Читать книгу Der Tod des Vergil - Hermann Broch - Страница 9

FEUER - DER ABSTIEG

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Inhaltsverzeichnis

Er lag und lauschte, von Zeit zu Zeit, wenn auch in immer größeren Abständen und ohne neuerlichen Blutauswurf, packte es ihn aufs neue, und anfangs hatte er sogar geglaubt, nun doch den Sklaven aus dem Nebenraum herrufen zu müssen, damit der Arzt geholt werde; aber das Rufen hätte zu viel Mühe gekostet, und die Störung durch den Arzt wäre unerträglich gewesen: er wollte allein bleiben -, nichts war dringlicher als allein zu bleiben, um nochmals und nochmals alles Sein in sich zu versammeln, um lauschen zu können; dies war das Dringlichste. Die Beine ein wenig hochgezogen, hatte er sich zur Seite gerollt, sein Kopf ruhte auf den Kissen, die Hüfte drückte sich in die Matratze ein, die Knie waren aufeinander geschichtet wie zwei fremde Wesen, und in einer sehr großen Entfernung wohnten die Fußknöchel, desgleichen die Fersen. Wie oft, oh, wie oft schon hatte er so auf die Erscheinungen des Liegens achtgehabt ! Ja, es war geradezu beschämend, daß er sich von dieser kindischen Gewohnheit nicht losreißen konnte! Er erinnerte sich genau jener für ihn höchst merkwürdigen Nacht, in welcher er - als Achtjähriger - erstmalig dessen innegeworden war, daß es am bloßen Liegen etwas zu beobachten gab: es war in Cremona zur Winterszeit; er lag in seiner Kammer, die Tür, welche zu dem stillen Peristylhof hinausführte, war rissig, schloß schlecht, bewegte sich ein wenig, und das war unheimlich; draußen strich der Wind raschelnd über die winterlich mit Stroh zugedeckten Beete, und von irgendwoher, wahrscheinlich von der baumelnden Laterne unter dem Torweg, kam taktmäßig pendelnd der schwache Widerschein eines Lichtes in die Kammer geglitten, kam immer wieder, kam wie ein letztes Echo unendlichen Flutens, wie ein letztes Echo unendlicher Zeitabläufe, wie ein letztes Echo eines unendlich fernen Auges, so verloren, so gebrochen, so drohend vor Ferne, so ferneträchtig, daß es gleichsam eine Aufforderung war, nach dem Bestand und Nichtbestand des eigenen Selbst zu fragen-und genau so wie damals, freilich durch die seitdem allnächtlich angestellte Wiederholung auch bewußter gemacht und verdeutlicht, genau so wie damals nach Bestand und Nichtbestand seiner Körperlichkeit fragend, genau so spürte er auch heute jede einzelne der Stellen, an denen sein Körper am Lager aufruhte, und genau so wie damals waren sie Wogenkämme, über die sein Schiff mit leichtem Eintauchen hinwegschwamm, während sich dazwischen unermeßlich tiefe Wogentäler auftaten. Gewiß, es ging nicht darum, und wenn er jetzt hatte allein bleiben wollen, so war es wahrlich nicht geschehen, um kindische Beobachtungen fortzusetzen, zu denen er den kleinen Nachtgefährten ohneweiters hätte hierbehalten können, nein, es ging um Wesentlicheres und Endgültigeres, um Etwas, dessen Wirklichkeit sehr groß sein mußte, so groß, daß sie sogar die der Dichtung und ihres Zwischenreiches zu übertreffen hatte, es ging um etwas, das wirklicher sein mußte als Nacht und Dämmerung, und nicht nur wirklicher, sondern damit auch irdischer sogar, es ging um etwas, für das es sich verlohnte alles Sein in sich zu versammeln, und ' verwunderlich war nur, daß sich das Kindische und Nebensächliche nicht gründlicher zurückdrängen ließ, daß es mit seinen Bildern und Aber-Bildern wie eh und je vorhanden war, daß in der Kette der Erinnerung, in die wir geschmiedet sind, die ersten Glieder die gewichtigsten sein sollten, als wären sie, gerade sie, die wirklichste Wirklichkeit. Fast schien es unmöglich, mehr noch, fast schien es unstatthaft, daß unsere letzterreichbare, wirklichste Wirklichkeit sich darauf beschränkte bloßes Erinnerungsbild zu sein! Nichtsdestoweniger, bildgesegnet und bildverflucht ist das menschliche Leben; nur in Bildern vermag es sich selbst zu erfassen, unbannbar sind die Bilder, sie sind in uns seit Herdenbeginn, sie sind früher und mächtiger als unser Denken, sie sind im Zeitlosen, schließen Vergangenheit und Zukunft in sich ein, doppelte Traumerinnerung sind sie, und sie sind mächtiger als wir: Bild sich selber war er, der hier lag, und hinsteuernd zu wirklichster Wirklichkeit, getragen von unsichtbaren Wogen, eintauchend in sie, war das Bild des Schiffes sein eigenes Bild, uns der Dunkelheit kommend, in die Dunkelheit ziehend, in die Dunkelheit sinkend, er war selber das unermeßliche Schiff, das zugleich selber die Unermeßlichkeit ist, und er war selber die M ucht, die in diese Unermeßlichkeit zielt, er selber das fliehende Schiff, er selber das Ziel, unermeßlich er selber, unermeßlich, unübersehbar, unausdenkbar, eine unendliche Körperlandschaft die Landschaft seines Körpers, ein gewaltig hin gebreitetes Unterweltsbild der Nacht, so daß er, verlustig der Einheit menschlichen Lebens, verlustig der Einheit menschlicher Sehnsucht, schon längst nicht mehr sich für fähig hielt die Herrschaft über Nein Selbst auszuüben, wissend um all die getrennten Regionen und Provinzen, in welche sich das eineinzig über das Unendliche hingebreitete Ich hatte zerteilen müssen, wissend um all die Dämonenherrschaften, welche statt seiner deren Verwaltung übernommen hatten, abgesondert nach Bezirken in ihrer Vielfalt; ach, es waren die aufgewühlten, aufgeackerten Bezirke der Nchmerzenden Lunge, es waren die des Fiebers, des unheimlichen, das aus unbekanntesten rotglühenden Tiefen zur Haut heraufwellt, und es waren die Bezirke der Eingeweideabgründe sowie die noch fürchterlicheren der Geschlechtlichkeit, die einen wie die ändern schlangenerfüllt, schlangendurchwachsen, cs waren die Bezirke der Gliedmaßen in ihrem ungezügelten Eigenleben, nicht zuletzt die der Finger, und all diese Dämonenbezirke, manche näher, manche ferner von ihm angesiedelt, manche freundlicher, manche feindlicher sowohl zu einander wie auch zu ihm eingestellt - am nächsten und ihm am meisten zu eigen war ihm noch das Sinnhafte, waren ihm Auge und Ohr und deren Bezirke -all diese Bereiche des Körperlichen und Oberkörperlichen, harte Wirklichkeit des steinernen Knochengerüstes, sie wurden in ihrer ganzen Fremdheit, in ihrer zerfallenen Brüchigkeit, in ihrer Entlegenheit, in ihrer Feindlichkeit, in ihrer unerfaßlichen Unendlichkeit von ihm gewußt, sinnenhaft und übersinnenhaft, denn sie waren insgesamt, und er mit ihnen, als wäre dies das gegenseitige Wissen, in jenem großen Fluten eingebettet, das über alles Menschliche und alles Ozeanische hinausreicht, in jenem gezeitenschweren, aus- und zurückwogenden, aus- und zurückschwingenden Fluten, dessen heimkehrende Brandung stets an des Herzens Küste schlägt und es zum unablässigen Pochen bringt, Bildwirklichkeit und Wirklichkeitsbild in einem, so wogentief, daß in seiner Tiefe sich das Getrennteste versammelt, unvereinigt noch, doch vereinigt zu künftiger Wiedergeburt; oh, Uferbrandung der Erkenntnis, ihre ewig steigende Flut keimgesättigt von jedwedem Trost und jedweder Hoffnung, oh, nacht schwere, keimschwere, raumschwere Frühlingsflut, und, wissend von diesem seinem gewaltigsten Ichbild, wußte er von der Überwindung des Dämonischen durch eine Wirklichkeitssicherheit, deren Bild im Unbeschreiblichen liegt und trotzdem schon die Welteneinheit umschließt. Denn prall von Wirklichkeit sind die Bilder, weil Wirklichkeit stets nur wieder durch Wirklichkeit versinnbildlicht wird -, Bilder und Aber-Bilder, Wirklichkeiten und Aber-Wirklichkeiten, keine wahrhaft wirklich, solange sie alleine steht, dennoch jede einzelne Sinnbild einer letztwirklichen Unerkennbarkeit, die ihre Gesamtheit ist. Und hatte er in den vielen vergangenen Jahren immer gieriger und neugieriger den Zerfall und die Brüchigkeit verfolgt, die er in seinem Körper arbeiten spürte, hatte er, um dieser verwunderlichen und verwunderten Neugierde willen, gerne das Ungemach der Krankheit und der Schmerzen auf sich genommen, ja, hatte er - und was immer der Mensch tut, es wird ihm zu deutlicherem oder undeutlicherem Sinnbild - unausgesetzt den Wunsch in sich getragen, den selten bewußten, dennoch stets ungeduldigen Wunsch, es möge seine körperliche Einheit, die ihm mehr und mehr zu einer Scheineinheit geworden war, endlich aufgelöst werden, je rascher desto lieber, damit das Außergewöhnliche erfolge, damit Auflösung zur Erlösung werde, zur neuen Einheit, zum endgültigen Sinn, und hatte ihn dies alles von frühester Jugend an begleitet und verfolgt, zumindest seit jener Nacht in Cremona, vermutlich jedoch schon seit der Kinderzeit in Andes, sei es zuerst als spielerisch leichte, kindische Ängstlichkeit, sei es als wuchtig gedächtnisauslöschende Furcht, unerinnerbar heute das eine wie das andere, es hatte ihn zugleich auch die Frage nach der Bedeutung solchen Geschehens nie verlassen, sie war in all seinem Vorlauschen, Vorsuchen, Vorfühlen allnächtlich enthalten gewesen, und genau so wie er einst, das Kind in Andes, der Knabe in Cremona, auf seinem Bette gelegen hatte, Knie an Knie gepreßt, eingesenkt sein Geist ins Vorträumen, eingesenkt Geist wie Körper in das Schiff seines Seins, hingebreitet über die weiten Erdflächen, er selber Berg, selber Feld, selber Erde, selber das Schiff, er selber der Ozean, lauschend in die Nacht des Innern und Außen, ahnend wohl seit jeher, daß dieses Lauschen bereits einer Erkenntniserfüllung galt, für die sein ganzes Leben gelebt werden sollte, genau so geschah es ihm" wiederum, geschah es ihm hier und jetzt, geschah es ihm heute; es geschah ihm das, was ihm seit jeher, deutlicher und deutlicher werdend, stets aufs neue geschehen war, er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben.

Konnte es anders sein ?! Aufgerichtet ist der Mensch, er allein, doch ruhend zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode hingestreckt -, auch in solch dreifacher Eigenschaft seines Liegens unterscheidet er sich von sämtlichen ändern Wesen. Aufrecht, zum Wachsen bestimmt, reicht des Menschen Seele aus ihren dunklen Wurzelabgründen im Humus des Seins hinauf bis zum sonnendurchfluteten Sternenrund, aufwärtstragend ihren poseidonisch-vulkanisch finsteren Ursprung, abwärtsbringend das Durchsichtige ihres apollinischen Zieles, und je mehr sie kraft ihres Aufwärts Wachsens zur lichtdurch tränkten Form wird, je mehr sie sich zur Form verschattet, baumgleich sich verzweigend und entfaltend, desto mehr wird sie befähigt, im Schattenlaub ihrer Äste das Dunkle mit dem Lichten zu vereinen; aber wenn sie zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode sich hingestreckt hat, wenn sie selber zur hingebreiteten Landschaft geworden ist, dann ist es nicht mehr ihre Aufgabe, das Entgegengesetzte zu verschmelzen, denn schlafend, liebend, sterbend schließt sie die Augen, und sie ist nicht mehr gut oder böse, sie ist nur noch ein einziges, unendliches Lauschen: unendlich hingebreitete Seele, unendlich vom Zeitenring umschlossen, unendlich in ihrem Ruhen und sohin jeglichem Wachstum enthoben, wachstumlos wie die Landschaft, die sie ist, reicht sie mit dieser als unveränderter, als unveränderbarer saturnischer Bereich durch alle Zeiten hindurch, reicht vom goldenen bis zum erzenen Zeitalter, ja darüber hinaus bis zur Wiederkehr des goldenen, und kraft ihrer Eingeschmiegtheit ins Landschaftliche, kraft ihrer Verkerkerung ins Irdische und in die irdischen Gefilde, an deren Fläche die Sphären des Himmelslichtes und der Erddunkelheit sich scheiden, ist sie gleicherweis sphärentrennende, sphärenverbindende Grenze zwischen den oberen und unteren Regionen, janusartig stets beiden angehörig, denen des Sternschwebens wie denen der Steinschwere, denen des Äthers wie denen der Unterweltfeuer, janushaft die doppelgerichtete Unendlichkeit, janushaft die unendlich hinerstreckte, dämmerhaft ruhende Seele, so daß ihrem lauschenden Erwissen das Oben und das Unten, ohne vereinigt zu werden, bedeutungsgleiche Zonen sein dürfen; bedeutungslos hingegen, keines Erlauschens und Erwissens wert, wird ihr das Geschehen als solches, da sie es weder als Wachstum noch als Verwelken oder Verdorren, weder als Beglückung, noch als Beschwernis, wohl aber als ständige Wiederkehr empfindet, als die ständige Wiederkehr innerhalb ihres eigenen Seins, als die Wiederkehr des allumfassenden saturnischen Ablaufes, in dem die Landschaften der Seele und der Erde sich unendlich erstrecken, ununterscheidbar in ihrem Ein- und Ausatmen, in ihrem Keimen und Reifen, in ihren Ernten und Fehlernten, in ihrem Vergehen und Auferstehen, in den Jahreszeiten ihrer Grenzenlosigkeit, einverwoben der ewigen Wiederkehr, umfangen vom Ring des ewig Gleichen und daher ruhend hingestreckt zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode, ein Lauschen der Landschaft und der Seele, das saturnische Selbstbelauschen sterbensenthobenen Sterbens, golden und erzen in einem.

Er lauschte dem Sterben; es konnte nicht anders sein. Das Bewußtsein dieser Tatsache war ohne Schrecken über ihn gekommen, höchstens mit jener außergewöhnlichen Klarheit, die sich gemeiniglich mit zunehmendem Fieber einstellt. Und jetzt, in der Dunkelheit liegend, in die Dunkelheit lauschend, verstand er sein Leben, und er verstand, wie sehr es ein fortwährendes Lauschen nach der Sterbensentfaltung gewesen war, entfaltet das Bewußtsein, entfaltet der Sterbenskeim, der von Anbeginn an in jegliches Leben gelegt ist und es ausmacht, doppelte und dreifache Entfaltung, eine aus der anderen hervorgehend und an ihr sich entfaltend, jede das Bild der vorausgegangenen und ebenhiedurch sie verwirklichend -, war dies nicht die Traumeskraft aller Bilder und gar jener, welche befähigt sind ein Leben zu bestimmen? verhielt es sich nicht ebenso auch mit dem Bild der Weltennachthöhle, die wundersam und bangniserregend vor Zeitlosigkeit, sternenschwer und ewigkeitverheißend den Tod über das gesamte Sein wölbt? Denn was einstmals, zur Knabenzeit, eine kindlich-kindische Todesvorstellung gewesen war, die Vorstellung vom Grabe, in das der Leib versenkt wird, das hatte sich zu dem großen Höhlenbild entfaltet, und die Erbauung der Gruft an der neapolitanischen Bucht, dort bei der posilippischen Grotte, war daher mehr als eine bloße Wiederholung und Sichtbarmachung der alten Kindheitsvorstellung gewesen; nein, mit dem Bauwerk war des Todes All-Gewölbe sinnbildhaft zum Ausdruck gebracht worden, vielleicht noch immer kindisch infolge solch irdischer Verkleinerung, dennoch Sinnbild des mächtig-allumfassenden Todesraums, in dem er, das Ziel seit jeher wissend und trotzdem es suchend, er, ein Wegesuchender im Gewölbe des Todes ein ganzes Leben wachend verträumt hatte. Um der allumfassenden Macht dieses Zieles willen hatte er so lange, wahrlich überlange nach seiner eigentlichen Bestimmung gefahndet, um dieses immer gewußten, trotzdem niemals bewußten Zieles willen hatte er, von jeder Laufbahn unbefriedigt, jede vorzeitig abgebrochen und hatte weder beim Beruf des Arztes noch bei dem des Sternkundigen, noch bei dem des philosophischen Gelehrten und Lehrers verbleiben oder gar sich beruhigen dürfen: das heischende, das unerfüllte Erkenntnisbild, das ernste Erkenntnisbild des Todes war unentwegt vor seinen Augen gestanden, und kein Beruf vermochte dem gerecht zu werden, da es keinen gibt, der nicht ausschließlich der Lebenserkenntnis untertan wäre, keinen mit Ausnahme jenes einzigen, zu dem es ihn schließlich getrieben hatte, und der Dichtung heißt, dieser seltsamsten aller menschlichen Tätigkeiten, der einzigen, die der Todeserkenntnis dient. Nur wer im Zwischenreich des Abschiedes lebt - oh, es lag hinter ihm, und es gab keine Rückkehr -, nur wer am Ufer des Flusses verharrt, quellenfern, mündungsfern in der Dämmerung, nur der ahnt den Tod, nur der ist dem Tode verhaftet, und dem Tode dienend, gleicht er dem Priester, der kraft seines Amtes, seines über dem persönlichen Beruf stehenden Priesteramtes, vermittelnd zwischen dem Oben und Unten, dem Dienst am Tode verpflichtet und damit ebenfalls in ein Zwischenreich des Abschiedes verwiesen ist; ja, priesterlich hatte ihm stets die Aufgabe des Sängers gedünkt, vielleicht ob der seltsamen Todes weihe, die der entzückten Inbrunst jeglichen Kunstwerkes innewohnt, und hatte er es sich auch bisher bloß selten einzugestehen gewagt, vielleicht sogar manchmal ab gelehnt, genau so wie er in seinen ersten Dichtungen es nicht gewagt hatte an den Tod heranzutreten, vielmehr bemüht gewesen war, mit der lieblich-liebenden Gewalt inniger Liebe zum Sein sich des Dräuenden, dennoch schon Anwesenden zu erwehren, er hatte solchen Widerstand mehr und mehr aufgeben müssen, da die dichtende Gewalt des Todes gar bald als die stärkere sich erwiesen hatte, Schritt für Schritt ein Heimatsrecht sich erobernd, das dann in der Äneis zum vollen Herrschaftsrecht geworden war, dem Göttersinn folgend: die klirrende, blutige, mahnende, unabänderliche Herrschaft des Schicksals, die allüberwindende Herrschaft des Todes, die eben darum auch sich selbst überwindet und sich selbst aufhebt. In den Tod nämlich ist jedwede Gleichzeitigkeit eingesenkt, alle Gleichzeitigkeit des Lebens und der Dichtung ist in seiner Allesauf hebung für ewig auf bewahrt, er ist erfüllt von Tag und Nacht, und sie durchdringen einander zur zwiefarbenen Wolke der Dämmerung; oh, der Tod ist erfüllt von all der Vielfalt, die aus der Einheit hervorgegangen war, um sich in ihm wieder zur Einheit zu schließen, er ist erfüllt von der Herdenweisheit des Beginns und von der Vereinzelungserkenntnis des Endes, sie beide zu einer einzigen Sekunde des Seins zusammenfassend, zu jener Sekunde, die bereits die des Nicht-Seins ist, denn in unaufhörlichem Wechselspiel mit dem Seinsablauf steht der Tod, und unablässig wird der in ihn einmündende, von ihm empfangene und ursprungswärts rückgewandte Zeitenablauf zur Einheit des Gedächtnisses verwandelt, zum Gedächtnis der Welten und Aber-Welten, zum Gedächtnis des Gottes: nur wer den Tod auf sich nimmt, vermag den Ring im Irdischen zu schließen, nur wer des Todes Auge sucht, dem bricht nicht das eigene, wenn es ins Nichts schauen soll, nur wer zum Tode hinlauscht, der braucht nicht zu flüchten, der darf bleiben, denn seine Erinnerung wird zur Gleichzeitigkeitstiefe, und wer in die Erinnerung taucht, dem erklingt der Harfen ton jenes Augenblickes, in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen soll, geöffnet zur Wiedergeburt und Auferstehung unendlicher Erinnerung —Kindheitslandschaft, Lebenslandschaft, Todeslandschaft, sie sind Eines in ihrer unwandelbaren Gleichzeitigkeit, heraufahnend die Landschaft der Götter, die Landschaft : des Ur-Anfanges und des Ur-Endes, unwandelbar geeint von dem Reif des über sie hingespannten, siebenfarbig regenverhauchten Bogens, oh, die Gefilde der Väter. Vieles geschieht der Erinnerung zuliebe und enthüllt sich zuletzt doch als ein Lauschen nach dem Tode, und vieles, das dem Tode gelten will, ist bloß Erinnerung, bange Sehnsuchtserinnerung, die ängstlich behütet wird, auf daß sie nimmermehr verlorengehe. So auch und nicht anders war es um die meeresumwehte, frühlingsver-schattete, laubbegrünte Gruft bei der posilippischen Höhle bestellt, um diese beinahe spielerisch erbaute Heimstätte des Todes, voll von Erinnerung, von Kindheitserinnerungen, die er, ohne sich davon Rechenschaft zu geben, in diese gärtnerische Heiterkeit miteingebaut hatte, so daß alles, was von den Kinderaugen im väterlichen Hofe zu Andes erblickt worden war, sich nun in verkleinertem Maße und nur wenig verändert hier wiederfand, so die Zufahrtsstraße zum Hoftor, nun als Hauptweg durch den Garten, ausgestattet mit der nämlichen Doppelbiegung, links von dem nämlichen Lorbeergebüsch besäumt, rechts an den Hügel seiner Kinderspiele heranführend, mochte hier dieser Hügel auch nur von einigen Zypressen statt mit dem alten Ölbaumhain bekrönt sein, während hinter dem Gebäude, mächtig-ruhend da wie dort, verhangen mit Vogelgezwitscher da wie dort, sich die Ulmen erhoben, damals wie heute Schutz der Einsamkeit und des Friedens, und wie einst als Knabe hätte er mit der Hand über die Zaunhecken hinstreichen können, derart deutlich ließ sich alles zurückträumen, derart deutlich und für alle Zeiten gültig war es vorwärtsgeträumt gewesen, dem Tode zugeträumt und dem Sterben, dem Ziel alles träumenden Lauschens seit den Kindheitstagen, dem Ziel und dem Quell seiner Erinnerung, klar, unverlierbar, erkenntnissucherisch, obwohl das Bild der Gruft nur einen kleinen, einen überaus kleinen Gedächtnisausschnitt im Vergangenheitsstrom darstellte, eine recht handgreifliche Insel, fast zufallsmäßig aufgetaucht in ihrer kleinen Handgreiflichkeit, verschwindend und geradezu vergessenswürdig vor der rauschenden Flutenbreite, die in sein unablässiges Lauschen sich ergoß; unablässig wurde Unverlorenes ihm zugeflutet, gedächtnisbreit und wellenbreit, unablässig und weich und groß rollte es daher, Welle um Welle des jemals Erschauten, aufstrahlend in Harfenklang, in unbeschreiblich-bleibendem, immerwährendem Anklang - oh, holde Verkerkerung der Jugend, geborgen und befreiungsbereit -, und es war, als ergössen sich alle Bäche und Teiche des Einst in diesen Strom der Erinnerung, rieselnd zwischen den duftenden Weiden, rieselnd zwischen den schilfbebend begrünten Ufern, liebliche Bilder ohne Ende, sie selber ein von Kinderhand gepflückter Strauß aus Lilien und Levkojen, Mohn, Narzissen und Dotterblumen, das Bild der Kindheit in ewig erwanderter, ewig erdichteter Landschaft, das Bild der Vätergefilde, die er, wohin auch immer er getrieben worden war, überall hatte suchen müssen, Bild seiner einzigen und niemals verlaßbaren Lebenslandschaft, unbeschreiblich-unbeschreibbares Bild trotz sehr großer Helligkeit, Schärfe, Besonntheit, Durchsichtigkeit, trotz dieser niemals erlahmenden farbenreichen Klarheit, mit der es ihn begleitete, so unbeschreibbar, daß es, sooft er es auch geschildert hatte, doch nur im Ungesagten aufgeklungen war, immer nur dort, wo die Sprache nicht mehr ausreicht, wo sie über ihre eigenen, irdisch-sterblichen Grenzen schlägt und ins Unaussprechliche dringt, den Wortausdruck verläßt und - bloß sich selber noch im Gefüge der Verse singend - den atembeklommenen, atemraubenden Sekundenabgrund zwischen den Worten aufreißt, um todesahnend und lebensumspannend in dieser stummen Tiefe, selber stummgeworden, die Ganzheit des Alls zu zeigen, die fließende Gleichzeitigkeit, in der das Ewige ruht: oh, Ziel aller Dichtung, Augenaufschlag der Sprache, wenn sie über alle Mitteilung und über alles Beschreiben hinweg sich selbst aufhebt, oh, die Augenblicke der Sprache, in denen sie selber in die Gleichzeitigkeit eintaucht, so daß es unentschieden bleibt, ob Erinnerung aus der Sprache, oder ob Sprache aus der Erinnerung quillt! oh, in diesen Augenblicken war es gewesen, daß die Kindheitslandschaft zu blühen begonnen hatte, sich selbst zurücklassend, über sich selbst und jede Erinnerung hinauswachsend, über jeden Anfang und über jedes Ende, verwandelt zu den schlicht ländlichen Hirtenordnungen eines goldenen Zeitalters, verwandelt zur Landschaft des latinischen Aufbruchs, verwandelt zur Wirklichkeit der dahinschreitenden herrschend-dienenden Götter, sicherlich noch nicht Ur-Anfang, noch nicht Ur-Ordnung, noch nicht Ur-Wirklichkeit, wohl aber deren Sinnbild, sicherlich noch nicht die Stimme, die aus dem Unbekanntesten, aus dem unausdrückbarst Außergewöhnlichen, aus dem unabänderlich Übergöttlichen hertönen soll, wohl aber ihr Sinnbild, wohl aber die echogleiche Ahnung ihres Seins und fast ihre Gewißheit -, Sinnbild, das Wirklichkeit ist, Wirklichkeit, die Sinnbild wird im Angesicht des Todes. Es waren die Augenblicke der klanggewordenen Todlosigkeit, die lebendig dämmerungsentlösten Augenblicke des Lebens schlechthin, und es waren jene, in denen des Todes wahre Gestalt sich am reinsten offenbarte: seltenste Augenblicke der Gnade, seltenste Augenblicke der vollkommenen Freiheit, den meisten unbekannt, von manchen angestrebt, von sehr wenigen erreicht -, doch wem von diesen wenigen es vergönnt ist solchen Augenblick festzuhalten, wem es verliehen worden ist die flüchtige Flüchtigkeit der Todesgestalt zu erhaschen, wem es im unablässigen Lauschen und Suchen gelingt den Tod zur Gestalt zu bringen, der hat mit deren Echtheit auch die seiner eigenen Gestalt gefunden, er hat seinen eigenen Tod gestaltet und damit sich selbst zur Gestalt gebracht, und er ist vor dem Rückfall in den Humus der Gestaltlosigkeit gefeit. Siebenfarbig und göttermild wölbt sich ihm der Regenbogen der Kindheit über das Sein, täglich neu gesehen, täglich neu geschaffen, die gemeinsame Schöpfung des Menschen und des Gottes, die Schöpfung aus der Stärke des todeserkennenden Wortes: war dies nicht die Hoffnung gewesen, um derentwillen er die Qual eines gehetzten Lebens, bar jedes friedlichen Glückes, hatte ertragen müssen? er blickte zurück auf dieses Leben des Verzichtes und einer noch heute fortgesetzten Entsagung, auf dieses Leben, das ohne Widerstand gegen das Sterben, wohl aber voller Widerstand gegen Gemeinschaft und Liebe gewesen war, er blickte zurück auf dieses im Dämmerlicht der Flüsse, im Dämmerlicht der Dichtung hinter ihm liegende Abschiedsleben, und deutlicher denn je wußte er heute, daß er all dies um jener Hoffnung willen auf sich genommen hatte; vielleicht war er zu verhöhnen und zu schmähen, weil solch großes Lebensaufgebot bisher zu . keinerlei Hoffnungserfüllung geführt hatte, weil die Aufgabe, die er hatte lösen wollen, für seine schwachen Kräfte eine übergroße gewesen war, und vielleicht, weil die Mittel der Dichtkunst sich hiefür überhaupt nicht eigneten, allein, er wußte nun auch, daß es darauf nicht ankommt, mehr noch, daß die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer Aufgabe nichts mit ihrer irdischen Lösbarkeit zu schaffen hat, daß es gleichgültig war, ob seine eigenen Kräfte ausreichten oder nicht, ob irgendein anderer Mann mit besseren Kräften geboren würde, oder ob ein besserer Lösungsbereich als der, den die Dichtung darstellt, irgendeinmal sich finden lassen könnte, all dies war belanglos, denn es war nicht seine eigene Wahl gewesen: sicherlich, Tag um Tag, unzählige Male an jedem Tag hatte er nach freier Wahl entschieden und gehandelt, oder hatte geglaubt, daß es freie Entscheidungen gewesen waren, doch die große Linie seines Lebens war nicht eigene Wahl nach freiem Willen, sie war ein Müssen gewesen, ein Müssen, ein geordnet in das Heil und Unheil des Seins, ein schicksalsbefohlenes, trotzdem befehlsüberhobenes Müssen, befehlend, daß er seine eigene Gestalt in der des Todes suche, um hiedurch der Seele Freiheit zu gewinnen; denn die Freiheit ist ein Müssen der Seele, deren Heil und Unheil stets auf dem Spiele steht, und er hatte sich dem Befehl gefügt, gehorsam seiner Schicksalsaufgabe.

Er rückte ein wenig in den Kissen hinauf, um die schmerzende Brust zu entlasten, sehr vorsichtig, damit die hingebreiteten Landschaften seines Ichs, die ihm Klarheit zu verbürgen schienen, nicht in Unordnung gerieten und nicht etwa sich ineinanderschüttelten, wie dies beim aufgerichteten Menschen der Fall ist, und dann tastete er neben sich nach dem Manuskriptkoffer hin, über dessen rauhlederne Deckelfläche er beinahe zärtlich die Hand hinfingern ließ: heiß und erregend war das Gefühl der Arbeit, das zwingende Entdeckergefühl, das große Wanderergefühl des Schaffens in ihm erwacht, und wäre nicht zugleich auch die große Wanderangst aufgekeimt, die gräßliche Angst des Wegverlorenen, der im Nachtdickicht umherirrt, diese seltsam tiefste Angst, von der alles Schaffen begleitet wird, es hätte das heiß-glückhaft Auffallende in seiner Brust sogar die Todesbereitschaft der mahnenden Schmerzen übertönt, hätte vielleicht sogar die Atemnot gelindert, hätte Fieberhitze und Fieberkälte zum Vergessen gebracht, und nichts hätte ihn mehr hindern dürfen sich sofort an die Arbeit zu setzen, leistungsbereit aufs neue zu beginnen, eingedenk jener Aufgabe, die er bis zum letzten Atemzuge zu erfüllen hatte und die ihm erst mit dem letzten Atemzuge wahrhafte Erfüllung bringen sollte. Nein, nichts hätte ihn von der Arbeit abhalten können, nichts hätte ihn davon abhalten dürfen, und alles hielt ihn ab, tat es so sehr, daß die Fertigstellung der Äneis nun schon seit Monaten völlig stockte und nichts übriggeblieben war als Flucht und wieder Flucht. Und nicht die Krankheit, nicht die Schmerzen, die längst gewohnten, längst gemeisterten, waren daran schuld, wohl aber die unentfliehbare, unerklärbare Beunruhigung, dieses beängstigte Gefühl ausweglosen Verirrtseins, dieses deutlich wissende Ahnen um ein ständig drohendes, ständig vorhandenes übermächtiges Unheil, dessen Wesen unerkennbar war, unentscheidbar seine Herkunft, unentscheidbar ob es im Innen oder Außen lauerte. Sehr vorsichtig atmend, lauschte er regungslos ins Dunkel. Die Kerzen auf dem Kandelaber erlosehen eine nach der anderen, bloß der Öllampe kleingeduldiges Licht neben dem Lager harrte aus, manchmal im Lufthauch an der leise klingenden Silberkette sanft hin und her baumelnd, widergespiegelt in einem schmetterlingsweichen, spinnwebigen Schattenpendeln an der Wand, und während draußen mählich die Straßenwildheit erstarb, und das wirre, ununterscheidbare Getöse sich zu allerlei Gewieher, Gejaunze, Gequake auf löste, das Geschwirr des Festes sich herausschied, mit hellerem und tieferem Gesumm in dem kaleidoskopisch gewordenen Lärmbild versprenkelt, wurde grundbaßähnlich der Gleichschritt abziehender Truppen vernehmbar, anzeigend, daß ein Teil der Wache in die Quartiere einrückte; dann wurde es still, freilich in einer Stille, die alsbald, seltsam schwirrend, ja sie selber das Schwirren, sich zu beleben begann, da plötzlich von weither, von überallher - kam es von den Feldern vor der Stadt, von denen in Andes ? - das Grillengezirpe zu hören war, der Myriadenton der Myriadengeschöpflichkeit, endlos in der Stille, die über das Endlose sich hinerdehnte. Still und mählich verblaßte nun auch der rötliche Widerschein des lichtglänzenden Straßenfestes, schwarz wurde die Zimmerdecke, schwarz bis auf den hellen Fleck oberhalb der Lampe, der nun wie ein sanft hin und her gleitendes Pendelmalen war, und die Sterne vor dem Fenster standen im Schwarzen. War dies das Beunruhigende, nach dessen Ursprung er suchte? Warum war es beunruhigend, da doch das Abflauen des niedrigverzweifelten Gegröles weit eher eine allgemeine Befriedigung hätte bedeuten können? Nein, das Unheil war geblieben, und nun erkannte er es, mußte er es erkennen : es war das Unheil der eingekerkerten Menschenseele, für die jede Befreiung immer nur wieder neue Einkerkerung ist.

Er starrte zum Fenster hin, und die Nacht kreiste in ihrem ungeheueren Raum, die Kuppel von Atlas gedreht, ruhend auf der Schulter des Riesen und besät mit funkelnden Gestirnen, die ungeheuere Nachthöhle, die nichts entläßt; er lauschte den Geräuschen der Nacht, und sie wurden ihm, dem Fiebernden, den es hingestreckt hatte, daß er unter seiner Decke friere und glühe, sie wurden ihm in seiner Überwachheit mit verschärfter Gleichzeitigkeit zur Wahrnehmung angetragen, die Bilder, die Gerüche, die Geräusche des Jetzt zusammen mit denen eines jeden gelebten und erlebbaren Einst, in zweifachem Erinnern des Rückwärts und Vorwärts, so sehr geschwellt von der unabweislichen, unerklärlichen Unheimlichkeit, so sehr unhabhaft entfliehend, so sehr geheimnisverborgen trotz all ihrer Nacktheit, daß er, aufgepeitscht und erlahmt zugleich, ins Chaotische zurückgestürzt wurde, in das Dickicht aller Einzelstimmen -, das Gestaltlose, dem er zu entrinnen geglaubt hatte, war neuerdings über ihn gekommen, nicht als das Ununterscheidbare des Herdenanfangs, hingegen sehr unmittelbar, ja geradezu handgreiflich, als das Chaos der Vereinzelung und einer Auflösung, die durch kein Belauschen, durch kein Festhalten je wieder zur Einheit zu fügen war; das dämonische Chaos aller Einzelstimmen, aller Einzelerkenntnisse, aller Einzeldinge, gleichgültig ob sie der Gegenwart oder der Vergangenheit oder der Zukunft angehören, dieses Chaos drang jetzt auf ihn ein, diesem Chaos war er aus geliefert, ja, dies war es gewesen, seitdem der brausend ununterscheidbare Lärm der Straße sich zu einem Dickicht von Einzelstimmen zu verwandeln angehoben hatte. Dies war es. Oh, jeder ist vom Stimmengestrüpp umgeben, jeder wandert sein Leben lang darin umher, wandert und wandert und ist dennoch in der Undurchdringlichkeit des Stimmenwaldes an die Stelle gebannt, ist verfangen im Nachtsprießenden, verfangen in Waldeswurzeln, die jenseits jeglicher Zeit und jeglichen Raumes ansetzen, oh, jeder istvon den unzähmbaren Stimmen und deren Fangarmen bedroht, von Stimmen gezweige, von den Aststimmen, die einander umschlingend ihn umschlingen, die auseinander herauswachsen, gerade aufschießend und wieder ineinander verkrümmt, dämonisch in ihrer Selbständigkeit, dämonisch in ihrer Vereinzelung, Sekundenstimmen, Jahrstimmen, Äonenstimmen, die sich zum Weltengeflecht, zum Zeitengeflecht verschränken, unverständlich und undurchdringlich in ihrer brüllenden Stummheit, feucht von Schmerzensgestöhn und harsch von der Freuden Wildheit einer ganzen Welt; oh, keiner entgeht dem Urgetöse, keinem ist es zu ersparen, da jeder, ob wissend oder nicht, selber nichts anderes ist als eine der Stimmen, selber zu ihnen gehört und zu ihrer unauflösbar-unzerteilbar undurchdringlichen Drohung -, wie konnte man da noch Hoffnung hegen! unrettbar ist der Verirrte im Dickicht eingekerkert, keine Bresche, keine Lichtung ist zu legen, und wollte er seine Hoffnung noch darüber hinausspannen, darüber hinausschicken, dorthin ins unausdehnbar Unendliche, wo die Einheit, die Ordnung, die Allerkenntnis der Stimmengesamtheit erahnt werden darf, der ahnungsvoll große Akkord ihrer selbst, stimmenschließend, stimmenlösend, der aus letzten Räumen wiedererklingende Echoakkord der Welteneinheit, der Weltenordnung, der Weltenallerkenntnis, die letzte Echolösung der Weltenaufgabe, es wäre solche Hoffnung des Sterblichen vermessen und den Göttern ein Greuel, sie zerbräche an den Wänden der Unhörbarkeit, verhallend im Stimmendickicht, im Erkenntnisdickicht, im Zeitendickicht, verhallend zu einem sterbenden Seufzen; denn unerreichbar ist der Stimmenquell des Zeitenanfanges, er liegt unter allen Wurzeltiefen, er liegt unter allen Stimmen, er liegt unter aller Stummheit, unerdringlich der Wurzelbrunnen der Wälder, in dem der Sternenplan der Einheit der Ordnungen und der Sprache aufbewahrt wird, unerschaubar das Sinnbild aller Sinnbilder, denn unendlich und mehr als unendlich ist die Vielfalt der Richtungen im übexunendlichen Raume, unendlich ist die Anzahl der Vereinzelungen, unendlich ist die Anzahl der Wege und ihrer Verschlingungen, und sogar die Vielräumigkeiten der Sprache und Erinnerung, sogar deren Richtungsreichtum und deren eigene Abgrundsunendlichkeit sind nur ein sehr schwacher, ein sehr spärlicher, ein in den irdisch-geringen Bildern gewobener Widerschein dessen, das von keinem Denken zu erfassen ist, dessen, das in seinem Atem jegliehen Sphärenraum aufbewahrt und dabei von jedem noch so kleinen Sphärenpunkt aufbewahrt wird, sich selbst ein- und ausatmend, sich selbst ein- und ausstrahlend, Widerschein eines vor Sinnbildhaftigkeit schier unaussprechbaren, schier unerinnerbaren, schier unverkündbaren Erkenntnisheils, das mit seinen Strahlen jeglichen Zeitenablauf überholt und jeden Sekundenbruchteil zur Zeitlosigkeit verwandelt: Kreuzungspunkt aller Wege, auf keinem erreichbar, das unverrückbar ewige, das unverrückbar entrückte Wegziel! schon der erste, der allererste Schritt, der in irgendeiner Richtung des Wegdickichts erfolgte, würde zu seiner Ausführung, und sei sie noch so eilig, ein ganzes Leben und mehr als ein ganzes Leben erfordern, es wäre ein unendliches Leben nötig, um eine einzige dürftige Erinnerungssekunde festzuhalten, ein unendliches Leben, um einen einzigen Sekundenblick in die Tiefe des Sprachabgrundes zu werfen! Lauschend in diese Sprachentiefe, hatte er gehofft das Sterben belauschen zu dürfen, hatte er gehofft ein Wissen, wenn auch nur den ahnenden Schimmer eines Vorwissens um jene Grenzerkenntnis zu erhaschen, die bereits Erkenntnis außerhalb der irdischen Erkenntnis wäre, doch selbst die Hoffnung war bereits Vermessenheit angesichts des Unerhaschbaren, das aus den Echowänden des Abgrundes heraufdrang, ein Blinken, das kaum mehr Blinken war, kaum mehr die Erinnerung an ein Blinken, kaum, mehr das Echo einer Erinnerung, ein hauchflüchtiger Hauch, so unsichtbar, daß nicht einmal Musik aus gereicht hätte, solche Unsichtbarkeit festzuhalten, geschweige denn sie als Ahnung des unfaßbar Unendlichen zum Ausdruck zu bringen; nein, nichts Irdisches vermag das Dickicht zu zerreißen, kein irdisches Mittel reicht aus die ewige Aufgabe zu lösen, die Ordnung aufzudecken und zu verkünden, vorstoßend zur Erkenntnis jenseits der Erkenntnis, nein, überirdischen Mächten und überirdischen Mitteln ist dies Vorbehalten, einer Ausdruckskraft, die jeden irdischen Ausdruck weit hinter sich läßt, einer Sprache, die außerhalb des Stimmengestrüpps und aller irdisehen Sprachlichkeit stehen müßte, einer Sprache, die mehr wäre als Musik, einer Sprache, die es dem Auge gestattete, herzschlagend und herzschlagrasch, die Erkenntniseinheit des Seins zu erfassen, wahrlich einer neuen, einer noch nicht gefundenen, überirdischen Sprache bedürfte es, um diese Leistung zu vollbringen, und Vermessenheit war die Bemühung, mit armseligen Versen sich an solche Sprache heranzuwagen, fruchtlose Bemühung und lästerliche Vermessenheit! ach, es war ihm vergönnt gewesen die ewige Aufgabe zu sehen, des Seelenheiles Aufgabe, es war ihm vergönnt gewesen den Spaten anzusetzen, und er hatte nicht gemerkt, daß er sein ganzes Leben hieran verschwendet hatte, das Leben verschwendet, die Jahre vergeudet, die Zeit vertan, nicht etwa, weil er gescheitert war und sich unfähig erwiesen hatte, unfähig nur ein einziges Würzelchen freizulegen, sondern weil schon der bloße Entschluß den Spaten anzusetzen, ein unendliches Leben erschöpfen würde, mehr noch, weil der Tod jedwede Seele überholt und selber durch nichts einholbar ist, auch nicht mit Hilfe der belauschten Sprache und einer vorbelauschten Erinnerung, übermächtig der Tod, übermächtig das Dickicht, das durch nichts zu lichten ist und den Verirrten unbarmherzig verkerkert, hilflos der Verirrte, er selber nur eine hilflose Stimme im Gestrüpp der Vereinzelungen. Wie konnte man da noch Hoffnung hegen?! entpuppte sich da das menschliche Geschehen, wie immer und wo immer es statthatte, nicht unweigerlich als Ausfluß der kreatürlichen Angst, als ein besessenes Angstgeschehen, aus dessen Dämmerkerker es kein Entrinnen und kein Ausbrechen mehr gibt, da es die Angst der im Dickicht verirrten Kreatur ist? Tiefer denn je war er dieser Angst inne geworden, besser denn je verstand er der verirrten Seele niemals erschweigenden Wunsch nach todesaufhebender Zeitüberwindung, besser denn je verstand er die unverlöschliche Hoffnung der kreatürlichen Massen, verstand er, was die dort drunten, Stimmen und Aber-Stimmen auch sie, mit ihrem wildverzweifelten Gegröle begehrten, verstand er sie, wenn sie an ihrer Inbrunst, an ihrer Pöbelinbrunst unverbrüchlich und unbelehrbar hafteten, aus sich herausschreiend, in sich hineinschreiend, es möge und es müsse in dem Gestrüpp eine ausgezeichnete, eine stärkste, eine außergewöhnliche Stimme geben, eine Führerstimme, der sie sich bloß anzuschließen brauchten, um in deren Abglanz, im Abglanz des Jubels, des Rausches, der Nacht, der cäsarischen Gottähnlichkeit sich mit einem letztatmig wilden, stierhaft machtbrüllenden Anstürmen doch noch einen irdischen Weg aus der Verstrickung ihres Daseins bahnen zu können, und dies erkennend sah er, verstand er, erkannte er besser denn je, daß sein eigenes Trachten zwar in der Form und in der Überheblichkeit, nicht jedoch durch Sinn und Inhalt, sich von diesem rohen, aber ehrlicheren Vergewaltigungswillen der rasend gewordenen Herde unterschied, daß er die schlichte, kreatürliche Angst, die ihn mit genau derselben Stärke umfangen hielt, nur getarnt hatte, umgelogen in eine Sehnsucht nach allerkennender Ordnungseinheit, umgelogen in ein vergebliches und darum doppelt scheinheiliges Lauschen und Vorlauschen, daß er die Hoffnung auf die wegbereitende, außergewöhnliche Führerstimme, diese irdischeste Pöbelhoffnung, die auch die seine war, einfach an den Rand des Irdischen geschoben hatte, sich vortäuschend, daß sie ihm einstens von dorther ertönen und dann überirdisch sein werde, Phantom seiner Überheblichkeit, dem Irdischen verhaftet und der Vergeblichkeit alles Irdischen verfallen; oh, er erkannte besser denn je die Vergeblichkeit der massentierischen Ausbruchsversuche und ihrer Furchtgejagtheit, deren Fluchtangriffe, aufbrüllend vor Hoffnung, abschweigend vor Enttäuschung, immer wieder in die starre Schattenlosigkeit des Nichts münden mußten, zeitenverirrt und der Zeit nicht entrinnend, und er erkannte, daß ihm das nämliche Los beschieden war, ebenso unausbleiblich, ebenso unentrinnbar, der Absturz in die Starrheit eines Nichts, das den Tod nicht auf hebt, sondern selber der Tod ist. Oh, sein Leben war verirrt und vertan, denn der Weg, den er gegangen war, der war von vomeherein Ausweglosigkeit gewesen, beladen mit dem Wissen um die falsche Richtung, beladen mit dem Wissen um die Verirrtheit, von vorneherein ein Irren und Herumtasten und Herumdämmern im Dickicht, ein Leben des falschen Verzichtes und des falschen Abschiedes, beladen mit der Furcht vor der unausbleiblichen Enttäuschung, die er ebendeshalb, nicht anders eben wie die Hoffnung, an den Rand des Lebens und des Irdischen geschoben hatte. War dieser Rand nun erreicht, da nichts geblieben war als die Enttäuschung? da nichts geblieben war als der kalte Schrecken, lähmend und atemberaubend, uneingestanden vielleicht, der Schrecken des Sterbens, sicher aber und vielleicht noch stärker der Schrecken der Enttäuschung? nichts war geblieben als die Erstarrung, die wie eine geheimnisvolle, von den Sternen bestimmte Strafe auf ihm lastete, eine Sünde bestrafend, die aus dem vorschicksalshaft Unwiederbringlichen herstammte, eine Sünde, die er nicht begangen hatte und die, ehe sie noch begangen werden konnte, Vermessenheit war, eine ewig unbegangene Sünde, ewig hinter ihm stehend, ewig der ewigen Erkenntnisaufgabe entgegenstehend, ewig ihm auferlegt, damit er seine Aufgabe, damit er die Erfüllung nicht sehe, unsichtbare Strafe in unsichtbarer Erstarrung, die Sünde und die Strafe der Nicht-Erweckung, zeiterstarrend, spracherstarrend, erinnerungserstarrend, das Dämmerlauschen, erstarrt im Nichts, im Ödfeld des Todes, und sehr verlassen in solcher Starrheit lag sein Leib da, siech und müdegealtert, hingebreitet und saturnisch hingedämmert über die Zonen seines Ichs, die durchsichtiger und durchsichtiger, verschwindender und verschwindender wurden, und die, verlassen sogar von den Dämonen, immer mehr und mehr verödeten, regungslos, als wären sie leere Fenster ohne Aussicht: nichts war daneben geblieben, nichts war daneben noch erinnerbar, da alles, was ihm einstmals Lebensgewinn bedeutet hatte, das einstmals Zeitlose, das einstmals Erinnerungspflichtige,' ihm vorgealtert war, noch rascher gealtert als er selber, ihm entschwunden und versunken ins Kaum-Erschaffene, Kaum-Gelebte, und gealtert und verwelkt und abgestorben waren die einstmals so überaus hellen, durchklärt-hartschimmernden Bilder seiner Lebenslandschaft, abgestorben und abgefallen waren die Verse, die er darum gerankt hatte, dies alles war verweht wie braunes Laub, nicht mehr erinnert, nur noch gewußt, jahrzeitverweht, jahrzeiterschöpft, ein vergessenes Rascheln; vieles, oh, vieles war gewesen, Altvergangenes, Jüngstvergangenes, war gewesen in tausendfacher Vielfalt und millionenfacher Vereinzelung, doch nie war es bis zu ihm gelangt, nie hat es zur Gesamtheit werden dürfen, unabgeschlossen der Gedächtnisring, nie wird es bis zu ihm gelangen, es war bereits im Erleben abgelehnt zum Nichterlebten und blieb ungetan, gleichwie die Erfüllung seiner unendlichen Aufgabe im Ungetanen versandete, stockend bereits in ihrem ersten Schritte, gleichwie dieser Schritt, obwohl er nun schon ein ganzes Leben andauerte, noch immer, ja sogar von vorneherein ungetan war, verharrend in einer schaurig-unüberwindlichen Lähmung, für die es kein Vor und kein Zurück mehr gab, so daß auf den ersten ungetanen Schritt kein zweiter mehr wird folgen können, weil der Abstand zwischen den einzelnen Lebenssekunden zu einem unermeßlich unüberbrückbaren leeren Raum gewachsen ist und von hier aus überhaupt nichts mehr folgen kann, weder rasch noch langsam, weil sich überhaupt nichts mehr fortsetzen läßt, unfortsetzbar das Getane und Ungetane, unfortsetzbar das Gedachte und Ungedachte, das Ausgesprochene und Unausgesprochene, das Gedichtete und Ungedichtete, oh, - ihr Götter! auch die Äneis wird unabgeschlossen bleiben müssen, unfortsetzbar, unabgeschlossen wie dieses ganze Leben! Sollte dies tatsächlich so von den Sternen bestimmt sein? sollte dies tatsächlich das Los des Gedichtes werden?! das Schicksal der Äneis, sein eigenes Schicksal, unvollendet ! War dies denkbar, oh, war dies denkbar?! Das schwere Tor des Schreckens war aufgesprungen, und dahinter tat sich mächtig-allumfassend das Gewölbe des Entsetzens auf. Etwas Fürchterliches, das ihn von außen und von innen zugleich anpackte, etwas gräßlich Unbekanntes riß ihn hoch, jählings, aufschmetternd-bösartig, überschmerzlich-schmerzhaft, riß ihn hoch mit all der wüsten, lähmungsprengenden, erstickungsverzweifelten Kraft, die dem ersten Blitzdonner eines ausbrechenden Gewitters innewohnt, so fuhr es würgend in ihn hinein, todbringend, toddrohend, dennoch die Sekunden wieder aneinanderrückend und den Leerraum zwischen ihnen blitzartig mit jener Unfaßbarkeit anreichernd, welche Leben heißt, und fast war es ihm, als blitzte in dem Blitz nochmals die Hoffnung auf, fast war es ihm, während er, gefügt unter die eherne Klammer, atemrasch, blickrasch emporgerissen wurde, als geschähe es, damit das Versäumte und Verlorene und Nichtfertiggestellte nun doch noch, vielleicht sogar nur in dem Nu des wiederaufgelebten Sekundenatems nachgeholt werden könne; Hoffnung oder Nichthoffnung, er wußte es nicht, schmerzbetäubt, schreckensbetäubt, lähmungsbetäubt, wußte er es nicht, aber er wußte, daß jede Sekunde neuaufgelebten Lebens sehr vonnöten und wichtig war, er wußte, daß er nur für dieses Lebensaufflammen, mochte es kurz oder lang währen, emporgejagt wurde, weggejagt vom Lager der Starrheit, er wußte, daß er der Unatembarkeit des starrumwandeten geschlossenen Raumes zu entrinnen hatte, daß er den Blick nochmals hinaussenden mußte, abgewendet von sich, abgewendet von den Zonen des Ichs, abgewendet vom Ödfeld des Todes, daß er noch einmal, ein einziges Mal noch, vielleicht das letzte Mal, den All-Raum des Lebens würde umfassen müssen, oh, er mußte noch einmal, ein einziges Mal die Sterne sehen, und steif vor dem Bett emporgerichtet, gehalten von der Klammerfaust, die seinen ganzen Körper durchgriff und doch von außen umfing, bewegte er sich steifgliederig, marionettenhaft geleitet, drahtig-eckig und unsicher-stelzig zum Erkerfenster zurück, an dessen Wandung er erschöpft sich anlehnte, ein wenig abgeknickt wegen seiner Schwäche, trotzdem noch aufgerichtet, um mit zurückgezogenen Ellbogen und taktmäßig tiefem Atem seinem Lufthunger Genüge zu tun, damit das Sein sich wieder öffne, teilnehmend am Atemfluten der wiederersehnten Sphären.

Notwendigkeit des Atems, die Notwendigkeit des kreatürlichen Atems hatte ihn hergetrieben, aber zugleich war es eine unkörperliche Notwendigkeit gewesen, eine Sehnsucht nach dem Sichtbaren, nach der Weltsichtbarkeit, nach dem Atembaren in der Gewißheit des sichtbaren Alls. Erstickungsbetäubt stand er am Fenster, gehalten von der ihn umfangenden machtvollen Hand, und er wußte nicht, wie lange er ßchon so gestanden hatte, es hätten ebensogut Augenblicke wie Stunden gewesen sein können; nur unvollkommen und bruchstückweise floß das Zeitwissen wieder in ihn ein, nur bruchstückweise, auf weite Strecken von der Erstickungsangst, von der Erstickungspein überdeckt, baute sich die Welt wieder auf, wurde Wissen wieder zu Wissen, und bruchstückweise nur wurde er des Geschehenen gewärtig, Stück um Stück begreifend, daß es nicht bloß um die Äneis gegangen war, sondern um etwas, das er erst zu finden hatte.

Still lag nun die Welt vor ihm, nach all dem vorangegangenen und überstandenen Getöse fast überraschend still, und es war vermutlich schon spät in der Nacht, vermutlich ihre Mitte schon überschritten; die Sterne brannten groß in ihrem großen Wandelgang, tröstlich und stark und ruheflimmernd vor beruhigender Wiedererkanntheit, allerdings bei aller Wolkenlosigkeit beunruhigend eingetrübt, als wäre zwischen ihrem Raum und dem der untern Welt mittendurch eine gleichsam hart-undurchdringliche, gerade noch für den Blick durchlässige, trübkristallene Wölbung einverspannt, und fast war es ihm, als ob die dämonische Zonenzerspaltung, der er mitsamt seinem Leib vordem im liegenden Lauschen, im lauschenden Liegen unterworfen gewesen war, sich hier auf die Außenwelt übertragen hätte, ja als ob sie hier so scharf, so unermeßlich geworden wäre, wie er es an sich selber niemals erfahren hatte. Der irdische Raum war derart scharf gegen den oberen abgewölbt und abgekapselt, daß nichts von dem ersehnten Wehen des Grenzenlosen spürbar wurde und nicht einmal der Lufthunger gestillt, nicht einmal diese Pein gelindert werden konnte, da der Dunst, in den die Stadt vorher eingehüllt gewesen, nun trotz der Abendbrise nicht verflüchtigt, kaum zerteilt, vielmehr zu einer Art fiebriger Durchsichtigkeit geworden war, gewissermaßen unter dem Druck der Weltabkapselung zu einer Art dunkler Gallerte gestockt, die unbewegt unbewegbar in der Luft schwebte, heißer als die Luft sich anfühlte und in ihrer Unatembarkeit beinahe ebenso bedrückend war wie die Stickigkeit im Zimmer drinnen. Unbarmherzig war das Unatembare vom Atembaren geschieden, unbarmherzig undurchdringlich war die kristallene Schale dunkel darüber gespannt, eine streng abdichtende Trennungswand für den Vorhof der Sphären, für den Vorhof des Atems, für den Weltenvorhof, in dem er stand, aufgerichtet von der ehernen Hand, gehalten von ihr, und während er einstens, eingeschmiegt ins irdisch Flächenhafte und hinerstreckt über die saturnischen Gefilde, selber die Grenze zwischen dem Oben und Unten gebildet hatte, unmittelbar den beiden Zonen angehörig und ihnen einverwoben, durchragte er sie jetzt als eine zum Wachsen bestimmte Einzelseele, welche in ihrer Vereinzelung und Vereinsamung weiß, daß sie, will sie die Tiefen des Oben und Unten erlauschen, sich selbst zu erlauschen hat: unmittelbare Teilhaberschaft an der Sphärengröße ist demjenigen verwehrt, der in der irdischen Zeit, im irdisch-menschlichen Wachstum steht, wiederbeschenkt mit beidem; nur mit seinem Blick, nur mit seinem Wissen vermag er die unermeßliche Getrenntheit der Sphären zu durchdringen, nur mit seiner schauenden Frage vermag er sie verbindend zu umfassen, nur aus seiner fragenden Erkenntnis heraus und in ihr vermag er die Einheit, die Gleichzeitigkeits-Einheit der Welt und ihrer Sphären wiederherzustellen, nur im strömenden Kreislauf der Frage vollbringt er das Jetzt seiner Seele, ihre innerste irdische Notwendigkeit, ihre Erkenntnisaufgabe von Anbeginn an.

Zeit strömte oben. Zeit strömte unten, die verborgene Zeit der Nacht, wiedereingeströmt in seine Adern, wiedereingeströmt in die Bahnen der Gestirne, raumlos Sekunde an Sekunde gefügt, die wiedergeschenkte, wiedererwachte Zeit, überschicksalshaft, zufallsaufhebend, ablaufsentbunden das unabänderliche Gesetz der Zeit, das ewigwährende Jetzt, in das er hinausgehalten wurde:

Gesetz und Zeit,

auseinander geboren,

einander aufhebend und stets aufs neu sich gebärend,

einander spiegelnd und nur hiedurch erschaubar,

Ketten der Bilder und Gegenbilder

die Zeit umschließend, das Urbild umschließend,

keines von beiden jemals zur Gänze erfassend und dennoch

zeitloser und zeitloser werdend,

bis im letzten Echo ihres Zusammenklanges,

bis in einem letzten Sinnbild

sich das des Todes mit dem alles Lebens vereinigt,

die Bildwirklichkeit der Seele,

ihre Wohnstatt, ihr zeitloses Jetzt und daher

das in ihr verwirklichte Gesetz,

ihre Notwendigkeit.

Und in Notwendigkeit hatte sich alles vollzogen, notwendig war sogar der Weg einer Erkenntnis gewesen, welche das Innen und Außen ins unkenntlich Unermeßliche auflöste, zur völligen Fremdheit zertrennt und zerteilt. Doch ist in dieser unabweisbaren, unentrinnbaren Notwendigkeit nicht auch die Hoffnung auf den Wiederzusammenklang des Seins, auf die Nicht-Vergeblichkeit des Geschehens und Geschehenen beschlossen? in Notwendigkeit sind die Bilder aufgetaucht und in Notwendigkeit führen sie näher und näher an die Wirklichkeit heran! Oh, Nähe des Urbildes, Nähe der Ur-Wirklichkeit, in deren Vorhof er stand -, wird die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten nun zerreißen? wird die Nacht ihm nun ihr letztes Sinnbild enthüllen, ihm, dessen Auge zum Brechen bestimmt ist, wenn sie das ihre aufschlägt? er starrte zu den Sternen empor, deren schicksalsbestimmt schicksalsbestimmender, zweitausendjähriger Umlauf sich nun bald runden mußte, Bahn um Bahn dem Schicksal folgend und selber das Schicksal weitertragend vom Vater zum Sohne hin im Zeitengeschlecht, und es grüßte ihn das Himmelsjetzt, sich ausweitend aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare zum vollen Kreis des wiedergeschenkten Wissens, es grüßte ihn drüben am südwestlichen Rande, vertraut und unheimlich, des Skorpionen Schicksalsbild, den gefährlich gekrümmten Leib vom milden Strom der Milchstraße umfangen, es schmiegte Andromeda ihr Haupt an des Pegasus geflügelte Schulter, es strahlte unsichtbar grüßend das Niemalsentschwindende, und aus dem vorväterlich jenseitserschaffenen Äon grüßt zehnfach entzündet das Drachengestirn, verlustig des einstigen Thrones; er starrte empor ins Kühlsteinerne, in dem das Bild des Gesetzes kreist, abgeschieden von ihm der dunkel leuchtende Hauch, abgeschieden von ihm die nimmer sich herabsenkende, immer nur erahnbare Wahrheit in ihrer menschenentrückten Notwendigkeit, und ihr Bild nun sehend, ihr Bild ahnend in der Bilderfülle, die sie ist, wußte er um das in ihm webende Erkennen, wußte er, daß dieses dem Zufall enthoben ist, wußte er um das erwartungslose Warten seiner Erkenntniskraft, befreit von jeder Ungeduld, und er ward bereit für die notwendige Vollendung im Unvollendeten. Da wurde die Hand, die ihn hielt, sanfter und sanfter und wurde Geborgenheit. Und auf den Dächern der Stadt lag grünlich staubkühl das östliche Mondlicht; das Irdische wurde nahe. Denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat, der ist umfangen vom Vorhof einer neuen und größeren Unbekanntheit, umfangen und befangen von einer neuen Besinnung, die ihn wieder ins eigene Geschehen stellt, ins eigene Gesetz, entlöst dem der Wiederkehr, entlöst dem saturnischen Ablauf, entlöst seiner Lauschens-Ungeduld, er ist der Wieder-Aufgerichtete und Aufwärtswachsende, der zu sich selber zurückfindet, und seine Barke gleitet nur noch mit eingezogenen Rudern dahin, leise und erwartungslos in geschenkter Zeit, als stünde die Landung unmittelbar bevor, die Landung am Ufer zufallsenthobener letzter Wirklichkeit;

denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat,

der ist in den Vorhof der Wirklichkeit eingezogen,

da seine Erkenntnis, sich selbst entdeckend und wie zum ersten Male

auf sich selbst gerichtet,

das Notwendige im All,

das Notwendige jeglichen Geschehens

als das Notwendige der eigenen Seele zu begreifen anhebt;

denn der, dem solches widerfährt,

der ist hinausgehalten in die Einheit des Seins,

in das reine Jetzt, das dem All und dem Menschen gemeinsam ist,

seiner Seele unveräußerlichster Besitzstand,

kraft welchem sie schwebt, schwebend vor Notwendigkeit,

überschwebend den drohend geöffneten Nichts-Abgrund,

überschwebend die Blindheit des Menschen;

denn er ist hinausgehalten in das ewigwährende Jetzt der Frage,

in das ewigwährende Jetzt nicht-wissenden Wissens, in des Menschen göttliches Vor-Wissen,

nicht-wissend weil es fragt und fragen muß,

wissend weil es jeder Frage vorangeht,

göttlich dem Menschen und nur ihm von Anbeginn verliehen

als seine innerste menschliche Notwendigkeit,

um derentwillen

er stets aufs neu die Erkenntnis zu befragen hat und

stets aufs neu von ihr befragt wird,

antwortsbang der Mensch, antwortsbang die Erkenntnis,

erkenntnisgebunden der Mensch, menschheitsgebunden die Erkenntnis,

sie beide ineinandergebunden und antwortsbang,

überwältigt von der Gotteswirklichkeit des Vor-Wissens,

von der Wirklichkeitsweite der wissenden Frage, die

von keiner irdischen Antwort, von keiner irdischen Erkenntniswahrheit

je zu erreichen ist und doch nur hier

im Irdischen beantwortet werden kann, beantwortet werden muß,

im Irdischen verwirklicht

als das Wechselspiel der verdoppelten Weltgestaltung,

Wirklichkeit zur Wahrheit umgestaltet, Wahrheit zur Wirklichkeit,

gemäß dem Befehl, dem die Seele untertan ist,

ihre Notwendigkeit;

denn die zur Frage gespannte Seele

ist hineingehalten in ihr Wahrheitsheil, das

erkenntnisbefohlen, fragebefohlen, gestaltungsbefohlen,

gespannt zwischen Wissens Sicherheit und Erkenntnisfähigkeit,

die Wirklichkeit sucht,

und solcherart

aufgerufen vom Ur-Wissen, aufgerufen von dieser wissenden Frage,

die um des Seins einheitsstiftende Zufallslosigkeit weiß,

hingerufen darob zum erkenntnisgeborenen Wissen,

hingerufen zu seiner Verwirklichung,

hingerufen zur Erkenntnis des Gesetzes, des zufallsentblößten,

ist die Seele in stetem Aufbruch begriffen,

aufbruchsbereit und aufbrechend zur eigenen Wesenheit hin,

zu ihrer Kreatürlichkeit und Außerkreatürlichkeit,

zufallsentblößt beides in der Erkenntnis des Gesetzes,

ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel sphärenvereinigt,

den Menschen zum Menschen machend;

denn in den wissenden Erkenntnisgrund seiner Seele

ist der Mensch hineingehalten, in den Erkenntnisgrund

seines Tuns und Suchens, seines Wollens und Denkens, seines Träumens,

und er ist aufgetan der unendlichen Zufallslosigkeit im Wirklichen,

diesem umfassendsten und gewaltigsten,

ehernsanft wahrhaftigsten Wirklichkeitssinnbild seines Selbst,

in das er heimkehren will und heimkehrt

für immerdar,

hineingehalten in das Jetzt seines eigenen Sinnbildes,

auf daß es ihm zur steten Wirklichkeit werde;

denn es ist das Trotzdem seines Aufrufs,

in das der Mensch hineingehalten ist,

das Trotzdem des Ein gekerkerten,

das Trotzdem seiner unverlöschlichen Freiheit

und seines unverlöschlichen Erkenntniswillens,

so unbeugsam,

daß er größer als die irdische Unzulänglichkeit wird,

über sich hinauswachsend

das titanische Trotzdem des Menschentums;

wahrlich, in seine Erkenntnisaufgabe ist der Mensch hineingehalten,

und nichts vermag ihn davon abzübringen,

auch nicht die Unentrinnbarkeit des Irrtums,

verschwindend dessen Zufälligkeit vor der

zufallsenthobenen Aufgabe;

denn so sehr der Mensch in der Verkerkerung seiner irdischen Unzulänglichkeit gehalten wird - und gar einer, der mühselig ans Fenstersims angeklammert als ein Kranker und Todesgezeichneter mühselig nach Atem ringt -, und so sehr er bestimmt ist zur Enttäuschung, ausgeliefert jeglicher Enttäuschung im Großen wie im Kleinen, vergeblich jegliche Bemühung, fruchtno los im Vergangenen, hoffnungslos im Zukünftigen, und so sehr ihn die Enttäuschung vorwärtsgejagt haben mag, von Ungeduld zu Ungeduld, von Ruhelosigkeit zu Ruhelosigkeit, den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk suchend, das Werk fliehend, gehetzt und liebend und nochmals gehetzt, schicksalsgetrieben von einem Erkennen zum ändern, weggetrieben vom einstigheimatlichen Leben eines schlichten Schaffens und hingetrieben zur Mannigfaltigkeit jedweden Wissens und weitergetrieben zur Dichtung und weitergetrieben zur Erforschung der alten und verborgensten Weisheit, erkenntnisungeduldig, wahrheitsungeduldig, und wieder zurückgetrieben zur Dichtung, als könnte sie sich für eine letzte Wirklichkeitserfüllung mit dem Tode verschwistern - oh, Enttäuschung auch dies, Fehlweg auch dies -, oh, so sehr dies alles als schierer Fehlweg gelten mußte, ja, einfach Fehlweg war und ist, ja, kaum ein Ansatz zu einem ersten Schritt und bereits fehlgeschlagen vor dem ersten Ansatz, oh, so sehr dieses ganze Leben sich nun als gescheitert zeigt, gescheitert ist, versandet im Unzulänglichen von Anbeginn an, für immer und ewig zum Scheitern verdammt, weil nichts das Gestrüpp je zu durchbrechen vermag, weil der Sterbliche dem Dickicht niemals entkommt, weil er im bewegungslosen Herumirren auf der Stelle, verzweiflungsgebunden und zufallsgebunden, jedweder Furchtbarkeit des Irrtums verhaftet bleibt, oh, trotzdem und trotzdem, nichts ist ohne Notwendigkeit erfolgt, nicht erfolgt ohne Notwendigkeit, da das Notwendige der Menschenseele, da das Notwendige der menschlichen Aufgabe alles Geschehen und sogar den Fehlweg, sogar den Irrtum überwaltet; denn nur im Irrtum, nur durch den Irrtum, in den er unentrinnbar hineingehalten ist, wird der Mensch zum Suchenden, der er ist,

der suchende Mensch;

denn der Mensch braucht die Erkenntnis der Vergeblichkeit,

er muß ihren Schrecken, den Schrecken jeden Irrtums

auf sich nehmen und, ihn erkennend, bis zur Neige auskosten,

er muß des Schreckens inne werden,

nicht aus Selbstqual, wohl aber

weil nur in solch erkennendem Innewerden

der Schrecken zu überwinden ist,

weil nur dann es möglich wird,

durch des Schreckens hörnerne Pforte hindurch

ins Sein zu gelangen;

darum ist der Mensch hineingehalten in den Raum aller Unsicherheit,

hineingehalten, als trüge kein Schiff ihn mehr,

obwohl er dahinschwebt auf schwebender Barke;

darum ist er hineingehalten in die Räume und Aber-Räume

seines Innewerdens,

in die Räume seines innewerdenden Ichs,

Schicksal der menschlichen Seele,

aber derjenige, hinter dem

die schweren Torflügel des Schreckens sich geschlossen haben,

der hat den Vorhof der Wirklichkeit erreicht, und

das nicht-erkannt Fließende, über das er schwebend dahingleitet,

das Nicht-Erkennen, es wird ihm zum Wissensgrund,

da es das fließende Wachstum seiner Seele ist,

das unvollendbar Unvollendete des eigenen Selbst,

dennoch als Einheit sich entfaltend,

sobald das Ich seiner selbst inne wird,

unvergänglich vor Wachstum die fließende Einheit des Alls

ihm inne geworden, von ihm gesehen

in einer Gleichzeitigkeit, die kraft ihres Jetzt

all die Räume, in die er gehalten ist, zu einem einzigen macht,

zum ein-einzigen Raum des Ursprunges,

und gleich diesem

das Ich in sich birgt, um doch vom Ich gehalten zu werden,

von der Seele umfangen wird und doch die Seele umfängt,

in der Zeit ruhend und die Zeiten bestimmend,

dem Gesetz der Erkenntnis verhaftet und die Erkenntnis schaffend,

mitschwebend in ihrem fließenden Wachsen,

mitschwebend in ihrem schwebend wachsenden Werden, das allein

der Wirklichkeitsursprung ist,

so jenseitsgroß die Ineinanderverstrahlung des Innen und Außen,

daß Schweben und Gehaltenwerden, daß Befreiung und Einkerkerung

zu ununterscheidbar gemeinsamer Durchsichtigkeit verfließen,

oh, so unvergänglich notwendig,

oh, so über alle Maßen durchsichtig,

daß in der abgeschlossen-oberen Sphäre,

allein dem Blick erreichbar, allein der Zeit erreichbar,

gewußt in beiden,

widergespiegelt in beiden, gespiegelt in dem geöffneten

und von ehern-sanfter Hand himmelwärts gerichteten Menschenantlitz

schicksals umwoben

sternenumwoben

das verheißene Geschenk der Nichtvergeblichkeit aufleuchtet,

zufallsbefreit geschenkte Zeit für immerdar,

erkenntnisoffen der Trost im Irdischen -,

und tröstlich im Mondüberrieselten verbanden sich die Sphären, die Himmels- und Erdsphären für immerdar miteinander verbunden, tröstlich gleich dem Atem, der aus mondüberrieseltem All in die Brust zurückkehren soll, tröstlich verkündend, daß nichts umsonst gewesen, daß das um der Erkenntnis willen Getane nicht umsonst getan worden ist und dank seiner Notwendigkeit nicht umsonst gewesen sein konnte. Hoffnung im Nichtvollendeten und Nichtvollendbaren, und daneben, ganz schüchtern, die Hoffnung auf Fertigstellung der Äneis. Hoffnunghallendes Echo der Verheißung im Irdischen, rückhallend in der irdischen Zuversicht; empfangsbereit ist der Sterbliche, umgeben vom irdischen Sein.

Trost und Zuversicht, der Trost der Nichtvergeblichkeit, obwohl die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten sich nicht geöffnet hatte, obwohl kein Bild dort erschienen war, geschweige denn ein letztes Sinnbild; verhüllt war das Auge der Nacht geblieben, ungebrochen sein eigenes, und nach wie vor waren die Unermeßlichkeitszonen bloß in Spiegelung und Gegenspiegelung zu verbinden, nach wie vor war es bloß gewußte,- vom Blick erschaffene Einheit, zu der sich die unermeßlichen Getrenntheiten des Oben und Unten zusammenfügen ließen, nach wie vor war es bloß der Vorhof der Wirklichkeit, in dem er stand, war es bloß der Raum der irdischen Frage, in deren Jetzt er hineingehalten wurde, verwehrt die Vollwirklichkeit letzter Einheit, und trotzdem war es Trost und Zuversicht. Kühlstaubig rann das Mondlicht durch die Nachthitze, durchtränkte sie, ohne sie zu mindern, ohne sich ihr mitteilen zu können, blindkühles Echo des steinernen Himmelsblinkens, gemalt in die hitzige Finsternis. Oh, des Menschen Zuversicht, welche weiß, daß nichts umsonst geschehen ist, daß nichts umsonst geschieht, obwohl es bloß Enttäuschung gibt und kein Weg aus dem Dickicht hinausführt; o Zuversicht, welche weiß, daß selbst dort, wo es zum Unheil ausschlägt, der Erkenntnisgewinn des Erlebten gewachsen ist, bleibend der Erkenntniszuwachs in der Welt, bleibend in ihr das kühlhelle Echo der Zufallslosigkeit, zu der das irdische Handeln des Menschen sich durchzuringen vermag, sooft es seiner erkenntnisbestimmten Notwendigkeit folgt und zu einer ersten Erhellung der Irdischkeit und ihres Herdenschlafes gelangt. Oh, Zuversicht voller Zuversicht, nicht herabgestrahlt vom Himmel, sondern in der menschlichen Seele kraft der ihr auferlegten Pflicht zur Erkenntnis irdisch entstanden -, wird also nicht auch die Erfüllung der Zuversicht, sofern sie erfüllbar ist, ebenso irdisch erfolgen müssen ? Das Notwendige vollendet sich stets im schlicht Irdischen; der strömende Kreislauf der Frage wird immer nur im Irdischen seine Schließungsstelle finden, und mag die Erkenntnisaufgabe auch oft und oft bis ins Überirdische reichen, mag ihr sogar die Vereinigung der getrennten All-Sphären aufgetragen sein, es gibt keine echte Aufgabe ohne irdischen Ausgangspunkt, keine, die nicht mit Möglichkeiten ihrer Lösung irdisch verwurzelt wäre. Mondverweht, mondflüchtig lag nun die irdische Welt vor ihm hingebreitet, hatte sich das Menschliche unter sich selbst zurückgezogen, geflüchtet in den Schlaf, verborgen in den schlafsatten Häusern, abgesunken unter sich selbst, abgeschieden von den hinaufgesunkenen Sternen, und die Stille der Welt war zwiefache Verlassenheit zwischen der oberen und der unteren Zone; keine Stimme unterbrach die hauchlose Ruhe, nichts war vernehmbar außer dem leisen Aufund Abprasseln der Wachtfeuer und den gelangweilt schweren Tritten des längs der äußern Umfassungsmauer patrouillierenden Postens, die rundenmäßig näher kamen und wieder verhallten, doch horchte man genauer hin, so war es, als schwänge auch hier ein leises Echo von irgendwoher mit, ein begleitender Laut, kaum mehr Widerhall, kaum mehr gebrochen, nur noch zerstäubt, dennoch widergebrochen an den Hauswänden des Platzrandes, gebrochen im Winkelwerk der Gassen und der Wohnhöhlen, gebrochen am großen Steingefüge der Stadt und der Städte, gebrochen an den Wänden der Gebirge und Meere, gebrochen an der trüb-kristallenen Unterwölbung des Himmels, gebrochen am Sternenlicht, gebrochen am Unerkennbaren, hingehaucht und zerstäubungsgebrochen, in Zitterwellchen heranschwingend, alsogleich jedoch wieder wegschwindend, sobald man es erhaschen wollte. Aber irdisch vorhanden und dabei seltsam sphärenverbunden hielt das schwache Geprassel der Feuer hinter der Mauer weiter an, und wenn auch manchmal gleicherweise bis ins Echohafte und Unsichtbare verebbend, wenn auch selber eingereiht in die Kette der Bilder und AberBilder, es war wie ein Hinweis auf die Nicht-Vergeblichkeit der menschlichen Bemühung, wie ein Hinweis auf den irdischen Ursprung des der Menschenseele eingeborenen titanischen Einheits-Willens; es war wie eine Aufforderung an die Erkenntnis, sich zur Erde hinab und ins Irdische zu wenden, um hier ihre Erneuerungskraft zu finden, das Prometheische, das aus dem unteren Bereich und nicht aus dem oberen herstammt. Ja, dem irdischen Bereich hatte er seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und aufmerksam wartete er, sehr atemmüde über die Fensterbrüstung gebeugt, das Notwendige erwartend, das da kommen sollte.

Unter ihm gähnte es in brunnengleicher Schwärze, der schmale Raum zwischen dem Palast und der Umfassungsmauer, unbeleuchtet tief der schwarze Grund des Schachtes, während hinter der Mauer, völlig von ihr verdeckt, lediglich im Widerschein sichtbar, eines der Wachtfeuer brannte, und wenn der Wachtposten auf seinem Gang den kleinen Flackerbereich durchquerte, dann glitt über das mattrötlich beschienene Steinpflaster undeutlich der Schatten des Mannes hin, ein dunkles Schattenhauchen, das manchmal an der gegenüberliegenden Gebäudewand hochsprang, zackig und augenblicksrasch, fast unwirklich vor seltsam unvermuteter Beweglichkeit. Was dort unten, verdeckt von der Mauer, vor sich ging, war simpelste militärische Pflichterfüllung, nichtsdestoweniger, eben wie jede menschliche Pflichterfüllung, seltsam mit dem Wissensgrund der Erkenntnis, mit der Erkenntnisaufgabe schlechthin und ihrer Nichtvergeblichkeit verbunden,- was da geschah, ging im Vorhof der Wirklichkeit vor sich, in der Nähe des Endgültigen. Und nicht aus der Sternen Sphäre, und nicht aus der Zwischensphäre unter den Sternen wird der Durchbruch zur Ur-Wirklichkeit erfolgen, nicht dort wird sich die verheißene Nichtvergeblichkeit erfüllen, wohl aber in der Sphäre des Menschen, und vom Menschen aus wird der Anstoß zur Durchbrechung der Grenzen erfolgen; göttlich ist der Mensch hiezu vorbestimmt, göttlich ist ihm die Zuversicht hiezu verliehen, göttlich seine Notwendigkeit, und mag auch der Zeitpunkt des großen Wirklichkeitsgelingens so wenig voraussagbar sein, daß keiner erforschen kann, ob das schicksalsverborgene Ereignis in unerlebbarer Zukunft oder in unmittelbarem Jetzt statthaben wird, oder ob es nicht sogar schon eingetreten ist, unabweislich ergeht aus dem Schicksalsverborgenen, drängend und mahnend, das Geheiß zur Wachsamkeit, das Geheiß jeden Augenblick festzuhalten, gewärtig des Augenblicks der Offenbarung, der Offenbarung im Zufallslosen, im Gesetze, im Menschlichen. Der Befehl tönte aus dem Unerforschlichen, und er tönte in dem verloren-unhörbaren, pochenden Klingen des müd-heißen, fiebrigen, monddurchflossen-schwarzen Glastes, der das Irdische umfing, unbeweglich über die Dächer hinfloß, zum Fenster herfloß und auch ihn, der hier stand, umfangen hielt, ihn mit dem Befehl zur Wachsamkeit einhüllend, als wäre diese ein Teil des Fiebers. Und fiebernd richtete er seine Wachsamkeit auf das Sichtbare, schier sehnsüchtig, daß dort irgendwo ein menschliches Lebewesen sich zeige. Nichts zeigte sich. Landwärts im Südwesten stand das dräuend hellglänzende Bild des Skorpions, stand über einer verflimmernden Erde, es verflimmerte die Grenze zwischen den Stadthäusern da draußen und den von ihnen halbverdeckten Nachthügelwellen der Landschaft, es verflimmerten die auf- und abwogenden Wellen der Felder und Haine und Wiesen, ihre Halmwellen, ihre Laubwellen, vom Monde kühlsteinern durchflossen und von letzter Unendlichkeitsschwärze hinterwölbt, sie verflimmerten in den steinern tönenden, steinern kühlen, steinern bebenden Fieberwellen des eingefluteten Sternenraumes, nachtgetränkt, lichtgetränkt, dahingleitend und vergleitend, dahinströmend, und das blasse Glänzen hatte kein Ende im Unsichtbaren. So flutete es dorthin und flutete zurück, heißkühl und schattenlicht im doppelten Ursprung, hinabgesenkt in die Schwärze, hinabgeflossen in die Schächte der Höfe, der Plätze, der Gassen, hingebreitet über das Sichtbar-Unsichtbare des Irdischen. Schräg gegenüber mündete eine Gasse in den Platz; in ihrer geraden Strecke dem Blicke geöffnet, war sie vom Monde hell durchstrichen, nur hie und da war sie von höheren Häusern überdunkelt, und an der Dächerflucht war zu erkennen, daß sie in ihrem weitern Verlaufe zum Stadtrande hinführte, in einer leichten Doppelbiegung, die der des Skorpionenbildes dort drüben glich und darauf hinzielte, verführerisch die Formähnlichkeit, verführerisch das Hinzielen, ja so sehr verführerische Verlockung, daß sie zu Bangigkeit wurde, zu einer Sehnsucht, hinwandern zu dürfen, die Straße entlang, ihre Biegungen leicht durcheilend, ins Land hinaus, dem Sternbilde zu, Heimat um Heimat durchwandernd, die Haine der Lichtfieber und der Schattenfieber durchquerend, heiter der Traumesschritt, der sie durchfliegt; oh, hinauszuwandern über die Blickstraßen, die im Ziele wieder den Ursprung enthalten, für ewig und ohne Umkehrung. Keines Führers bedarf es auf solch leichtem Wege, aber auch keines strengen Erweckers, denn ohne Unterlaß währt der durchleuchtetschimmernde Schlummer der Welt; es galt bloß vorwärtszuschreiten, vorwärtszuwandern im Unerrufbaren, geöffnet alle Grenzen, und nichts vermag den Wandelnden mehr aufzuhalten, niemand überholt ihn, niemand kommt ihm entgegen, das Göttliche eilt ihm nicht voraus, und er begegnet nicht dem Tierischen, unbeschwert von beiden ist sein Fuß, aber die Richtung, die er geht, ist die des Trostes und der Zuversicht, ist die der Notwendigkeit, ist die des Gottes. War es so? gab es hier wirklich keine Gegenrichtung mehr? Wird nicht doch noch einer in der Gegenrichtung daherkommen, zurückstrebend ins Tierische, zurückfallend ins Untierische?

Es hieß warten, mit großer Geduld warten, und es dauerte lange, unerträglich lange. Dann jedoch, dann kam etwas. Und sonderbar, das was kam, obwohl das Gegenteil alles Erwartbaren, war gleichfalls wie von Notwendigkeit herbefohlen. Zuerst kam es als Hörbild, nämlich als das langsam aus der Stille sich lösende Hörbild von Schlurfschritten und undeutlichem Gemurmel, und es blieb eine geraume Zeit im Schatten versteckt, ehe die zugehörigen Gestalten auftauchten, drei undeutliche weiße Flecken, die schwankend und oftmals stockend, ineinander verfließend und wieder auseinanderstrebend, sichtbar im Mondlicht, untertauchend ins Dunkel, gleichsam widerwillig sich heranschoben. Atemlos vor gespannter Wachsamkeit, atemlos vor Beklommenheit im unatembaren Nachtglast, krampfverschränkt die Hände, krampfhaft die Finger über den Ring verschränkt, krampfhaft zum Fenster hin vorgebeugt und den Kopf weit vorgestreckt, verfolgte er das Herannahen der drei Erscheinungen. Für eine Weile blieben sie nun stumm, dann aber, im Gegensatz zu dem vorher gegangenen undeutlichen Gemurmel, plötzlich scharf und äußerst deutlich, wurde eine Stimme laut, eine krähende Tenorstimme; beinahe schreiend, als hätte sich ihr Träger zu einem unwiderstehlich endgültigen Entschluß aufgerafft, erfolgte die Verkündigung: «Sechs Sesterzen.» Wieder wurde es stumm, fast hatte es den Anschein, als ließe das Endgültige überhaupt keine Antwort mehr zu, doch dann wurde sie trotzdem erteilt: «Fünf», sagte eine zweite Mannsstimme, unwohlwollend-wohlgelaunt, in einem ruhigen, nahezu schläfrigen Baß, der zweifelsohne jede weitere Verhandlung abschneiden wollte: «Fünf.» - «Scheiße, sechs!», krähte uneingeschüchtert die erste Stimme, worauf sich nach einigem unverständlichen Hin und Her der Baß ins ruhig Endgültige zurückzog: «Fünf, und nicht einen Aß mehr.» Sie blieben stehen. Bisher war nicht zu ergründen, um was da gehandelt wurde, indes nun mischte sich die dritte Stimme ein, und es war die eines betrunkenen Weibes: «Sechse gibst ihm!», befahl sie mit einem umkippend fettigen Kreischen, hinter dessen ungeduldig fordernder Dringlichkeit irgend etwas kriecherisch Erbötiges herauslugte, freilich ohne damit viel zu erreichen, denn nun bestand die Antwort bloß aus einem kehlig-höhnischen Lachen. Und gereizt von dem Lachen und dem unangreifbaren Hohn, überschlug sich die Weibsstimme zur Wut: «Am meisten fressen, aber nix zahlen ... Fleisch willst haben, und Fisch willst haben, und alles ...»; und als daraufhin wiederum nur das bellende Mannslachen ertönte, ging es weiter: «Mehl soll ich kaufen, und Zwiebel, und alles, und Eier und Knoblauch, und Öl, und Knoblauch ... und Knoblauch ...» - betrunken japsend, begleitet von dem sie anfeuernden Mannslachen, das in ein breitkeuchendes Gurgeln übergegangen war, hielt sie sich an der Unerschwinglichkeit des Knoblauchs fest -, «Knoblauch willst ham ... Knoblauch ...» - «Hast recht», krähte der Tenor dazwischen und entschied sich mit unvermitteltem Gedankensprung zu einem «Gib Ruh!» Sie jedoch, als hätte das Wort aufklärerische Kraft, ließ sich nicht abhalten: «... Knoblauch ... Knoblauch soll ich kaufen ...» Sie waren neuerlich von der Dunkelheit aufgenommen worden, aus der Dunkelheit erscholl der Ruf nach Knoblauch weiter, und wirklich wie aufs Stichwort war mit einemmal die fiebrige Finsternis der Nacht von sämtlichen Küchengerüchen, welche die Stadt nur aushauchen konnte, beladen und geschwängert, schwer, satt, geil, ölig, bequem und furchtbar, verdauend und verwest, verprasselt, pfannenstinkend, wiederkäuerisch, die schlafsüchtige Nahrung der Stadt. Für einige Augenblicke wurde es still, sonderbar erstickt, als wären von dem trägen Dunst auch die drei da drunten verschluckt worden, und selbst nach ihrem Wiedereintritt ins Helle hatten sie nichts mehr zu sagen; das Argument des Knoblauchs war ausgeschöpft, sie kamen stumm heran, deutlicher und deutlicher werdend, allerdings bei aller Stummheit keineswegs friedfertig geworden: zuvorderst zeigte sich ein auffallend dürrer Kerl, der mit hochgezogener Schulter an einem Stocke hinkte und diesen drohend hob, so oft er stehenbleiben mußte, um die beiden anderen nachfolgen zu lassen, in einiger Entfernung hinter ihm das Weib, dick und massig, und schließlich, womöglich noch dicker, womöglieh noch besoffener, jedenfalls noch schwerfälliger, der andere Mann, ein breitbauchiger Turm, der den ständig wachsenden Abstand zu der Frau hin nicht aufzuholen vermochte und endlich mit einem greinenden Piepsen und aufgehobenen Kinderhänden sie aufzuhalten trachtete; so kamen sie daher, ein schwankend unsicherer Anblick, der noch ein wenig unsicherer wurde, als sie an der Straßenmündung in den schwankenden Schein des Wachtfeuers gerieten; so waren sie hier vor seinen Augen angelangt mitsamt ihrem neuausbrechenden Hader, da der hinkende Anführer mit einer hafenwärts gerichteten Linkswendung sich anschickte den Platz zu überschreiten, und die Frau ihm ein «Scheißkerl!» nachgellte, so daß er, haltmachend und . sein Vorhaben aufgebend, sich umkehrte und mit fuchtelndem Stock auf sie losging, zwar nicht furchteinflößend für die unentwegt Weiterkeifende, wohl aber für den dicken Turm, der sich piepsend zur Flucht wandte und damit die Frau zwang ihm nachzulaufen und ihn zurückzuzerren -, ein Erfolg, der für den ändern so erfreulich war, daß er den Stock sinken ließ, um nun erst recht jenes bellend dickkehlige Hohnlachen auszustoßen, das schon vordem die Frau zur Raserei gebracht hatte. Alsogleich stellte sich das nämliche Ergebnis ein, die Frau wurde rasend: «Heimgehen!», herrschte sie den dürren Lacher an, und als dieser mit hin- und herwippendem, ausgestrecktem Finger, seine frühere Absicht unterstreichend, in die Hafenrichtung wies, streckte sie, keuchend vor schwabbelnder Aufregung, ihrerseits den Arm in die entgegengesetzte Richtung aus: «Mach, daß du heimkommst, in der Stadt hast nix mehr zu suchen ... mir machst nix vor, ich weiß schon, was du dorten hast, ich kenn sie schon, deine Schlampen ...» - «Hoh?», der wippende Finger kam zur Ruhe, die Hand formte sich zum Becher und zur Trinkgebärde. Dies war für den Dicken, der sich an die Hausmauer gelehnt hatte, so einleuchtend, daß er zu der Endgültigkeit seiner Entschlüsse zurückfand: «Wein», gluckste er verklärt, und setzte sich in Bewegung. Die Frau versperrte ihm den Weg: «Ah, Wein», geiferte sie, «Wein? ... zu seiner Schlampen will er, und ich, ich soll ihm kochen ... Schweinefleisch will er haben und alles will er haben ...»-«Schweinchen-fleisch», krähte der Tenor. Verächtlich stieß sie ihn zu der Mauer zurück, aber beinahe weinerlich wandte sie sich dem ändern zu: «Alles willst haben von mir, aber nix zahlen ...» -«Fünfe zahl ich ihm, hab ich gesagt ... komm mit, kriegst Wein.» - «Pfeif auf dein5 Wein ... sechse zahlst ihm.» - «Er kriegt auch Wein.» - «Er braucht dein5 Wein nicht.» - «Das geht dich ein Dreck an, du Aas; fünfe zahl ich ihm, nicht ein Deut mehr, und Wein kriegt er.» - «Fünfe», erklärte mit Würde der Fettwanst an der Mauer. Das Weib fuhr auf ihn los: «Was hast gesagt? was hast gesagt?!» Erschrocken suchte er nach einer Ausrede; schließlich äußerte er freundlich-verbindlich: « Scheiße.» - «Was hast ihm gesagt ?!» Sie ließ nicht locker, und in die Enge getrieben, wiederholte er voll erzwungenen Mutes seiner neuen Überzeugung gemäß: «Fünfe.» - «Das sagst noch, du Schlauch, du Weinbauch ... und 5s Fressen soll ich für euch herschaffen ... ohne Geld soll ichrs schaffen ...» Es machte auf den Dicken keinen Eindruck: «Wein ... kriegst auch Wein», fistelte er glückselig, als müßte er jetzt für seinen Mut belohnt werden. Sie hatte ihn an der Tunica gepackt: «Das ganze Geld tragt er zu der Schlampen ... sechse muß er zahlen, hörst, sechse ...» - «Sechse», sprach der Turm fügsam nach und machte Anstalten, sich niederzusetzen, was ihm freilich unter der haltenden Hand der Frau nicht gelang. Für den Dürren war es ein Quell nicht enden wollenden, grölenden, stockfuchtelnden Vergnügens: «Fünfe hat er gesagt, und fünfe zahl ich ihm; dabei bleibt5s!» - «Nicht wahr is», fauchte sie, und den Fettwanst immer noch an der Tunica haltend, schrie sie ihm ins Gesicht: «Sag5s ihm, sechse sind5s, sag5s ihm!» Bei alldem verlor ihre Stimme, mochte sie sich auch noch so sehr überschlagen, nicht den werbend anbieterischen Unterton; nur war nicht festzustellen, wem der zu gelten hatte. Immerhin wurde der Dürre, seine Heiterkeit etwas unterbrechend, jetzt um einen Grad versöhnlicher : «Was willst denn ? Mehl kriegst sowieso vom Cäsar umsonst...» Sie Stutzte, und dies gab dem Dicken, der sich unter ihrem zerrenden Griff wand, nicht nur eine Atempause, sondern auch die Gelegenheit, von der leidigen Sesterzenangelegenheit endlich loszukommen: «Heil dem Augustus!» krähte er zu der kaiserlichen Wohnstatt herüber, und hochgezückten Stockes bekräftigte der andere, der sich gleichfalls dem Palaste zugewandt hatte, den fröhlich quäkenden Ruf mit einem dröhnenden «Heil ihm!», und nochmals erscholl es quäkend begeistert «Heil dem Augustus!», und nochmals salutierte der Dürre mit dröhnendem «Heil ihm!» - «Maul halten, Maul halten, alle beide!», fuhr das Weib angewidert zornig dazwischen, und tatsächlich, für ein paar Sekunden hatte es eine Wirkung: wohl nicht gerade aus Achtung vor dem Befehl der Frau, eher noch aus Achtung vor dem angerufenen Cäsar, es verstummten die beiden, ja sie erstarrten sogar, offenen Mundes der Dicke, erhobenen Stockes der Dürre, und während der stockbewehrte Schatten im aufprasselnden Feuerschein an der Mauer hochflackte und die Frau, die schweren Arme in die Hüften gestützt, die schöne Wirkung betrachtete, hätte man meinen können, es würde die Regungslosigkeit nunmehr für alle Ewigkeit andauern, bis sie eben doch durch das neuanhebende, neuaufdröhnende Lachgebell abgebrochen wurde, jählings abgehackt durch ein Lachen, in das nun auch das dicke Paar einstimmte, zuerst tenorig hell, geradezu rosig zwitschernd der Fettwanst, sodann willenlos kollernd, schwabbelig gackernd die Frau, und der Stock schlug den Takt, dreimäulig das Lachen, das schüttelnde Lachen, das aus einer unbekannten Feuertiefe feucht heraufquoll, dreiköpfig der Hohn, mit dem sie sich selbst und einander verspotteten, dreileibig der unbekannte, der unbekannteste Gott. Es drängte zu einem Höhepunkt und der Magere fand ihn: «Wein», schrie er, «kriegst dein5 Wein, Dicker, Wein für alle, Wein aufs Wohl vom Cäsar!» - «Hui, hui, hui», gackerte die Frau, und ihr Lachen purzelte über sich hinaus, ins Zornige und dabei erst recht ins anbieterisch Unzüchtige,« dein5 Cäsar, den kenn ich ...» - «Mehl vom Cäsar», belehrte sie hold der patriotische Turm und begann, sich von der Mauer zu lösen, «Mehl vom Cäsar, hast es selbst gehört... Heil ihm!» Fast wäre zu erwarten gewesen, daß sie daraufhin wieder ihren Knoblauchruf hätte ausstoßen müssen, so sehr war es wie ein Herumirren auf der nämlichen Stelle, und als nun gar noch der andere, grölend und sich verschluckend, mit der Bestätigung anrückte: «Jawohl, morgen wird’s austeilt, morgen läßt er5s austeilen ... kost dich garnix!», da riß ihr die Geduld: «Ein Dreck wird austeilt», - sie kreischte, daß es über den ganzen Platz hingellte -, «einen Dreck gibt der Cäsar her ... ein Dreck is dein Cäsar, ein Dreck ist er, der Cäsar; tanzen und singen und ficken und huren kann er, der Herr Cäsar, aber sonst kann er nix, und ein Dreck gibt er her!» - «Ficken ... ficken ... ficken...», wiederholte der Dicke beseligt, als hätte sich ihm mit diesem einen zufälligen Wort die gesamte Weltgeilheit in ihrer ganzen Zufallsbrunst eröffnet, «der Cäsar fickt, Heil dem Cäsar!» Der Dürre war unterdessen einige Schritte weiterge-humpelt, möglicherweise besorgend, daß die Wache sich nähern könnte, und obschon sein Nachtlachen nach wie vor kehlgrölig anhielt, so klang es doch beunruhigt, als er jetzt über die hochgezogene Schulter hin zurückrief: «Vorwärts ... kriegst Wein, vorwärts!» Freilich fruchtete es nichts, und vermutlich gab es da überhaupt nichts mehr was hätte fruchten können, denn der Dickwanst, obstinat entzückt von dem tanzenden und fickenden Cäsar, war unmißverständlich darauf aus, es dem Erhabenen gleichzutun, und patriotisch bemüht, sein Liebeswerben mit Heilrufen auf den Augustus Vater, auf den Augustus Cäsar, auf den Retter Augustus, vornehm zu unterstützen, trachtete er, lüstern bittend die Hände vorgestreckt, an die schimpfend und fluchend zurückweichende Frau heranzugelangen, tappend und täppisch, kleine Krählaute ausstoßend, ein vergnüglich zwitschernder, begattungsbereiter Koloß, der infolge seiner Giertrunkenheit in hüpfendes, geradezu leichtfüßiges Tänzeln geraten war, taubblind auf sein Ziel gerichtet und sicherlich nicht gewillt davon abzulassen, hätte nicht ein überraschender Stockhieb des leise Herbeigehinkten dem Spiel plötzlich ein Ende bereitet: es war unbeschreiblich rasch und still vor sich gegangen, man hatte nichts gehört, es war als hätte der Stock in einen Haufen Daunen geschlagen, und auch nicht ein einziger Laut des Erschreckens oder des Schmerzes war hörbar geworden, kein Ächzer und kein Seufzer wurde vernommen, der Dicke war einfach hingeplumpst, wälzte sich ein wenig und blieb dann ruhig liegen -, der Mörder jedoch scherte sich nicht weiter um ihn, sondern entfernte sich, ohne sich auch nur umzuschauen, er hinkte gleichmütig von dannen, allerdings nicht dem Hafen und dem Weine und der Schlampen zu, vielmehr trat er den ihm von der Frau befohlenen Heimweg an, bekümmert um diese, die wie unschlüssig - vielleicht betroffen und gerührt ob der Plötzlichkeit des Verlöschens oder ob der so plötzlich verloschenen Zufallsbrunst - sich in einem gleichsam theaterhaft trauernden Verweilen über den Leichnam gebeugt hatte, ehe sie es nach wenigen Augenblicken von sich abtat und entscheidungsrasch sich beeilte den Davonhinkenden einzuholen; dies alles geschah derart geschwind, derart ferne, derart tief ein gewoben in den fiebrig unbeweglichen Nacht glast, daß wohl niemand vermocht hätte hier hindernd einzugreifen, am allerwenigsten ein Kranker, der vom Fenster aus den Vorgang hatte verfolgen müssen, unfähig zu einem Schrei, unfähig zu einem Winken, gelähmt und erstarrt und gebannt infolge der ihm geheißenen Wachsamkeit, infolge der ihm auferlegten Pein, überdies aber, weil er kaum zur Besinnung des Geschehenen hatte gelangen können, denn bevor noch das flüchtende Mörderpaar dort unten hinter dem zinnengekrönten, scharf vorspringenden Eck der Umfassungsmauer verschwunden war, da regte sich der Gefallene, und nachdem er es zustande gebracht hatte, sich in die Bauchlage zu drehen, krabbelte er auf allen vieren wie ein Tier, wie ein großer plumper Käfer, der ein Beinpaar verloren hat, eilends den Gefährten nach. Nicht Komik, nein, Schrecknis und Furchtbarkeit umwitterten das Fabeltier, und Schrecknis wie Furchtbarkeit hielten noch an, als es sich endlich auf die Hinterbeine stellte, um sein Wasser an der Hausmauer abzuschlagen, hernach aber, bei jedem Schritt den Halt verlierend und die Mauer abtastend, an ihr weitertorkelte. Wer waren die drei gewesen ? waren sie Abgesandte der Hölle, entsandt aus dem Elendsquartier, in dessen Fensterreihen er geblickt hatte, unbarmherzig vom Schicksal zum Blick genötigt?! , was würde er noch alles sehen, was noch alles an treffen müssen ? war es noch immer, noch immer nicht genug?! Oh, nicht ihm hatten diesmal die Schimpfworte gegolten, nicht ihm galt der Hohn und das Lachen, von dem die drei geschüttelt worden waren, dieses grölende, bellende, mitreißende Mannslachen, das mit dem Weiberlachen aus der Elendsgasse keinerlei Ähnlichkeit besaß, nein, Ärgeres regte sich in diesem Lachen, Schrecknis und Furchtbarkeit, und es war die Furchtbarkeit des Sachlichen, das sich nicht, mehr an den Menschen wendet, weder an ihn, der es hier am Fenster gesehen und vernommen hatte, noch sonst an irgendeinen Menschen, gleichsam eine Sprache, die nicht mehr Brücke zwischen Menschen ist, gleichsam ein außermenschliches Lachen, dessen Hohnbereich den sachlichen Weltbestand als solchen umfaßt, und das, über jeden menschlichen Bereich hinausreichend, den Menschen nicht mehr verlacht, wohl aber mit der Bloßstellung der Welt ihn einfach vernichtet; oh, so hatte es im Lachen der drei Gestalten geklungen, Entsetzen ausdrückend, Entsetzen vermittelnd, das Mannslachen, das spaßgrölende Lachen des Entsetzens! Warum, oh, warum war es zu ihm geschickt worden?! welche Notwendigkeit hatte es hergeschickt? Er beugte sich hinaus, um den dreien nachzulauschen -dort am Südhimmel, dort spannte unbewegt-stumm der Schütze den Bogen gegen den Skorpion hin, schützenwärts waren die drei verschwunden, und aus der Stummheit flatterten noch ein und das andere Mal, erst roh zerrissen, dann leicht zerfranst, erst bunt, dann grau, und schließlich verflatternd die restlichen Unflatsfetzen ihrer Schimpfreden heran, ein glitschig fettes, keifendes Auflachen der Weibsstimme, anbieterischge-bieterisch in ihrem greinenden Jammer, ein paar Worte aus dem kehligen Baß des Hinkenden, ein und das andere Mal seine bellende Lache, zuletzt nur noch ein Dämmerfluchen, beinahe fernwehhaft, beinahe zart geworden und eingegangen in die übrigen Geräusche der Nachtferne, eingesponnen und einsgeworden mit jedem Ton, mit jedem letzten Tonrest, der sich der Ferne entlöste, einsgeworden mit dem Traumkrähen eines silberschläfrigen Hahnes, einsgeworden mit dem Verlorenheitsbellen zweier Hunde, die irgendwo draußen im verschimmernd Freien, vielleicht auf irgendeiner Baustelle, vielleicht bei irgendeinem Landhaus, einander ihr Monddasein zuriefen, das brükkenlose Zwiegespräch des Tieres einsgeworden mit den Tönen eines Menschenliedes, das bruchstückweise aus der Hafenzone heraufdrang, erkennbar zwar noch in seinem Ursprung, nördlich herangeweht, dennoch schon beinahe richtungslos, zart auch dies, obwohl es vermutlich zu einem lachenumbrüllten obszönen Matrosensang aus weinstinkender Taverne gehörte, zart und fernwehhaft, als sei die stumme Ferne, als sei das starr Jenseitige in ihr der Ort, an dem die stumme Sprache des Lachens und die stumme Sprache der Musik, beides Sprache außerhalb der Sprache, unterhalb und oberhalb der Grenze menschlicher Gebundenheit, sich zu neuer Sprache verbündeten, zu einer Sprache, in der die Furchtbarkeit des Lachens wundersam von der Holdheit des Schönen aufgenommen, indes nicht aufgehoben, sondern zu verdoppelter Furchtbarkeit verstärkt wird, zur stummen Sprache der außermenschlich-erstarrtesten Ferne und Verlassenheit, zur Sprache außerhalb jeglicher Muttersprache, zur unerforschlichen Sprache der vollkommenen Unübersetzbarkeit, unverständlich in die Welt eingegangen, unverständlich und unerforschlich die Welt mit ihrer eigenen Ferne durchdringend, notwendig in der Welt vorhanden ohne sie verändert zu haben, und eben darum doppelt unverständlich, unsagbar unverständlich als die notwendige Unwirklichkeit im unverändert Wirklichen!

Der Tod des Vergil

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