog mich in das Dunkel zurück nach der anderen Ringseite hin, damit wir den Blicken ihres Schwagers entgingen, der um diese Zeit seinen allabendlichen Ausflug in die Stadtbrauerei antrat. Dort wandelten wir auf und nieder, und sie plauderte hastig von den vergnügten Stunden, die sie eben beim Buchhändler Bunzel zugebracht habe. Es flackerte und zuckte wieder in ihren Worten, und sie klangen mir gar nicht so unbefangen fröhlich, sondern wie gehetzt und ängstlich, daß mich aufs neue Schmerz und Schweigen ergriffen. Plötzlich verstummte sie verlegen, faßte leidenschaftlich meine Hand und stammelte: »Sei gut, mein Lieber, sei mir gut!« Ich tröstete sie, soweit ich es in meiner Verwirrtheit vermochte, und da ich der Meinung war, sie halte mich wirklich für hart und gefühllos, versuchte ich, ihr meine Gemütsverfassung am Allerheiligentage klar zu machen. Allein kaum hatte ich diesen Namen ausgesprochen, als sie mir den Mund zuhielt und mich beschwor, um Gottes willen dieses Vorganges nicht mehr zu gedenken. Deswegen sprach ich nur davon, wie weit doch meine Liebe zu ihr in meinem Leben zurückreiche, daß sie geweiht sei durch den Segen des toten Willmann, und redete von der Güte und Schönheit meiner Schwester, der Wally in vielem Besten so ähnlich sei. Meine Worte mögen wohl von dem Traum meiner Kindheit, an den sie rührten, besonnt und berauscht geklungen haben, denn ich fühlte, wie sie davon ergriffen wurde, und wie die böse Unruhe um sie ganz verschwand. Sie ging wieder leicht und ruhig neben mir hin, umduftet von dem Zauber der Jugend und Schönheit.
Als die Laternen erloschen, blieb sie stehen, neigte ihr Gesicht so nahe an das meinige, daß ich ihre Augen in der Nacht glänzen sah und sagte mit leiser, glückverhaltener Stimme: »Ich will jetzt ganz deine stille, sanfte Anna sein, nimmer die Wally, die dir wehtut, gar, gar nimmer!« So trennten wir uns. Sie verschwand in dem großen Haustor. und ich ging in die lichteste, trunkenste Nacht meines Lebens.
Wallys Gesicht, ihr ganzes Wesen, war nun für Wochen in friedvoll-sichere Stille getaucht. Ihre Altstimme klang wieder gesättigt von tiefer Beseeltheit. Manchmal waren ihre Zärtlichkeiten scheu, voll der frommen Verwunderung erster Mädchenliebe. Sie lauschte meinen Worten wie Offenbarungen und empfing meine Herzlichkeiten wie unverdientes Glück. Und doch sah sie mich oft mit erwartenden Augen an, wenn ich, mitten im Spiel der Liebe, von den Finsternissen meines Lebens gestreift, leichter Düsterkeit verfiel, als sehne sie sich nach einem tieferen Strom meines Daseins, nach der Sorge und Not meines Lebens. Aber ich brachte es nicht über mich, von dem Letzten und Heimlichsten meiner Seele zu ihr zu reden und wagte auch nie, nach den heiligen Verborgenheiten ihres Lebens meine Hand auszustrecken, sondern gab ihr immer nur Liebkosungen. Hatte ich so ihr Erwarten getäuscht, dann verharrte sie lange ratlos in meinen Anblick versunken und klagte dann leise, daß ich sie nicht liebe. Am anderen Tage, wenn ich in der Finsternis des Wintermorgens über den Ring ins Seminar ging, sah ich sie wohl mit dem Gebetbuch in der Hand zur Kirche eilen.
Kinzel traf ich nie wieder vor ihrem Hause. Dafür suchte er auf jede Weise an mich heranzukommen, grüßte mich, obwohl er einen ausgewachsenen Schnurrbart trug, bot mir Zigaretten an und schritt bald zu Vertraulichkeiten fort, von denen er sich durch meine deutliche Kühle nicht abhalten ließ. Er sog sich an mir fest und bohrte sich brutal in mich hinein. Wallys Demut und Trauer wuchs indessen und steigerte sich oft zur Ängstlichkeit. An einem Abende blieb sie wieder aus, ohne mir vorher ein Zeichen gegeben zu haben, und am anderen Tage sah ich sie blaß und verstört förmlich vor mir fliehen. Das reifte meinen Zweifel zum Argwohn und steigerte meine Furcht zum Zorn. Ich versuchte zwar noch einigemal, ihrer habhaft zu werden, aber nicht, sie mir wiederzugewinnen, sondern mich jäh von ihr loszuschneiden.
An einem Abende dehnte ich deswegen die Streifereien bis tief in die Nacht aus. Als ich nach Hause kam, hörte ich in dem finsteren Flur jemand dumpf und monoton murmeln. Ich riß mit einem Streichholz Licht und traf nach einigem Suchen meine Mutter, nur mit dem Hemd bekleidet, in den Winkel neben dem Speiseschrank geklemmt, mit dem Gesicht gegen die Wand, leer und verzweifelt vor sich niederredend. Sie lichtete vorwurfsvoll ihre Augen auf mich und sagte: »Kommst du endlich wieder zu uns? Da ist's nur gut!« Dann streichelte sie mir liebreich die Wange und schlüpfte in die Schlafstube. Wie ein Zunder fiel meine Liebe zu Wally von mir ab, und ich lag lange Stunden voll Schmerz und Schrecken wach, weil ich des flatterhaften, ungetreuen Mädchens halber das Schicksal meiner Eltern und meine heiligsten Gelübde vergessen hatte. Wir gingen die Augen auf. In den Monaten des abgewandten, betörten Herzens war meine Mutter abgemagert und um Jahre gealtert; auch den Vater hatte die Auflösung weiter zermergelt. Zwischen die Handgriffe des Gebastels, zu dem sein Arbeiten geworden war, flocht er oft erzählte Geschichten, die er nun auch launig aufzuputzen begann, und begleitete sie mit klanglosem Gelächter. Dann sog er die Lippen in den Mund und starrte regungslos auf seine Hände. Und an all dem Verfall hatte ich vorbeigelebt! Mit leidenschaftlichem Ruck riß ich mich in den Bann des Kummers zurück, dem ich entflohen war. In den Feierstunden stand ich neben dem Vater am Werktisch, schnitt Gurte, Besatzstücke und Strippen, stanzte Knopflöcher und falzte mit dem Bein dürftige Verzierungen ins Leder der Hosenträger. Dann saß ich oft bis über Mitternacht hinaus, vertieft in die Vorbereitungen zur Entlassungsprüfung. Bald erschien mir meine Liebe zu Wally nur noch als eine besonnte, trügerische Wolke, und mich erfaßte oft kalter Jubel, daß ich mich noch rechtzeitig aus dem gleißenden Spiel gerettet hatte. Wohl erschien sie, die ich in meiner Verblendung ungetreu nannte, manchmal zaghaft am Fenster oder lauerte hinter der Haustür, wenn ich über den Ring ging; ich achtete ihrer nicht. Ja, als ich nach Wochen einen Brief von ihr erhielt, las ich nur die ersten leidenschaftlichen Sätze und steckte ihn dann bitter lächelnd ins Feuer des Bombenöfchens.
Wie in eine eiserne Schnürbrust gepreßt lebte ich hin, wie in einen Kampf, entschlossen und wohlgerüstet, zog ich ins Examen, und als die Würfel zu meinen Gunsten gefallen waren, schritt ich durch die überschwengliche Freude meiner Kameraden stumpf, blaß und hart davon.
Auch das Glück meiner Eltern vermochte nicht, mich zu rühren. So schnell wie möglich warf ich das schwarze Prüfungshabit von mir und stellte mich wieder an den Werktisch meines Vaters. Dieser wehrte sich unter Hinweis auf meine neue Würde gegen meine Hilfe, verlangte, ich solle mich durch einige ausgelassene Tage austoben; schwieg aber endlich mißvergnügt und kopfschüttelnd, als er sah, daß all seine Liebe und seine Erregung an mir wie Wasser an einer Mauer hinabliefen. Meine Mutter irrte blaß durch die Stuben und betrachtete mich oft furchtsam aus einem geborgenen Winkel. Aber keines fragte nach dem Grunde meiner Freudlosigkeit.
Es war wieder Frühling, und alle Stunden des Tages, die mir der Dienst um meine Eltern frei ließ, brachte ich im Freien zu. Dort wanderte ich bis ans nächste Dorf heran, warf mich ins junge Gras und verlor mich an den Anblick des Himmels. Dies ruhe- und ziellose Wandern des weißen Gewölks ergriff mich noch allein; dies Kommen und Hinabtauchen des unbegreiflichen, was in jeder Wolke ist, löste die dumpfe, enge Härte in mir zu einem schwindenden Kreisen, daß mir die feste Erde, auf der ich ruhte, vorkam wie ein schwankes Schiff, das mich davontrug. Irgendwohin. Das Ziel war mir gleich. In dem Gefühl, losgelöst und ungeborgen zu sein, beruhte einzig der Friede jener verträumten Stunden. Und einmal, da ich, trunken von endlosen Fernen, mein Gesicht zur Seite neigte, sah ich die Spitze des Heisterberger Ratsturmes wie einen ins Feld gesteckten Stock, der wartete, daß jemand komme und ihn zu rüstiger Reise ergreife. Vielleicht, sann ich, wird alles, was mir in den Mauern meiner Stadt Schweres widerfahren ist, einst eine Stütze auf der Wanderung, die nun beginnt. Als aber auf dem Nachhausewege der Schall meiner erfrischten Schritte von den engen Gassen Heisterbergs wie keifend nachgeäfft wurde, zog meine Seele diese schüchternen Fühlfäden wieder an sich und war, wie vorher, hart, fest, empfindungslos, gleich ausgedörrtem Holz.
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Ich hatte die Reife für die letzte Fessel meines Lebens erreicht.
Eines Tages trat ich im leichten Abenddunkel aus dem Hause, um in einem Wandel übers Feld mich wieder zu stärken. An der Ecke des Mahnschen Hauses wurde ich von hinten zaghaft am Ärmel gezupft. Als ich mich umdrehte, stand Wally vor mir. Sie zog verwirrt an dem großen Tuch, womit ihr Kopf umhüllt war und sagte, sie müsse mich noch einmal sprechen. Ohne meine Antwort abzuwarten, stieg sie die steinerne Treppe zum Stadtgraben hinunter, schritt über die Brücke der Neiße und schlug den Weg nach dem Florianiberge ein. Sie ging hastig und gebeugt, ohne nach mir zu sehen, und ich folgte ihr in einem Abstand von zwei oder drei Schlitten. Auf der Höhe des Berges, neben dem winzigen Kirchlein, machte sie endlich Halt und sank erschöpft auf die hölzerne Bank. Dort saß sie lange, sah nur in ihren Schoß und atmete abgerissen und schnell. Ich stand in eisigem, feindseligem Schweigen neben ihr und lichtete, um recht entfernt zu sein, meinen Blick über das schwach belichtete Feld gegen das Schneegebirge, das in der Weite wie ein graublauer Schleier hing.
»Du gehst in einigen Tagen aus Heisterberg fort?« fragte Wally unvermittelt, ohne den Kopf zu heben, als spreche sie mit sich selber.
»Vielleicht, ja«, antwortete ich.
»Dann werden wir uns nicht mehr sehen«, sagte sie leiser.
»Nein«, erwiderte ich hart.
Sie neigte den Kopf noch tiefer, als habe sie einen Schlag erhalten und schwieg lange.
Dann richtete sie sich auf, strich das Tuch in den Nacken und sah lange durch das Mondlicht auf etwas ganz Fernes. »Ich weiß alles, was du leidest«, fing sie nach einer Pause mit tiefer, stiller Stimme wieder zu sprechen an. »Ich wußte es schon an dem Tage, an dem ich dich das erstemal sah, auf der Straße aus dem Seminar, als du gingst wie gestoßen. – Und ich wäre gern gewesen wie das Mondlicht dort um den stummen, harten, schwarzen Berg. Aber du hast es mich nicht sein lassen, wie ich auch gebettelt habe darum ... da ist dann alles so gekommen.« – – Sie setzte aus und wartete. Aber ich brachte meine Lippen nicht auseinander. Es war, als presse mir eine Faust den Mund zu.
Durch die Bäume kroch das Rauschen der Neiße über das Gras bis zu unsern Füßen.
Wally wandte sich um und starrte, den Leib auf steife Arme gestützt, über den Abhang hinunter.
»Mein Zweig geht in den Strudel«, sprach sie dann mit stierer Stimme. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich muß dennoch ...«
»Was mußt du?« fragte ich.
Doch sie hörte nicht auf mich, sondern redete abgebrochen, stotternd weiter: »Ich weiß nicht, was das ist ... ein Gutes ... ein Schlechtes ... ach, und wenn es keine Hilfe ist ... Menschen ... Menschen, was dann!?
Wenig gerührt, ließ ich sie kämpfen. Da riß sie sich plötzlich aus dem Wirbel los, sprang entschlossen auf, knüpfte sich das Tuch fest und sprach demütig zu mir: »Verzeihe! Was ich von dir zu erbitten habe, ist dies: Gib mir noch einen einzigen Kuß, und wenn es dir möglich ist, lege das letzte Fünkchen Liebe hinein, dessen du für mich noch fähig bist, deinen besten Segen, deinen reinsten Willen. Sorge dich nicht, habe keine Reue. Aber wisse, ich werde es brauchen.«
Und sie hielt mir ihr Gesicht hin. Ich sah, daß es totenblaß und eingefallen war, und es begann, heiß und sprengend in meiner Brust zu wogen. Doch ich würgte das Mitleid in mich hinein, weil der Gedanke kam, daß, in vielleicht wenigen Augenblicken schon, Kinzel dies Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedecken würde. Daher legte ich kühl und leicht meinen Mund auf ihre kalte Stirn.
Wally stieß einen schwachen Schrei aus, als habe sie einen tödlichen Stich erhalten, taumelte zurück und ging stumm über den Berg hinunter.
Drei Tage danach waren Kinzel und sie aus Heisterberg spurlos verschwunden.
Nach einem Jahre tauchte der Kommis wieder auf. Verlottert und verludert. Das Mädchen blieb verschollen.«
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Faber schwieg erschüttert und preßte das Gesicht in seine Hände. Nach einer Weile befreite er seine Augen wieder und blickte verloren zum Fenster hinaus, durch das die Frühe kalt und grau hereinsah. »Siehst du, Kastner,« begann er dann, »das ist das Ende der Kette, die mein Leben erwürgt. Ich habe Wally getötet, wenn sie gestorben ist, und in Schande gestoßen, wenn sie noch lebt. Und darum durfte ich nach dem reinen Herzen, nach Liese Plaschke, meine Hand nicht ausstrecken. Ich durfte nicht und wollte nicht, wollte nur an ihr gut machen, was ich an der andern verbrochen habe.
Vielleicht, daß ich dadurch ein zweites Mal schuldig geworden bin, weil ich dies kindhafte Mädchen zu meiner Buße mißbraucht habe. Dann – ja – dann gibt es keine Rettung mehr für mich aus diesem grauen Wirrsal!!« –
Faber schrie die letzten Worte fast wie einen Notruf aus. Sie klangen noch in der stillen Stube, da wich, wie von Geisterhänden gelöst, die Tür aus dem Schloß und schwang, langsam knarrend, in den Angeln weit auf, bis sie ans Bett anschlug.
Auf der Schwelle kniete Liese, noch in der Stellung einer Lauschenden, die Arme weit ausgebreitet und das Gesicht bestürzt über ihre Bloßstellung. Sie hatte sicher, von Sorge und Neugier getrieben, die ganze Nacht vor der Tür auf dem Flur zugebracht und die Erzählung Fabers mit angehört. Aus seinen letzten verzweifelten Worten mußte sie die Überzeugung gewonnen haben, daß die Macht über das Schicksal meines Freundes in ihren Händen liege. Halbbewußt hatte sie dem Drang, sich zu opfern, nachgegeben und kauerte nun da wie ein Mensch, um den sich Gram und Freude streiten. Ich war von dem Sitz aufgesprungen, und auch Faber hatte sich ein wenig aufgereckt, erstaunt über den Einbruch des Mädchens, das jetzt zu zittern begann, als sie seine verstörten Züge gewahrte. Doch bald wich diese herzliche Angst von ihr. Sie faltete die Hände nach unten und senkte, einen Augenblick sinnend, den Kopf. Als sie ihn hob, war alle Beklemmung von ihr gewichen, strahlte ihr Gesicht im Glanz eines schmerzvollen Glückes, und immer mit den Blicken an meinem Freund hängend, flüsterte sie zu ihm herauf: »Herr, warten Sie bloß eine kleine Weile!«
Dann huschte sie die Treppe hinunter und erschien bald darauf mit demselben Bündel, das sie vor acht Tagen in die Birken getragen hatte. Sie legte es vor den Füßen Fabers auf den Boden, kniete daneben und fing an, es eilig aufzubinden und darin herumzusuchen. Ein Paar Schuhe, eine Taille, ein Rock, Strümpfe, ein Tüchelchen und ein Stück vertrockneten Brotes wurden von ihren hastigen Händen über die Diele gestreut. Zu unterst lag ein kleines Päckchen in Papier, vielfältig mit einem roten Wollfaden verschnürt. Das reichte sie Faber herauf und sagte: »Lieber Herr, da nehmen Sie, was ich Ihnen wiedergeben muß. Das andere freilich werden Sie mir lassen müssen; das, was da liegt, und was ich in mir trage von Ihnen. Denn, daß ich anders seh'n und sinnen kann, anders lachen und geh'n, anders sein und Besseres tun kann, das alles, was Sie mir gegeben haben, gelt, mein Herr, das darf ich behalten?!«
Sie sprach leise, vielfältig stockend, die Augen verschämt niedergeschlagen.
Faber öffnete das Päckchen, und ein dürres Sträußchen Blumen, mit einem Faden Seide umschlungen, eine Schleife und ein trockener Tannenzweig kamen zum Vorschein.
»Und was soll das?« fragte er.
»Ach, mein Herr, das sein doch die Blumen und die Schleife, die Sie mir am Kommuniontage gegeben haben und das Zweigel aus'm Busche, wissen Sie, wo Sie mir den Packs getragen haben, weil ich nicht mehr fort konnte.«
»Warum soll ich das nehmen?« sprach Faber.
»Weil Sie mir genug gegeben haben und jetze fortgehen müssen von hier«, antwortete das Mädchen.
»Liese, habe ich dir wehgetan?« fragte Faber ergriffen.
Sie lenkte ihr Auge auf ihn, und unter glücklichen Tränen antwortete sie: »O ja, Herr, wie die Sonne dem Baume wehtut, wenn sie auf ihn scheint, daß er blühen muß vor lauter Schmerze, also haben Sie mir wehgetan. Aber jetze, jetze is Zeit, daß Sie fortgehn.«
Sie schnürte eilig ihr Bündel, erhob sich und trat an Faber heran, dessen Gesicht in heiliger Blässe leuchtete.
»Und wirst du nie denken, ich habe dich betrogen, Liese?« fragte er das Mädchen leise.
Statt aller Antwort beugte sie sich und küßte seine Hand. Dann war sie verschwunden. Bald hörten wir ihre Schritte durch das Gras rauschen, wie wenn ein Vogel im Laube davonfliegt. – – – – – – – –
Faber stand lange wie ein Erlöster und schwieg gleich einem Menschen, der aus bleiernem Schlafe zu lichtem Traume erwacht ist.
»So sind Willmanns Worte doch wahr geworden, daß meine Liebe ins Sonnenhafte gedeihen soll«, sagte er dann und schüttelte voll Verwunderung das Haupt.
Nach einigem Sinnen setzte er hinzu: »Menschen binden uns, und Menschen lösen uns. Wir werden von einigen gerichtet, von andern erhoben.«
Darauf sah er sich mit umfangendem Blick in der Stube um, als nehme er Abschied, langte von der Wand das kleine Bild seiner Mutter, brach es aus dem Rahmen und steckte es zu sich. »Komm, laß uns gehen, Kastner, denn der Morgen ist nahe«, sprach er dann fest und ruhig, ergriff Stock und Mantel und verließ, vor mir herschreitend, das Zimmer.
Einige Steinwürfe von der Schule entfernt, dem Birkenwäldchen gegenüber, durch das der Weg über Raspenau in die Welt hinausführte, häufelte sich am Rand des Wecknitzer Kessels ein kleiner Hügel, auf dem ein breitschirmiger, dichter Feldbirnbaum im lichten Weiß seiner brechenden Knospen stand. Dorthin lenkte Faber seine Schritte, und während des Hinganges sprach er: »Menschen binden uns, und Menschen lösen uns, und deren Hände uns aus dem Grabe heraus noch fesseln, denen muß man das Knie auf die kalte Brust setzen und den Griff ihrer Finger aufbrechen. Die Stunde, da ich dies darf, ist heute für mich gekommen, denn nun sind meine Hände ohne Makel. In all den Jahren meiner Buße und des leidvollen Wartens hatte ich nur die Form des Lebens. In Wirklichkeit aber irrte ich als Toter um die Hügel meiner Toten und rang mit ihnen, daß sie mich entließen in meine Sehnsucht, die immer ferner und ferner her lockte. Denn wie der Baum dem Samen, den er entläßt, seine Art aufzwingt, wie die Welle in die andere vergeht, um sich zu wiederholen: so erben auch die Menschenkinder die Fesseln derer, die sie zeugten, und Tausende und Abertausende wachsen und welken nutzlos hin wie das Gras der Gräber.«
Unter diesen Worten waren wir an dem Baum des Hügels angekommen. Faber breitete seinen Mantel aus und lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, indem er sprach: »Hier wollen wir warten, bis die Sonne kommt. Ich bitte dich, Kastner, bleibe diese letzten Stunden noch bei mir.«
Links von uns schnitt zwischen Weiden, die silbriggrau wie schwach bewegter Rauch wallten, der Fingergraben durch den engen Kessel und zog weiter hinten eine sanfte Furche zwischen den Feistelbergen ins Land hinaus. In dieser Einsattelung quoll jetzt der erste Schimmer des Tages herauf, ein weißes, machtloses Licht, schon zu stark zum Vergehen und noch zu schwach zum Blühen. Dort hinein sah Faber lange, als warte er, daß etwas daraus herkomme in ihn. Und da er eine Weile vergeblich geharrt hatte, senkte er den Kopf und ward wieder traurig.
»Viele Nächte«, sprach er, »habe ich durchwacht, bin in Feldern und Wäldern umhergeirrt und habe mich wohl auch auf den Kirchhof in Raspenau geschlichen, um an den Gräbern zu sitzen. Denn wo immer ein Mensch unter dem Hügel ruht, da liegt unser Vater, unsere Mutter, unsere Schwester, oder unser Bruder. Aber die Erlösung für den Lebendigen steigt ja nicht aus den Gräbern. Trotzdem wartete ich in verblendeter Treue, daß sich mein Morgen aus dem Leibe von Gespenstern gebäre. Die Sonne kam dann wohl; aber es wurde nicht Tag für mich. Denn der Tod meiner Eltern war schwer und trostlos und nahm den Bann nicht von mir, mit dem ihr Leben mich gekettet hatte.
Etwa ein Jahr nach meinem Weggange aus Heisterberg fand meine Mutter eines Morgens den Vater tot vor dem Werktisch sitzen, mit dem Oberkörper über seine Arbeit gesunken, den Hammer in der kalten Hand. Obwohl er seit Jahren keine Beziehung mehr zur Kirche hatte, wurde ihm auf das inständige Bitten meiner frommen Mutter das christliche Begräbnis gewährt. Doch es verlief, wie die Totenfeier für einen Ausgestoßenen. Nur wenige folgten der Leiche auf den Kirchhof. Der wahnsinnige Dorn-Schuster, über und über mit Blumen besteckt, ging eifrig gestikulierend und unter fortwährenden Selbstgesprächen in dem kleinen Schwarm. Von ferne schwankte Rinke dem Sarge nach. Er weinte von Zeit zu Zeit laut auf, riß den Hut herunter und schlug an seine Brust. Als das letzte Lied am Grabe gesungen wurde, erschien sein blasses, gramvolles Trinkergesicht über der Mauer, denn er hatte sich nicht auf den Gottesacker getraut. Plötzlich schrie er in höchster Pein mit fast tierischer Stimme: »Ich bin ein Hund! Ich bin ein Hund!« und hörte nicht auf, bis ihn der Polizist abführte. Dorn las alle Blumen von seinen Kleidern, warf sie dem Sarge nach, kniete hin und küßte inbrünstig die Totenbretter. Dann lief er, von großer Angst gepackt, durch die Straßen der Stadt ins Spital zurück.
Am tiefsten wurde meine Mutter davon erschüttert. Sie sah in diesem Fluch über das Grab hinaus die Strafe Gottes und hielt sich von da an eigentlich nur noch in der Kirche auf. Sie lag vom Morgen bis zum Abend hinter den Bänken im finstersten Winkel auf den Knien und betete. An einem hellen Sommertage sahen sie Leute ein Fenster unseres Hauses nach dem Stadtgraben zu öffnen und, mit einem langen, weißen Mantel angetan, auf das Fensterbrett treten. Ihr Gesicht war glückvoll, und sie sang ein ganz leises Lied. Ehe noch jemand zu Hilfe kommen konnte, breitete sie die Arme aus und stürzte mit dem jauchzenden Ruf: »Der Himmel!« auf die Straße.
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Auf halbem Wege ist mein Vater umgekommen, der ehrwürdige Wahn hat meine Mutter in den Tod verwirrt. Von den Gräbern der Ahnen wehte eine Luft der Angst. Und ich war zehn Jahre ein Mann des halben Weges, litt weiter am alten Wahn und den Fesseln des Gewesenen. Aber in den Söhnen wird ja nicht bloß das Vergangene wiedergeboren, sondern es kommt mit ihnen das Uranfängliche, das das wahre Künftige ist, zur Welt. Ob wir auf seidene Kissen oder auf Stroh in dieses Leben fallen: ein jeder Mensch ist ein neues Gottes-, Welt- und Menschengericht.
Ich war das Kind meiner Eltern in Not und Treue; nun bin ich mein eigener Vater geworden, mein Sohn und mein heiliger Geist. Es ist ein neues Sehen in mir, ein neues Wissen und Sehnen. Das will ich den Menschen bringen: Denn die alten Wahrheiten sind schal geworden. Sie gleichen leeren Hülsen und Glocken, die das Geläut verloren haben.«
Dieses alles sprach Faber wie einen hohen Gesang in das Morgenlicht hinein, das sich immer heller entzündete. Aus seinem Gesicht war alle Düsterkeit gewichen, und der Klang seiner Stimme quoll über von eherner Sanftmut.
Der Wald des Feistelberges trat immer deutlicher aus der Dämmerung heraus und es war, als wandere er aus der Ferne zu uns heran. Von Raspenau tönte wie ein traumhaftes Lied der Stundenschlag der Uhr.
Faber achtete auf alles in heiterer Bereitschaft und sprach dann: »In einer Stunde kommt die Sonne. Wir wollen uns derweil hinlegen und schlafen. Dann gehst du in deinen Dienst und ich in meinen.«
Er wickelte sich in den Mantel und versank sogleich in tiefen Schlaf. Ich war überwach von den Ereignissen der Nacht, und während ich allem noch einmal nachsann, betrachtete ich voll Staunen das Gesicht meines ruhenden Freundes, der nach den fast übermenschlichen Anstrengungen dalag, stark und schön, wie einer, den Frohsinn ermüdet hat, und ich wurde fast traurig und zaghaft im Betrachten dieses Unzerbrechlichen.
Indessen erwachte das Geflöt der Amseln im Walde. Lerchentriller schossen in die Höh' und taumelten wieder schlaftrunken ins Gras. Zuletzt wurde es mir auch grau vor den Augen. Ich lehnte mich gegen den Stamm des Feldbirnbaumes und schlief ein.
Ein Gemurmel weckte mich. Als ich die Augen öffnete, schwebte die Sonne wie eine riesige, glühende Hostie über den Feistelbergen, und Faber stand außerhalb des Baumschattens auf dem Hügel, von dem ersten Licht umflossen und redete in das Gestirn hinein. Jetzt, da er sah, daß ich wach sei, trat er an mich heran, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich danke dir von Herzen, Kastner! Du hast mir das Beste gegeben, was ein Mensch dem anderen geben kann: Du warst mir ein Licht auf meinem Wege, und deine treue Seele klang mir den Sinn meines Sinnens wider. Lebe dein Wohl! das ist mein Wunsch. Und wenn du mir einen Gefallen erweisen willst, so sieh dann und wann beim alten Plaschke nach, dem ich meine Sachen schenke. Grüße ihn herzlich von mir und gib Liese diese Andenken wieder. Sage ihr dabei: Die Getrennten sind nicht geschieden. Dann hat ihr Leben ein Hoffen.«
Ich fragte ihn noch, was ich der Schulbehörde sagen solle und wohin er zu reisen gedenke.
Er antwortete: »Sprich: Er hat als ein Tor töricht gehandelt und ist seinen Füßen nachgelaufen.« Damit schritt er den Hügel hinunter und verschwand in dem Gewirr der Obstbäume, zwischen den Hütten, in denen da und dort ein Webstuhl dumpf zu stampfen begann. Der Morgenwind strich durch die Kronen und trieb die Blütenblätter in die Luft, daß sie wie ein weißer Regen von der Erde in den Himmel wirbelten. Der Nadelwald rauschte ehern wie ein ferner Wasserfall; die Birken wiegten sich mit leisem Gesäusel, und ihre jungen Blätter zitterten wie der unruhige Schleier grüner, tanzender Mücken um die weißen Stämme.
In Gedanken versunken, stieg ich noch einmal in Fabers Stübchen hinauf, um mir alles fest einzuprägen. Als ich aus dem Fenster in den Wecknitzer Kessel sah, hörte ich, schon tief im Birkenwäldchen, die Stimme meines Freundes jenes Lied seiner Mutter anstimmen, das er gesungen hatte, als ich ihn das erstemal einsam und verdüstert an dem kleinen Wasser traf, den Hut im Nacken, ratlos mit dem Stock in den Wellen rührend.
Und ob mein Schiff vor Anker liegt
bei ganz konträrem Winde:
Ich hab' die Hoffnung immer noch,
daß ich den Ausweg finde.
Aber nun klang es wie ein Triumphgesang über den Tod, wie ein Auferstehungslied des Lebens.