Читать книгу Mit Rad und Kegel zum Heiligen Jakob - Hermine Stampa-Rabe - Страница 6
D E U T S C H L A N D
ОглавлениеStart in Kiel
Während ich in der Frühe am 23. Juni hier in Kiel an der Ostsee meine Packtaschen die Treppen hinunterschleppe, habe ich das Gefühl, Ziegelsteine darin zu transportieren. Was um alles in der Welt habe ich nur eingepackt?
Mit Klaus, meinem Ehemann, starte ich bei Sonnenschein in Kiel. Es ist kühl, aber angenehm. Und so kommen wir gut voran. Die schweren Taschen stören gar nicht. Wir haben ja auch ein verhältnismäßig flaches Schleswig-Holstein. Um 12.00 Uhr erreichen wir Landwedel. Das Hinweisschild auf ein Storchennest macht uns neugierig, finden es aber erst nach einiger Suche. An diesem Platz steht eine Bushaltestelle. Mich quält mal wieder der Hunger. „Kläuschen, können wir hier unsere Mittagspause halten?“
„Na ja, können wir ja.“
So lassen wir uns darin nieder und essen unsere mitgebrachten Sachen auf. Wie ein Ungeheuer entlädt sich plötzlich ein Unwetter über uns! Gewittersturm! Schrecklich. Doch wir können uns glücklich schätzen, nicht irgendwo frei auf der Straße in der Walachei unterwegs zu sein. Die dunkelblauen Wolken entladen riesige Regenfluten: Platzregen. Es wird immer schlimmer. Es donnert, blitzt und will gar nicht aufhören. Wir fühlen uns zuerst hier in der Bushaltestelle vor dem Regen sicher. Aber oben rundherum unter dem Dach gibt es eine mindestens zehn Zentimeter hohe freie Rille. Von dort spritzt Wasser in unseren Kragen. Wie angestochen springen wir von der Bank und stellen uns beleidigt davor. Schnell schlüpfen wir in unser Regenzeug, holen unsere Räder unter das Dach und warten, bis das Wetter so einigermaßen weggezogen ist.
Die Wolkendecke über uns reißt nicht auf. Aber ewig können wir hier auch nicht bleiben. Schließlich sind wir für heute Abend in Itzehoe eingecheckt. Deshalb schwingen wir uns wieder auf unsere Räder und rollen weiter in Richtung Lockstedt.
Der leichte Regen bleibt uns treu, aber es blitzt und donnert wenigstens nicht mehr. Schließlich verziehen sich die Wolken weiter gen Osten und möchten wohl auch Kiel mit ihrer nassen Ladung beglücken.
Glänzende Oldtimer überholen uns von Zeit zu Zeit. Die Insassen winken uns lächelnd zu. Klaus wird immer munterer und fährt immer schneller. Ich strenge mich an und hetze hinter ihm hinterher. In Hohenlockstedt hält er vor einem verlockenden Café!
„Sag mal, was war denn in dich gefahren? Wieso bist du so gerast? Ich bin noch ganz aus der Puste.“
Lächelnd meint er: „Schon von weitem spürte ich den Kaffeeduft in der Nase. Der zog mich.“
Ich bin platt, alle und kann auch kaum noch. Später setzen wir unsere Fahrt nach Itzehoe fort. Die Landschaft ist leicht wellig. Kornfelder, Mischwälder und grünes Weideland wechseln sich ab. Rinder, Schafe und Pferde sind zu sehen. Hin und wieder springen Rehe ab und verschwinden hinter Büschen. Hasen und Kaninchen fliehen vor uns, drücken sich unter Stacheldrahtzäunen hindurch oder überspringen schmale Wassergräben in der tief gelegenen Stör-Niederung vor Itzehoe. Dort drüben stelzen zwei schwarz-weiße Störche am Graben entlang und suchen mit ihren langen, roten Schnäbeln Frösche. Dicke Reetdächer schützen die hier üblichen flachen Häuser vor Kälte. Frühlingsblüher wie Tulpen, Stiefmütterchen und Leberblümchen schmücken die gepflegten Vorgärten.
Bei der Abzweigung in der Nähe des großen Schlosses Breitenburg sehen wir einen Wegweiser nach Itzehoe. Aber durch die ganze Stadt möchte ich nicht fahren und bitte, nach rechts abzubiegen. Das erweist sich als Fehler. Denn eine unerwartete Steigung fordert unsere letzten Kraftreserven heraus. Klaus schiebt traurig hinter mir sein Rad. Auf Umwegen erreichen wir die Jugendherberge Itzehoe. Unten im Esssaal erhalten wir ein gutes Abendessen. Das muntere Reden von Schulgruppen begleitet unsere Mahlzeit.
Während ich auf unserem Zimmer mein Tagebuch schreibe, geht Klaus in der Umgebung noch etwas spazieren. Dazu habe ich abends beim besten Willen keine Lust mehr.
Für die nächsten Tage werden uns weiterhin Gewitter und Regen angekündigt. Bei Gegenwind erreichen wir die Fähre von Glückstadt und lassen uns damit über die breite Elbe nach Wischhafen schippern. Große und lange Container-Schiffe kommen von der Nordsee und transportieren ihre hoch aufgestapelte Fracht nach Hamburg. Und umgekehrt ziehen andere Containerschiffe von Hamburg zur Nordsee, um von dort ihren Heimathafen anzusteuern.
Phantastisch warme Luft umschmeichelt unser Gesicht. Auf unserem Weg nach Wüstenwohlde durchradeln wir eine fast platte Landschaft. Anfangs säumen weitflächige Apfelplantagen unseren Weg, später große Felder mit saftig grünem Gras, auf denen wohlgenährte rotbunte oder schwarzweiße Rinder sowie auch Pferde grasen.. Die Bauernhöfe sind im Fachwerkstil errichtet und leuchten schon von weitem. Hier gibt es große Moorflächen, wo früher in großem Stil Torf abgebaut wurde. Weiße Birken leuchten vor blauem Himmel. Später kommen wir auch an Mischwäldern vorbei. Wir befinden uns im Landkreis Niedersachsen. Diese Landschaft ist hier typisch.
In Wüstenwohlde soll die Jugendherberge, in der wir uns angemeldet haben, mittenmang im Moor stehen und kein anderes Haus weit und breit sein.
Wir halten an. Klaus Füße schwitzen und dampfen in seinen Goretex-Socken. Er wechselt sie gegen normale aus, weil sie keine Luft durchlassen.
Ruhig liegt diese Herberge mitten im Wald. Wir sind die einzigen Gäste. Eine Gruppe von 80 Personen ist heute abgereist. Morgen fahren wir weiter. Hier werden wir fürstlich bedient. Wenn ich auch das Essen dieser Tour so gut wie weglassen wollte, so kann ich dieses nicht überspringen. Der Herbergsvater serviert uns ein ganz, ganz großes Abendessen: Jeder 1 ½ riesige Schnitzel mit Pommes. Dazu reicht er uns einen ganz tollen Salat mit Dressing und hinterher noch eine riesige Schüssel voller Erdbeeren mit Schlagsahne.
Mit der neuen Polar-Sportuhr habe ich meine Probleme. Aber irgendwann bekomme ich das auch noch in den Griff und gebe die Hoffnung nicht auf.
Wir packen jetzt unsere ganzen Sachen zusammen, steigen aufs Rad und starten bei flauem Wind. In milder Luft durchradeln wir ein flaches Gebiet. Kurz vor der Weser-Fähre fängt es bei Sandstede an zu regnen. Langsam zieht der Himmel ganz zu. Drüben auf der anderen Seite der Weser suchen wir bei strömendem Regen Schutz in einem Unterstand. Doch setzen wir bei Nieselregen auf dem breiten Fahrradweg des Weser-Radwegs unsere Fahrt nach Brake fort. Die große Baustelle vor dem Hafen umfahren wir.
Heute sind wir in der Jugendherberge in Sandhatten eingebucht. Ca. 10 km vor Kirchhatten erschrecken uns plötzlich am Himmel riesige, aufgetürmte Gewitterwolken. Bei diesem Anblick schwant uns nichts Gutes. Deshalb treten wir ordentlich in die Pedale. Junge, Junge, Junge, Junge. Im Höchsttempo sausen wir dahin und erreichen um 18.00 Uhr die weit außerhalb auf einem Hügel liegende Herberge. Wir dürfen uns gleich an den Tisch setzen und warm zu Abend essen: Draußen geht plötzlich das Unwetter los. Der Platzregen vollführt auf dem Betonplatz vor dem Fenster unendlich viele kleine Fontänen. Der Sturm zaust die Bäume schwer und biegt sie weit hinunter.
„Kläuschen, was für ein Glück, dass wir noch trockenen Fußes dieses schützende Haus erreichten.“
Heute habe ich keine Lust mehr, mit meinem Höhenmesser herumzuüben, um Höhenmeter und die Kilometerleistung herauszubekommen. Der ist sehr schwierig zu bedienen. Von Höhenmetern kann hier ja sowieso kaum die Rede sein. Und für die zurückgelegte tägliche Strecke befindet sich an-Klaus Fahrradlenker ja ein Kilometerzähler. Nun bin ich bin platt und möchte nur noch schlafen.
Die Fenster sind heute morgen von innen total beschlagen. Logischerweise bedeutet das, dass es draußen kalt ist. Aber es ist wenigstens trocken. Wir hoffen, dass das bis mittags anhalten wird. Nach Deutschland ist nämlich eine große Kaltluftfront gezogen. Ich muss meine dicke Fahrradhose herausholen. Morgen haben wir Siebenschläfer. Und wenn es morgen regnet – oh nein, ich mag gar nicht daran denken!
Bei Trockenheit verlassen wir die Herberge. Der Himmel ist zugezogen. Wir kämpfen gegen kräftigen Gegenwind. Am Nachmittag soll es noch starken Dauerregen geben. Wir beeilen uns, so sehr wir können. Garrel empfängt uns mit Regen. Es gießt immer schlimmer. Hier sehen wir ein Schild mit der Aufschrift: Bahnhof. Ich sage: „Lass uns dorthin fahren, dann können wir mit dem Zug bei diesem Sauwetter nach Meppen fahren.“
Leider ist der Bahnhof schon vor einigen Jahre eingestellt worden. Aber es führt von dort eine Fahrradstraße mit einer Distanz von sechs Kilometern nach Cloppenburg. Der Wind wird immer stärker. Wir radeln unter Bäumen und genießen deren Regen- und Windschutz. Als wir in Cloppenburg einrollen, werden wir zum Bahnhof gewiesen. Hier hören wir, dass im ganzen nördlichen Niedersachsen das Unwetter herrscht.
In Oldenburg wurde sogar ein Auto vom Orkan durch die Luft geschleudert. Was für ein Glück, dass wir heil aus dem nördlichen Gebiet heraus sind und uns etwas weiter südlich befinden. Und was erwartet uns noch hier? Die Eisenbahn, mit der wir nach Meppen hätten fahren können, ist auch eingestellt worden. Dorthin fahren nur noch Busse, die aber keine Fahrräder mitnehmen. Bei diesem ekelhaften Wetter bleibt uns nur die Möglichkeit, mit der Eisenbahn gen Süden nach Osnabrück zu fahren. Das nehmen wir uns vor. Vielleicht gibt es dort einen Zug zu unserer für heute gebuchten Jugendherberge nach Meppen. Am Bahnhof erklärt man uns, dass der Anschlusszug von Osnabrück nach Meppen ausgefallen ist. Deshalb sitzen wir nun im Zug nach Osnabrück. Was für ein Glück, dass wir dem Unwetter draußen entkommen sind. In der Jugendherberge Osnabrück erhalten wir ein Zweibett-Zimmer.
Draußen hat über Nacht der Sturm gewütet. Die Eisenbahnstrecke Hamburg - Hannover ist wegen umgestürzter Bäume eingestellt worden. Im Moment scheint die Sonne. Aber die Bäume schütteln sich draußen im Sturm. Nach dem Frühstück beschließen wir, mit der Bahn nach Rheine/Westfahlen fahren.
Wir verlassen sehr früh am 27. Juni bei Regen die hiesige Jugendherberge. Auf dem Weg zum Bahnhof gehen wir in ein Fahrradgeschäft und kaufen ein, was uns für dieses kalte und nasse Wetter noch fehlt. Da ich bis jetzt mit meinem Polar-Höhenmesser nicht zurecht kam, zeige ich ihn den Männern und bitte um Hilfe. „Diesen teuren Tacho habe ich ja nur wegen des Höhenmessers gekauft. Und die Höhe und Kilometerangabe finde ich darin nicht.“
„Dieses Problem mussten wir schon früher einmal lösen. In der Nähe wohnte ein Spezialist für Polar-Tachometer. Aber auch er konnte das Problem damals nicht entschlüsseln.“
Und für so einen Tacho habe ich so viel Geld ausgegeben!?! Aber die Herzfrequenz usw. zeigt er ausgezeichnet an. Die brauche ich aber nicht, da ich mich vollkommen nach meinen Beinen richte. Ich behalte die Polar-Uhr am Handgelenk und kann anhand der großen Zahlen immer gut die Zeit ablesen. Auch die Tagesangabe ist mir bei meinen Aufzeichnungen sehr hilfreich. Aber eigentlich bin ich von diesem teuren Gerät sehr enttäuscht! Also gibt es von meiner Tour durch die Berge kein Höhenprofil. Traurig!
Bei Regen radeln wir weiter zum Bahnhof. Dort rufe ich bei der Jugendherberge Haltern-Sythen an, ob für uns beide dort noch Platz ist. Ja, wir können kommen. Auch können wir dort ein warmes Abendessen erhalten. So ziehen wir uns für diese Zugfahrt unsere Fahrkarten aus dem Automaten. Draußen herrschen weiterhin Sturm und Regen. Es soll in den nächsten Tagen besser werden.
Wir kommen bei trockenem Wetter und Sonnenschein bei der Herberge an. Sie liegt im Ortsteil Sythen in der Nähe des großen Stausees.
Ganz platt und wie erschossen strecke ich mich der Länge nach auf der Terrasse auf einer Bank aus, lege mir gegen die blendende Sonne meinen Schal über die Augen und schlafe ein. Wir erhalten ein kleines Zimmer ganz oben unter dem Dach und nennen es „unser Nirvana“. Morgen wollen wir weiter nach Xanten. Dann sind wir auch wieder auf unserer geplanten Route.
Unsere Räder dürfen wir zu ebener Erde in einen leeren Raum schieben und wandern zum Naturschutzgebiet am Stausee. An das direkte Ufer dieses Sees kommt niemand. Wir schlendern unter großen, alten Kiefern, Föhren, Buchen usw. auf dem breiten Weg dahin, der rund um den Stausee führen soll. Vogelgezwitscher, Jogger, Wanderer und Fahrradfahrer begleiten uns.
Wieder bei der Herberge angekommen, gucken wir zufällig in den Fahrradraum und fallen fast in Ohnmacht. Der Raum steht total voller Kinderfahrräder. Ich suche mir den Lehrer und frage ihn, ob das im Fahrradkeller die Räder seiner Gruppe seien und wie wir morgen ganz früh unsere Fahrräder aus diesen herausbekommen können. Sofort kommt er mit, fischt eigenhändig genügend Kinderfahrräder heraus, unsere auch, die Kinderräder wieder hinein und stellt unsere ganz vorn quer hin. Nun können wir getrost schlafen.
Morgen geht es den Römer-Weg entlang nach Xanten. Hoffentlich hat sich der Wetterbericht eben geirrt. Denn er kündigte uns für morgen Vormittag Regen an.
Eben aufgewacht, hören wir Regen auf unser Fenster pladdern. Draußen peitscht der Sturm die Regentropfen gegen das Fenster. Also: positiv denken.
Bei Nieselregen setzen wir am 30. Juni unsere Fahrt auf der für Fahrradfahrer hier im Münsterland ausgeschilderten Römerroute auf einer ganz tollen Landstraße fort und essen in einer kleinen gemütlichen Bushaltestelle vor Hünxen unser zweites Brötchen. Wir setzen unsere Tour zwischen grünen Feldern und Wäldern über den breiten Dattel-Kanal fort. Die Sonne kommt hervor, wärmt und trocknet die Luft. Hin und wieder überquert uns eine Regenfront. Ab Wesel, der unendlich langen Stadt, scheint die Sonne. Wir überqueren die Rheinbrücke und radeln zu unserem Ziel.
Im Mittelalter war Xanten am Niederrhein der bedeutendste Marienwallfahrtsort. Heute gilt diese Stadt nicht mehr als Pilgerziel, sondern liegt am Jakobsweg und wird demzufolge von vielen Pilgern besucht. In Xanten finden wir kein Hinweisschild zur Jugendherberge. Zum Glück helfen uns fremde Menschen weiter. Die Xantener Herberge nennt sich „An der Südsee“. Wir sehen einen großen, länglichen See. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um einen Baggersee handelt, oder um einen toten Rhein-Nebenarm. Aber er bietet einen schönen und weißen Strand zum Baden. Surfer gleiten darüber hin.
Das Zimmer an sich ist riesengroß. Über den Doppelbetten ist ein großes Moskitonetz befestigt. Das habe ich noch nicht einmal in Südamerika oder Alaska gehabt. Es ist wie in den Filmen aus Indien oder Afrika. Heute Nacht möchten wir das Netz mal aus Jux über unseren Betten ausbreiten. Muss ein irres Gefühl sein. Wimmelt es hier vielleicht im Sommer nur so von Mücken? Oder weshalb ist es angebracht worden? Wegen der Fliegen, die uns hier belästigen? Klaus begibt sich gleich auf Fliegenjagd und haut wie wild mit dem Handtuch um sich.
Der schöne Sonnenschein und die Wärme von gestern haben sich verdünnisiert. Es ist bedeckt, regnet aber zurzeit nicht, soll erst ab nachmittags nass werden. Hoffentlich nicht. Aber macht nichts. Wir haben ja Ruhetag.
Klaus ist leider über Nacht krank geworden. Er wachte vollkommen durchgeschwitzt auf, wechselte seine Wäsche, schlief wieder ein und wachte erneut durchschwitzt auf. Wir hoffen, dass er die Krankheit rausgeschwitzt hat. Das Regenwetter während des Fahrradfahrens ist für ihn noch niemals gut gewesen. Das ist ihm auf die Lunge geschlagen. Zum Glück haben wir Bronchoforton mit. Aber mehr können wir nicht machen. Ich weiß nicht, wie weit er mich noch begleiten kann. Auf jeden Fall werden wir in Xanten eine Fahrkarte kaufen, um bis Moers mit der Bahn zu fahren. Klaus Gesundheit geht vor. Aber wir müssen pünktlich bei den von uns gebuchten Jugendherbergen erscheinen.
„Kläuschen, ich mache mir große Sorgen um Dich.“
Habe noch einmal meine ganze Pilgerstrecke von Frankreich durchgearbeitet, freue mich schon darauf und sehe eine ganz tolle Zukunft vor mir. Zu Hause arbeitete ich nämlich meine Fahrrad-Pilgerstrecke ab Freiburg im Breisgau bis Santiago de Compostela im Buch
„Radwandern entlang des JAKOBSWEGS
Vom Rhein an das westliche Ende Europas“
von Bert Teklenborg
durch und habe alles Mögliche dazu geschrieben, kleine Zeichen aufgeklebt und Hinweise gegeben. So, damit bin ich bis zu den Pyrenäen fertig.
Es ist ein Wunder passiert. Draußen strahlt die Sonne. Während des Abendessens goss es noch. Na, wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, morgen bei trockenem Wetter starten zu können. Mal positiv denken!
Bei mir liegt noch alles Gepäck verstreut herum. Ich glaube, morgen früh muss ich mich beim Einpacken sputen.
Klaus hat über Nacht nicht mehr geschwitzt. Ihm geht es wieder besser. Aber wir müssen aufpassen. Heute reisen wir ab. Draußen regnet es. Es weht ein starker Wind. Nach dem Frühstücken und Bezahlen werden wir zum Bahnhof radeln. Der Zug bringt uns nach Moers. Dort türmen sich Probleme auf: Wie aus dieser Stadt gen Süden per Fahrrad rauskommen? Hier sind die Fahrradfahrer richtig aufgeschmissen. Es gibt nur eine einzige Straße gen Süden, auf der wir radeln dürfen. Die findet Klaus tatsächlich. In Krefeld streckt er seine Suchfühler aus, wie wir weiter Richtung Neuss kommen können. Wir radeln über alle möglichen Brücken und an allen möglichen großen Straßen vorbei. Endlich finden wir vor einem Metro-Geschäft einen Autofahrer, der uns den Weg nach Neuss-Uedesheim erklärt. Klaus führt uns sicher auf der großen Straße und dem Rhein-Radweg zur heutigen Jugendherberge.
Draußen ist es bewölkt. Hin und wieder kommt die Sonne durch. Wir hoffen auf trockenes Wetter, obgleich uns der Wetterbericht das Gegenteil prophezeite. Es soll bis 22°C warm werden. Das bedeutet für heute Marscherleichterung bei der Garderobe.
Unser heutiges Ziel ist Bonn. Diese Jugendherberge soll auf einem Berg von ca. 160 Höhenmetern liegen. Das kriegen wir dann wohl auch noch gebacken. Zuerst erreichen wir über den Rheindamm Rheine-Kassel.
Das Wetter hat sich gehalten. Mal verdeckt eine dicke Wolke die Sonne, mal erreichen uns ihre wärmenden Strahlen hier unten. Dann ärgert uns ein Schauer. Aber nach längerer Zeit bleibt uns die Sonne treu.
Auch die Stadt Köln, in die wir gerade einradeln, ist ein Wallfahrtsort, aber nicht wegen des heiligen Jakobus, sondern u.a. wegen des heiligen Albertus Magnus in St. Andreas.
In Köln staunen wir in der Nähe des ZOOs über die Gondeln, die von hier auf die andere Rheinseite schweben. Und plötzlich erblicken wir vor uns in einer guten Fotoperspektive den Kölner Dom. Leider verschandelt davor eine rosa David-Statue den Blick. Den möchte ich nicht auf meinem Foto haben. Also lasse ich es.
Wir hoffen, auf einem der weißen Schiffe gen Süden mitfahren zu können. Hier legt aber nur morgens um 9.30 Uhr eins in diese Richtung ab. So setzen wir uns am Rhein-Radweg bei dem schönen Wetter auf eine Bank. Vor uns pulsiert es nur so von Touristen, Wanderern und Fahrradfahrern. In diesem Gewühl halten wir unsere Mittagspause, setzen uns hinterher wieder aufs Rad und steuern immer am Rhein entlang unser heutiges Ziel, Bonn, an.
Wir durchqueren das Industriegebiet großer Firmen. Die Abgasluft könnte man mit dem Messer schneiden und in Drahtkörben abtransportieren. Schrecklich! Wir atmen nur ganz flach und sehen zu, schnell weiterzukommen.
Ohne weitere Vorkommnisse erreichen wir Bonn und befinden uns bald in einem sehr guten Stadtgebiet mit der Universität. Heute findet darauf gerade eine große Feier statt. Und nach zwei Kilometern geht es mit uns aufwärts, immer weiter aufwärts auf den Venus-Berg. In Klaus Beschreibung werden uns vier Kilometer bis zu unserer Jugendherberge angekündigt. Beim Anblick dieser Steigung frage ich mich, ob ich schieben muss. Aber ich quäle mich hoch. Später wird es noch steiler. Es gibt kein Hinweisschild zur Herberge. Nur durch den Hinweis eines Passanten finden wir sie.
„Kläuschen, derjenige, der hier oben die Jugendherberge errichtet hat, war kein Freund der Fahrradfahrer.“
Während wir nun so beim warmen Abendessen sitzen, steht auf einmal eine junge Frau vor uns und fragt, ob wir oben in unserem Zimmer den Wecker auf sechs Uhr gestellt haben. Denn der klingelt dort oben Sturm! Ja, es ist unserer. Klaus hat ihn schon für morgen früh auf sechs Uhr gestellt. Wie dem auch sei: Klaus flitzt hoch und würgt ihn ab. Kaum setzt er sich hier unten wieder an den Tisch, fängt es draußen an, wie aus Kübeln zu gießen. Wir bedanken uns still „oben bei Petrus“, dass er es erst abends gießen lässt.
Wir wirbeln schon sehr früh in der Herberge herum. Extra für uns wird die Küche schon vor sieben Uhr geöffnet. Der Wetterbericht in Klaus Mini-Radio sagt uns für heute gutes Wetter mit einer Temperatur von 20°C voraus. Wir haben einen sehr langen Weg von ca. 115 km vor uns und hoffen, dass es trocken bleibt.
Ab Bonn beginnt gen Süden die liebliche Landschaft des Rheins mit den sagenumwobenen Stätten Drachenfels und Rolandsbogen.
Dem Hinweisschild „Rheinfähre“ folgen wir, schieben ganz vorsichtig die steile Kopfsteinpflasterstraße hinunter auf die Fähre und lassen uns nach Königswinter übersetzen. Hier auf der östlichen Seite des großen Stromes radeln wir auf einem sehr gut zu befahrenden Rhein-Radweg gen Süden. Auf dieser Seite erhebt sich links neben uns das bewaldete Siebengebirge mit seinen Rebhängen.
Hier kommen wir durch das hübsche Fachwerkstädtchen Unkel. Als unser Radweg an einer Schnellstraße endet, setzen wir in Linz am Rhein wieder mit einer Fähre auf die westliche Seite über. Bei Sonnenschein, Wolken und angenehmer Temperatur rollen wir auf dem Rhein-Radweg immer so vor uns hin und genießen den Blick auf den Vater Rhein und seine Ufer.
Unter einer Platanen-Allee radeln wir unterhalb von Bad Breisig entlang. Bei Vogelgezwitscher und Sonnenschein sitzen wir nun auf einer Bank, essen und ruhen uns aus. Große Frachtkähne gleiten vor uns langsam dahin, Fähren überqueren den breiten, ruhig dahin fließenden Strom. Fahrradfahrer radeln auf dem Rhein-Radweg von beiden Seiten an uns vorbei. Fußgänger suchen die Fähre auf. Hier ist allerhand los. Wir staunen über die vielen Fahrradfahrer auf großer Fahrt mit den ihrem Gepäck an den Rädern.
Frohgemut und in Erwartung eines weiterhin schönen Rhein-Radwegs starten wir gen Süden. Kurz darauf führt uns dieser leider rechts in Serpentinen höher und immer höher bis auf ein Plateau. Vor Andernach rollen wir wieder hinunter an den Rhein.
Mir schmerzen die Hände. Das passierte mir noch auf keiner meiner vielen Fahrradtouren. Ob meine gepolsterten Fahrradhandschuhe drücken? Das taten sie doch früher nicht. Ich halte an, ziehe die Handschuhe aus und schaue traurig und hilflos auf meine geröteten Hände. Dieses Übel hat wieder zu verschwinden!
„Kläuschen, was habe ich bloß verbrochen, dass mir alles so weh tut?“
So fummeln wir uns bis Koblenz mit Suchen und Fragen durch, überqueren die Mosel-Brücke gen Süden und suchen das „Deutsche Eck“. Nun sitzen wir in seiner Nähe bei der großen Reiter-Statue und essen. Früher habe ich in dieser Stadt ein und ein halbes Jahr gewohnt und in der Nähe gearbeitet. In der Mittagspause gingen wir damals hierher und aßen unser Mittagsbrot. Damals stand keine Reiter-Statue darauf. Sie wurde im Krieg zerstört. Ich liebte und liebe diese Stadt. Links neben uns fließt die Mosel. Quer vor uns der Rhein. Gegenüber erhebt sich das bewaldete Bergland. Wenn wir von hier etwas weitergehen würden, könnten wir nicht nur die bunten, flatternden Fahnen am Deutschen Eck, sondern auch gegenüber hoch oben die große Festung Ehrenbreitstein sehen.
Meine Socken qualmen. Meine Füße pochen. Sie schreien nach Luft. Nichts wie raus aus den Schuhen! Und Klaus hat schon das erste halbe Brötchen aufgemampft und ich noch gar nichts. So geht das nicht weiter. Mein leerer Magen knurrt schon lange und hängt mir fast bis in die Kniekehlen.
Von Koblenz aus fahren wir immer in der Nähe des Rheins weiter gen Süden. Bei der Burg Stolzenfels führt unser Fahrradweg leider eine Zeit lang über Naturasphalt, Schotter, Verbundsteine und kleines Kopfsteinpflaster. Aber dieses ist besser als loser Sand. Auch dieser Streckenabschnitt endet mal und führt uns auf einen wunderbaren, geteerten und breiten Rhein-Radweg. Wir saugen förmlich mit unseren Augen die wunderschöne Kulisse des breiten Rheins mit seinen beidseitig in die Höhe steigenden und mit Weinplantagen geschmückten Berghängen und hin und wieder urigen Burgruinen wie z.B. die Marx-Burg in uns auf.
Unser Trinkwasser ist leider schon zur Neige gegangen. Hier gibt es kein Geschäft, um etwas zu kaufen. So entschließe ich mich, eine vor einem Haus arbeitende Frau zu fragen: „Entschuldigen sie bitte. Darf ich mir aus ihrem Wasserhahn unsere Trinkwasserflaschen füllen?“
Sie schaut mich ganz überrascht an, als hätte sie so etwas noch nie gehört, lächelt aber gleich und zeigt mir eine Treppe, die ich hochgehen soll. Mit unseren ganzen Wasserflaschen erklimme ich sie, klopfe an die dortige Tür und werde von einem Zimmermann groß angeschaut, als er meiner mit dem Sturzhelm auf dem Kopf und den vielen leeren Trinkflaschen in den Armen ansichtig werde. Ich darf sie mit Leitungswasser auffüllen. Meine „Schätze“ bringe ich zu Klaus. Wir trinken, als seien wir kurz vor dem Verdursten.
Um 18.00 Uhr erreichen wir den Ort St. Goar und folgen dem Hinweisschild Jugendherberge nach rechts ca. 200 m mit einer Steigung von 14,5% unter einer Brücke hindurch. Hier schieben wir natürlich. Ich im Gegensatz zu Klaus im super langsamen Tritt. Es kostet mich unheimliche Mühe und Qual. Klaus ist früher oben, sieht, wie ich mich quäle, kommt schnell zu mir, nimmt mir das Rad ab und schiebt es bis zur Herberge. Ich schleiche hinterher. Als ich meine Packtaschen abgepackt habe, bin ich fix und fertig. Klaus nimmt mir glücklicherweise mein Gepäck ab und trägt es die Treppen hinauf in die Anmeldung. Hinterher schließt er unsere Räder ein.
Beim Erhalt unseres Schlüssels für das Zimmer Nr. 7 freue ich mich. Denn ich verbinde damit die Erfahrung, dass es sich dann um ein Zimmer „unten“ handelt. Das ist hier leider ein Trugschluss. Die Taschen müssen wir noch eine Doppeltreppe hinaufbugsieren, dort oben durch eine Glastür in einen kleineren Gang und dort noch eine Treppe höher tragen. Ich bin mit meinen Knien und mit meinen Händen so fertig, dass ich mich nicht einmal mehr aufstützen kann. Mir geistert der gespenstische Gedanke durch den Kopf: „Wie soll ich bloß meine Fahrradtour weiterführen?“
„Kläuschen, ich glaube, Gott bestraft mich für meine Sünden.“
Auf jeden Fall kann ich die Bergtour, die ich mir in Frankreich vorgenommen habe, nicht fahren. Ich werde mir eine neue Landkarte von Frankreich besorgen, auf der ich eine Straße finde, die mich an die Rhone bringt. Diesen französischen Fluss möchte ich dann gen Süden über Arles bis ans Mittelmeer verfolgen, von dort an dem Fluss, an dem Toulouse liegt, gen Westen radeln. Diese Strecke werde ich mir dann ausknobeln und zusehen, wo ich dort überall ein Nachtlager erhalten kann. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Flussstrecke zu nehmen. Das steht leider fest.
So und mit dem teuren Polar-Höhenmesser stehe ich immer noch auf Kriegsfuss. Das hat damit keinen Zweck. Den kann ich mitsamt dem PDA an Gudrun nach Spanien schicken. Der erfüllt nicht seinen Zweck.
Unser Zimmer ist ein kleines, lüttes Kabuffchen. Vor dem Fenster steht ein Tisch von ca. 60 x 60 cm und darunter klemmen zwei Stühle. Auf und unter „meinem“ Stuhl stehen meine Packtaschen. Darauf kann ich also nicht sitzen. Klaus kann seinen gerade weit genug herausziehen und darauf Platz nehmen, um seine Landkarten zu studieren. Mein Sitzplatz befindet sich auf dem unteren Bett, in dem ich schlafen werde. Die Betten sind schon bezogen. Das ist eine ganz tolle Erfindung. Ebenso liegt hier für jeden von uns ein sauberes, großes Handtuch parat.
Ein Waschbecken gibt es in diesem winzigen Raum nicht. Die sanitären Anlagen befinden sich in der Nähe auf dem Flur. Sie vermitteln den Eindruck, als wenn Mädchen und Jungen darin gemeinsam duschen können. Wenn ich morgen früh aufwache, meinetwegen auch mitten in der Nacht - ist mir ganz egal – werde ich mich dort duschen. Möchte mich dort morgen früh nicht ausziehen, wenn die Schuljungens darin herumlatschen. Muss ja nicht sein.
Nun bin ich vollkommen satt, habe ganz viel getrunken und empfinde trotzdem noch immer Durst. Aber es passt nichts mehr hinein.
Heute ist mein Leidenstag. Ich bin todmüde. Klaus ist auch platt. Draußen gießt es in Strömen!!!
Wir sind hier in der Jugendherberge in St. Goar aufgewacht. Der Rabatz, den die jungen Leute vor dem Schlafen auf diesem Gang veranstalteten, wurde von dem Lehrer so zwischen 20.00 und 21.00 Uhr unterbunden. Denn er wohnt auch hier oben. Die Probleme mit meinen Händen haben sich bis heute früh etwas zurückgezogen, so dass ich wieder fahren kann. Klaus gibt mir seine ihm von mir unterwegs neu geschenkten Fahrradhandschuhe. Vielleicht kann ich damit besser fahren. Die drücken vielleicht nicht. Meine Knie haben sich auch wieder beruhigt. In unserem Zimmer sieht es noch wild aus.
Nach dem Frühstück starten wir am 13. Juli bei Trockenheit und bremsen uns zuerst den steilen Berg hinunter Das kann ich ganz gut. Landkarten von Frankreich sind in St. Goar nicht erhältlich. So kauft Klaus für uns Wasser, das wir sofort in unsere Flaschen füllen. Über Nacht hat es ordentlich geregnet. Die Luft ist sauber. Es ist total bewölkt.
Wir kommen eigentlich ganz gut auf dem breiten Fahrradweg voran. Vor uns links baut sich der steile Loreley-Felsen auf. Mir fällt das Lied: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin ....“ ein und singe es vor mich hin. Von Zeit zu Zeit thronen beidseitig Burgruinen auf den bewaldeten Rheinhöhen. Sie grüßen uns aus luftiger Höhe und die Kaiserpfalz Kaub von einer felsigen Rheininsel. Während uns eine ganze Menge Langstreckenfahrradfahrer als Pärchen, Einzelfahrer oder in Gruppen entgegen kommen, fahren wir an Bacharach, einem der schönsten Rheinstädtchen, vorbei. Heute kann ich wieder ohne jegliche Schmerzen an den Händen oder Knien fahren.
So rollen wir ohne Probleme gen Süden bis Bingen. Dadurch, dass in dieser Stadt im Jahr 2008 die Landesgartenschau ausrichtet, versperren uns hier am Rhein-Ufer viele Baustellen die Weiterfahrt. Dementsprechend gibt es viele Umleitungen für die Fahrradfahrer. Die haben wir nun auch hinter uns. Nur fängt es in Bingen an zu regnen.
Klaus wollte eigentlich mit mir eine Abkürzung fahren, die er sich in Kiel auf der Landkarte ausgeguckt hatte. Nun werden wir aber vollkommen anders durch die Stadt geleitet. Doch dann sieht er eine Eisenbahn-Unterführung, durch die er uns führt. Wie ein Wunder befinden wir uns dahinter auf der richtigen Straße und können in verkehrsberuhigter Gegend weiterfahren. Der Regen verwandelt sich schlagartig in Platzregen, so dass die auf die Erde geschleuderten Regentropfen als kleine Springbrunnen in die Luft zurück spritzen. Zum Glück können wir unter eine große Brücke schlüpfen. Dort präparieren wir uns mit unserer Regengarderobe. Die uns überholenden Autos duschen uns auf unserer Weiterfahrt so richtig von oben bis unten voll: kostenlose Fahrradwäsche.
Nach längerer Zeit durchqueren wir eine Eisenbahn-Unterführung und sehen ein Schild mit dem Hinweis: Bahnhof. Diesem folgen wir sofort. Eigentlich herrscht heute auch Eisenbahn-Streik. Auf meine Frage bei einem Eisenbahn-Beamten mit roter Mütze erhalte ich die Antwort: „Für den nächsten Zug nicht.“
Wir lösen uns sofort im Automaten Karten für die Strecke bis Mainz. Die Fahrradkarten reichen sogar bis Worms. Dort sind wir für heute eingebucht. Der Zug, in den wir einsteigen dürfen, besitzt drei hohe Stufen, über die wir unsere Räder samt Packtaschen hieven. Aber von allen Seiten bieten sich hilfreiche, starke Arme und Hände an. Der Himmel wird in unserer Fahrtrichtung immer dunkler. Ist das ein beruhigendes Gefühl, mit der Bahn durch den Sturzregen zu fahren!
In Worms finden wir einen ganz grausamen Bahnhof vor. Er besitzt keinen Fahrstuhl. Er kommt uns wie der letzte Hinterweltler-Bahnhof vor. Das bedeutet für uns: Taschen abpacken, diese einzeln und das Rad die vielen Treppenstufen hinunter tragen. Der Bahnhof wird nämlich gerade umgebaut. Es tropft unten im Gang von der Decke. Klaus trägt jedes Mal die Fahrräder entweder hinunter oder am Ende des Ganges auch wieder hoch. Was für ein Glück, dass ich ihn bei mir habe. In dem Wissen,, dass es morgen den ganzen Tag regnet, erkundigen wir uns gleich an Ort und Stelle, ob es morgen einen Zug nach Karlsruhe gibt. Dort sind wir für morgen Abend eingebucht.
In Worms hat es nicht geregnet. Es ist trocken und auch einigermaßen warm. Klaus führt uns beide ganz sicher zur Jugendherberge. Sie liegt genau dem Dom gegenüber. Im zweiten Stock erhalten wir das Zimmer Nummer 25. Ganz im Gegensatz zu St. Goar bewohnen wir hier ein schönes, großes Zimmer mit großem Duschbad. Hier könnte man tanzen.
Martin Luther verteidigte vor dem Reichstag zu Worms seine berühmten 95 Thesen. Hier begann die Reformation.
Täglich ärgerte ich mich über all die überflüssigen Sachen, die ich mitschleppte. Die möchte ich heute Abend nach Hause schicken. Deshalb besteht meine erste Amtshandlung im Auskramen aller meiner Taschen. Auch meine beiden kleinen Lowrider-Packtaschen sollen leer mit in die große, grüne Plastiktüte zum Verschicken. Auf der Post erstehe ich einen großen Karton, in den alle meine Utensilien passen. Klaus steckt auch noch etwas hinzu. Alles zusammen wiegt 7 kg und 700 g. Also erleichtere ich mein Fahrrad um 15 Pfund. Alle anderen Sachen befinden sich ab jetzt nur noch in den beiden großen Ortlieb-Packtaschen für den Gepäckträger. In die grüne, große Plastiktüte kommen ab nun die Regen- oder Fließ-Jacke, die Regensocken und Regenhandschuhe sowie mein Kettenschloss.
„Kläuschen, mit diesem erleichterten Gepäck sieht meine Zukunft nun rosiger aus.“
Das Highlight des Tages, besonders nach dem heute durchstandenen Mistwetter, ist das Essen.
Nun sitze ich Nackedei hier auf meinem Bett und warte, dass Klaus aus der Dusche kommt, um mich auch „anfeuchten“ zu können. Und dann möchte ich mich bis morgen früh langlegen!
Wir starten am 4. Juli bei Trockenheit. Dicke Wolken schwimmen am Himmel. Uns wurde starker West-Sturm mit Schauer-Staffeln und mit einer Temperatur von ungefähr 18°C vorausgesagt.
Ganz optimistisch streicheln wir heute früh unser Gesicht mit Sonnencreme. Klaus findet ganz gut den Weg aus Worms gen Süden. Zum Glück ist der Fahrradweg gut ausgeschildert. Ohne diese Hinweise wären wir nur bei Autostraßen und Autobahnen gelandet. Dieser vom ADFC ausgesuchte Fahrradweg führt sehr lange durch die Rhein-Auen bis hinter Ludwigshafen. Die nächste Aufgabe besteht darin, auch gut bis Speyer am Oberrhein zu kommen. Bei Sonnenschein erreichen wir die alte Kaiserstadt und lassen uns vor dem berühmten Kaiserdom (11. Jahrhundert) aufnehmen.
Klaus hatte morgens in der Herberge einen Weg gen Süden herausgefischt, der mindestens 5 km kürzer ist. Den gilt es nun, zu finden. Er findet ihn.
Wir haben gerade den ersten, richtig ekligen, fiesen, oberfiesen Berg erklommen. Als Belohnung finden wir hier oben glücklicherweise EDEKA. Und setzen uns drinnen beim Bäcker hin und lassen uns Brötchen, Kuchen, Milch und Kakao bringen. Das schlinge ich aus Frust über den eben „erklommenen“ Berg nur so in mich hinein. Klaus kaut noch genüsslich sein Stück Apfelkuchen. Ich kann ihm dabei nicht zusehen, stehe auf und wandere schon nach draußen zu meinem Rad. Die Sonne scheint mal wieder, während wir weiterradeln.
Von EDEKA aus sausen wir den Berg mit voller Geschwindigkeit wieder in die Tiefe zurück und suchen uns unseren Rhein-Radweg. Trotz des Regenschauers kurbeln wir flott bis Lingenfeld zum Bahnhof und suchen einen Zug nach Karlsruhe. Dort sind wir für heute Abend eingebucht. Der erste Zug soll erst in 2 ½ Stunden fahren. Weil es von Germersheim einen schnelleren Zug gibt, entschließen wir uns, bis dorthin zu radeln.
Während Klaus schon vor mir aufs Rad steigt und vom Bahnsteig hinunter radelt, steige ich auf, verhake mich mit meiner Fahrradhose am Sattel, komme aus dem Gleichgewicht und wäre um Haaresbreite links hinunter auf das Bahngleis gestürzt. Geistesgegenwärtig lasse ich mich mit Gewalt nach rechts fallen. Zum Glück kann ich mich auf diese Weise vor dem schrecklichen Sturz in die Tiefe retten und rufe Klaus. Während ich mich aufrappele, mein Fahrrad aufsammle und mir das Loch in meiner Fahrradhose am inneren Oberschenkel ansehe, erreicht er mich mit wachsbleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, um mir zu helfen.
„Kläuschen, so leicht lasse ich mich nicht unterkriegen.“
Wir setzen unseren Weg nach Germersheim fort. Dort steigen wir in jenen Zug ein, in den wir schon in Lingenfeld hätten einsteigen können. Gedacht, gesagt, getan. Im Zug ziehen wir uns unsere Fahrkarten aus dem Automaten. Per Handy sage ich bei der Jugendherberge Bescheid, dass wir erst um 19.30 Uhr in Karlsruhe auf dem Bahnhof ankommen. Am Hauptbahnhof futtern wir als unser Abendessen ein großes, mit Käse belegtes Brötchen.
Eine Frau in einem Büchergeschäft zeigt mir, wie wir auf welchen Straßen ganz leicht zur Herberge finden. Das ist eine ganz tolle und übersichtliche Sache. Danach kommen wir ohne Schwierigkeiten vom Bahnhof aus zur Jugendherberge. Ein 14-jähriger Junge ist sehr an unserer Tour interessiert, lässt sich von mir viel erklären und meint, später will er das auch mal machen. Ich hoffe, wir sind für ihn ein gutes Vorbild.
Als ich uns damals hier von Kiel aus telefonisch anmeldete, wurde mir gleich gesagt, dass für uns kein Einzelzimmer frei sei. Wir würden jeweils in ein Männer- und Mädchenzimmer zu anderen gesteckt werden. Aber wir erhalten im II. Stock ein ganz großes Zimmer mit zwei übereinander stehenden Betten.
„Kläuschen, was für ein Glück, dass wir in der kommenden Nacht unsere geschundenen Knochen in diesem schönen Zimmer ausruhen können.“
Oben in unserem Zimmer angekommen, wechseln wir nur schnell die Schuhe und begeben uns bei Sonnenschein zum Schlosspark, der nur sieben Minuten Fußweg entfernt liegt. Mitten im Schlosspark zeigt mir Klaus das stilvolle und große Schloss Augustenburg. Es wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts kam es in private Hände und wurde ein Baudenkmal. 1987 wurde es erfolgreich in ein Senioren- und Pflegeheim umgebaut.
Auf unserem Rückweg passieren wir wunderschön angelegte Blumenbeete der Orangerie. Ich bin begeistert. Mir kommt der Gedanke: Wenn ich hier wohnen würde, dann würde ich an jedem sonnigen und warmen Tag hierher gehen, mich auf eine der vielen Bänke setzen, um allein die Schönheit und den Duft der Blumen zu genießen.
Wir sind uns dessen bewusst, dass um 22.00 Uhr rundherum die Eingänge zum Park geschlossen werden und machen uns auf die Socken. Die Sonne ist schon untergegangen. Es wird langsam aber sicher dunkel. Es dauert lange, ehe wir einen offenen Ausgang finden. Und wir sind schon wieder hungrig. Bei einer Tankstelle kaufen wir uns zwei Tüten voller Salzstangen. Nach zwei Stunden Abwesenheit betreten wir wieder unser Zimmer. Karlsruhe ist eine ganz tolle Stadt!
Heute hat mein Enkelsohn Steffen, der kleine drollige Blondschopf, in Rudersberg Geburtstag. Draußen ist es wie immer: kühl und windig. Es regnet zwar nicht, hat es aber in der Nacht. Laut Wetterbericht aus dem Radio soll es heute wieder ordentlich „feucht“ und ab morgen besser werden. Wollen es hoffen.
Es ist echt die Oberhärte, hier aus Karlsruhe mit dem Rad gen Süden an den Rhein-Radweg zu kommen. Wir fahren erst von der Jugendherberge aus ganz und gar gen Westen. Dann hat sich Klaus in Richtung Rastatt eingefädelt. Auf einmal können wir keinen Fahrradweg mehr finden, sondern nur noch das blaue Schild mit dem weißen Auto darauf, was bedeutete: nicht für Fahrradfahrer. Dann fädelt er uns durch die Rhein-Auen bis zu einem Schwimmbad in der Nähe des Rheins. Plötzlich befinden wir uns oben auf dem Deich auf dem Rhein-Radweg. Der ist aber natürlich nicht befestigt. Es regnet wieder. Ein weiteres Ehepaar auf Fahrradtour schließt sich uns an. Und als wir das Schild ‚für Fahrradfahrer links nach Forchheim’ ausmachen, biegen wir dorthin ab. Das Ehepaar setzt seine Tour auf dem nassen Schotterweg fort. Klaus hat uns auf diese Weise auf Teerwegen durch die Rhein-Auen weiter gen Süden geführt. Auf diesem Weg erreichen wir bald Illingen und möchten weiter nach Neuburgweiher.
Während wir diesen kleinen Ort verlassen und eine kleine Straße überqueren, steht rechterhand eine Frau und bittet uns um Hilfe. Ihr Hosenbein hat sich zwischen Fahrradkette und Zahnkranz verfangen. Sie kann sich beim besten Willen nicht mehr allein daraus befreien und wäre sonst umgestürzt. Mit vereinter Kraft helfen wir ihr. Sie bedankt sich und fragt: „Wohin fahren sie?“
„Nach Spanien.“
„Ah, dann habe ich etwas für sie!“ Mit einem ganz glücklichen Gesicht holt sie aus einer ihrer Jackentaschen das Johannes-Evangelium hervor und reicht es mir.
„Oh, das passt ja ausgezeichnet!“ Mit einem herzlichen Dankeschön verabschieden wir uns gegenseitig. Während sie in den Ort radelt, setzen wir unseren Weg fort.
„Kläuschen, das werde ich durchlesen und mir zu Herzen nehmen.“
In Illingen - in der Nähe des Rheins – angekommen, fängt es wieder an zu regnen. Wir trocknen also nicht aus, unsere ganze Landschaft auch nicht. Wir müssen das wohl oder übel überstehen. Vor mir sehe ich oben am Himmel schon ein wenig blauen Himmel zwischen den Wolken und hoffe, gegen Abend wieder trockenes Wetter zu bekommen. Eigentlich haben wir hier ein typisch norddeutsches Wetter: immer feucht, kühl und windig, leider aber hier nur mit Gegenwind. Der ist sicher extra für Fahrradfahrer!
In Wintersdorf suchen wir Schutz in einem Buswartehäuschen. Bei unserem Start gießt es erneut. Aber wir müssen weiter. Klaus führt uns sicher durch die Landschaft, übersieht kein Schild auf dem gut ausgeschilderten Weg. Wir erreichen den Ort Rheinau. Dort wissen wir nicht mehr, wie wir weiterkommen können. Am liebsten möchten wir an die Bundesstraße (36), wissen aber nicht, ob sich an dieser Straße ein Fahrradweg befindet oder nicht. Weil wir uns aber nicht in den Rhein-Auen verfransen wollen, sind wir in den Ort Iffelsheim zurückgefahren. Vor einem Geschäft frage ich einen Mann: „Kennen sie sich hier aus? Und wie kommen wir von hier zur (36)? Und gibt es daran einen Fahrradweg?“
Er erklärt uns den Weg. Umständlich erreichen wir Reinau. Von hier aus können wir wieder auf einem ausgeschilderten Weg für Fahrradfahrer fahren und erreichen zufällig eine ganz niegel-nagel-neue vierspurige Straße, die östlich des Rheins nach Süden bis Kehl führt. Es gießt immer mehr. Und der Wind bläst uns von vorn entgegen. Es bringt keinen Spaß. Bei solchen Widrigkeiten schalte ich einfach mein Gefühlsleben ab und fahre stur wie eine Maschine weiter. Nur so kann ich das überleben. Das ist auf allen meinen großen Fahrten meine Überlebensstrategie.
Noch weit vor Kehl passieren wir ein rechts stehendes Haus, vor dem mehrere Autos parken. Ich schlage meinem Klaus vor: „Ich gehe hinein und frage, ob wir hier schlafen können.“
„Aber nein. Wir sind in Kehl eingemietet. Also fahren wir weiter.“
Er ist hart gegen sich selbst und gegen andere. Aber ich weiß, dass dieses Wetter Gift für seine Lunge, Stirnhöhle und die Nasennebenhöhlen ist und mache mir um seine Gesundheit große Sorgen. Aber er möchte weiter, so, wie sich das für einen Wanderführer auf großer Fahrt gehört. Und ich muss mit.
Am Ende dieser langen Straße auf platter Flur halten wir an einer T-Kreuzung. Geht es nun links oder rechts ab? Wir wissen, dass wir uns ganz dicht vor Kehl befinden. Es gibt nur einen Hinweis zur Autobahn. Und bald darauf finden wir selber ein Schild mit dem Hinweis, dass es dorthin noch 4 km sind. Unter weiter anhaltendem Starkregen und Sturm von vorn erreichen wir den Außenbezirk von Kehl und einen Fahrradweg. Wäre Klaus nicht dabei gewesen, hätte ich mich schon bei der ersten Kreuzung verfranst. Und es schüttet wie aus Kübeln. Wir wissen nicht, wie wir zur Herberge gelangen. In einer großen Tankstelle erhalten wir den erlösenden Hinweis. Und nach zehn Minuten erreichen wir vom Regen entmutigt unser Etappenziel.
Wir treten ein. Aber an der Glasscheibe der Anmeldung hängt ein Zettel, dass erst um 20.00 Uhr geöffnet wird. Wir haben gerade 19.10 Uhr. Klaus ist total durchnässt. Er sagt: „Egal wie, ich muss mich jetzt hier umziehen.“
Plötzlich hören wir eine freundliche Frauenstimme: „Ich sah sie eben. Kommen sie. Ich schließe auf. Sie können sich gleich anmelden und auf ihr Zimmer gehen.“ Das ist die Herbergsmutter. Alle Einzelgäste erhalten ganz oben im II. Stock ein Zimmer. In einem richtig schönen, großen Zimmer mit bunten Gardinen, einer hübschen Tischdecke auf dem kleinen Tisch und einem kleinen Blumenstrauß in einer Vase dürfen wir heute schlafen.
Während sich Klaus umzieht – bei ihm ist alles klitschenass – ich nur von außen -, mache ich mich auf, um für uns beide etwas zu essen zu besorgen. In der nahe gelegenen Gaststätte erhalte ich warmes Essen zum Mitnehmen. Stolz ob meiner leckeren und duftenden Schätze steige ich die Treppen zu ihm empor. Er liegt schon im Bett, um sich aufzuwärmen, steht aber gleich auf, zieht sich etwas Warmes über und schmaust mit mir.
Von Klaus Garderobe ist nur die Fließ-Jacke trocken geblieben. Sie hielt ihn so leidlich warm. Aber alles andere ist – auch unter der neuen Regenhose – klitschenass. In seinen Schuhen muss er Wassertreten gemacht haben. Wie schrecklich! Der Ärmste!
„Kläuschen, du mein Schutzengel, du hast doch nie gesündigt und besitzt nur ein ganz reines Herz. Wofür wirst du bestraft? Hoffentlich geht es dir morgen wieder besser.“
Beim Ausziehen meiner Fahrradschuhe stelle ich fest, dass meine Füße und Regensocken trocken und warm sind. Das einzige, was bei mir kalt und feucht ist, das sind die Ärmelbündchen. Und meine Regenhandschuhe, die ich mir vor Jahren in Kiel kaufte, sind zwar feucht, aber hielten meine Hände warm, weil sie eine Zwischenlage aus Schaumstoff besitzen. Diese Wunder-Überziehsocken werde ich meinem Klaus auch noch besorgen.
So, nun sitze ich hier auf meinem Bett. Klaus sagt, dass der Wetterbericht für morgen besseres Wetter prophezeit hat. Das wird dann ja einen trockenen Fahrradtag nach Breisach geben.
Damit Klaus nicht an Lungenentzündung erkrankt, reiche ich ihm die Tube Bronchoforton, um sich damit einzucremen. Und was sagt er mit einem Zwinkern in den Augenwinkeln?: „Dann kann ich mich ja mit Zahncreme eincremen.“
Wieso? Weil ich vor einigen Tagen zum Zähneputzen ganz in Gedanken einfach eine andere Tube aus seiner Kulturtasche holte, nicht genau hinschaute und davon einen Schnirks auf meine Zahnbürste drückte. Das war eine Wundcreme. Wenn er noch solche lustigen Gedanken hat, dann geht es ihm wohl doch noch nicht so schlecht, oder? Sehr positiv!
Wir befinden uns noch in der Jugendherberge in Collmar – ach nein, in Kehl. Mein Gehirn ist wohl gestern vom Regen ausgewaschen worden. Verständlich.
Mein armer Klaus ist seit gestern gesundheitlich ziemlich angeschlagen. Sein Kreislauf will heute früh noch nicht so richtig laufen. Auf jeden Fall wird es Zeit, dass er nach Hause nach Kiel kommt.
Wir haben die Jugendherberge verlassen und schieben unsere Räder schon eine ganze Strecke. Klaus fühlt sich schwindelig. Sein Kreislauf streikt. In einem Geschäft erhalte ich eine neue Frankreich-Landkarte. Habe auch mit Gudrun in Spanien telefoniert. Sie rief den Wetterbericht in ihrem PC auf und sagt: „Ihr werdet kurzfristig Sonnenschein haben. Aber danach gibt es wieder Regen.“ Und deshalb fahre ich nicht mehr meine ursprünglich ausgearbeitete Strecke um Collmar, Frankreich, herum, sondern südwestlich über Muhlhouse zu meiner Strecke Cluny usw. Über Frankreich liegt ein sehr großes Regentief und will sich nicht verziehen. Von dem Mistregen habe ich die Nase gestrichen voll.
Gegen 10.00 Uhr wagt sich Klaus wieder aufs Rad, um uns nach Breisach zu führen. Es ist schon wieder feucht und kalt. Hinter Kehl steuert er den Rheindamm an. Der kalte Regen klatscht uns auf unserer Weiterfahrt ins Gesicht. Gegen Mittag setzen wir uns wieder, wie jeden Tag, zum Essen in ein Buswartehäuschen. In der Zwischenzeit hat das Wetter vollkommen aufgeklart. Es wird immer besser und auch wärmer. Ohne weitere Vorkommnisse erreichen wir gegen 18.00 Uhr bei Sonnenschein die Jugendherberge Breisach.
Heute Vormittag erledigen wir noch Einkäufe. Meine kaputte Fahrradhose geht mit Klaus nach Hause nach Kiel. Dafür brauche ich eine neue. Die Bremsen werden bei meinem Rad nachgestellt, die Reifen prallvoll gepumpt.
In der Fußgängerzone von Breisach höre ich, wie eine Großmutter, ihr Enkelkind an der Hand, schräg über die Straße zu einer Bekannten ruft:
„Bist du auch schon Oma?“
„Nein.“
Fragt sie noch einmal: „Wie alt ist denn deine Tochter?“
„Sie ist 27. Aber ich bin noch nicht Oma. Dann würde ich mich ja noch viel älter fühlen!“
Das konnte ich vollkommen nachvollziehen. Denn als mein erstes Enkelkind geboren wurde – ich war riesig stolz darauf – war ich über diesen Titel auch nicht glücklich. Ich empfand ihn ebenfalls als Symbol des Altseins. Und alt wollte ich doch noch nicht sein!
Wir unternehmen am Nachmittag bei strahlendem Sonnenschein eine Rundfahrt in die französischen Rhein-Auen und erreichen nach einem großen Bogen wieder die Herberge. Es werden zusammen 50 km. So sind Klaus und ich von Kiel bis heute 1.001 km gefahren. Das ist für ihn ein ganz toller Abschluss. Nun gehen wir hinunter zum warmen Abendessen.
Heute am 8. Juli reist Klaus wieder zurück nach Kiel. Noch wirbelt er herum. Draußen sehe ich klaren, blauen Himmel mit lütten Wölkchen. Vielleicht haben wir ja Glück, dass das schlechte Wetter woanders hinüberzieht. Denn morgen reise ich alleine gen Westen weiter.
Nun beginnt Klaus letzte Fahrradetappe nach Freiburg. Die Beschreibung für diesen Weg in meinem Büchlein passt bis Freiburg ganz gut. Und bis zum Bahnhof finden wir auch. Klaus Zug hat zehn Minuten Verspätung.
Heute früh war solch tolles, warmes Wetter. Die Sonne schien. Kein Wölkchen am Himmel. Und was ist jetzt? Alles zugezogen und kalt. Und ich habe noch nicht einmal ein Hemd unter meinem Trikot an. Da ich aber mit der S-Bahn nach Breisach zurückfahre, ist es wohl nicht so schlimm. Sein Zug fährt vor.
„Kläuschen, gute Heimfahrt und erhol dich gut. Wenn es später in deinem linken Ohr klingelt, dann denke ich sehr intensiv an dich.“
Er lächelt mich an. Eine letzte liebevolle Umarmung, ein Abschiedskuss, dann entführt ihn der Zug gen Norden. Ich bin allein.
Die S-Bahn bringt mich nach Breisach zurück. In meiner schönen Stube ist es sehr einsam. Nun gehe ich hinunter an den PC und möchte sehen, ob sich die anderen Jugendherbergen von Frankreich schon gemeldet haben.
Es ist gleich 20.15 Uhr. Habe in der Zwischenzeit an meinem Höhenmesser herumgedrückt. Und siehe da! Plötzlich kann ich meine Höhe ablesen. Er hat endlich mal das getan, was er soll. Gudrun hat mir nämlich per Email die Anleitung dazu geschrieben.
Nun beuge ich mich über meine Landkarte für morgen und suche mir anschließend mein kleines Französisch-Heftchen heraus. Denn ab morgen muss ich nur Französisch hören, denken und reden. Das kann ich zwar nicht, aber irgendwie mit Händen und Füßen komme ich da schon durch. In meiner Frankreichkarte finde ich eine neue Strecke, die ich als Abkürzung südlich um Colmar herum fahren möchte und schneide damit den bergigen Teil ab. Den Rest der Landkarte lasse ich unten in der Jugendherberge auf einem Tisch liegen. Irgendeiner kann sicher damit noch etwas anfangen. Im Bett lese ich noch in meinem kleinen Johannes-Evangelium und schicke eine Bitte gen Himmel, Klaus Gesundheit zu schenken und mir einen guten Weg nach Santiago zu weisen.