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Die Flucht aus Stargard in den Westen

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In großer Dankbarkeit an meine Mutter,

die einen so starken Glauben an Gott besaß,

dass sie uns und sich nicht das Leben

aufgrund der unmenschlichen Ereignisse nahm

und an meinen Vater, der uns aus diesem Elend holte.

Oma Lu stand ganz gegen ihre Gewohnheit am Fenster und hielt Ausschau. Sie hatte die Ahnung, dass ihre Nichte, Frieda Huß geb. Klabunde, mit ihrem Mann Willi Huß inmitten all der Flüchtlings-Treckwagen sitzen musste. Und tatsächlich! Plötzlich erblickte sie sie zwischen dieser Kolonne, obgleich sie ganz vermummt war; denn es herrschte draußen eine Kälte von -20o Celsius. Oma riss das Fenster auf und rief:

„Frieda! Frieda!"

Frieda und Willi Huß hörten sie, winkten und scherten aus dem Treck aus und fuhren auf Opa Lu's großes Grundstück. Sie kamen mit zwei Wagen. In dem einen saßen sie. Zwei Schimmel „Minka" und „Perle" waren davor gespannt. Ihr ganzes Hab und Gut hatten sie darin verstaut. Auf dem zweiten Wagen saßen mehrere Schwarzmeerdeutsche. Vor diesem Wagen gingen drei Füchse: zwei große und ein kleinerer. Auf diesem Wagen befand sich nur Pferdefutter.

Nun fielen sich die beiden Frauen in die Arme und gingen ins Haus.

Vater kam auch zum Luisenplatz. Frieda Huß fragte ihn:

„Können wir nicht Christa und eure Kinder mitnehmen? Ein Pferd haben wir über. Das könnt ihr haben. Nur einen Wagen müsst ihr euch selber besorgen. Auch den Kutscher können wir euch stellen."

Daraufhin überlegte Vater, wer ihm einen Wagen geben könnte. Er fragte bei einem Landwirt in der Schelliner Straße nach. Dieser schickte uns sofort einen Wagen auf die Luisenstraße, den Vater gleich für uns ausstaffierte. Die Teppiche brachte er oben als Dach an. Dann haben Vater und Mutter unsere letzten Sachen auch noch gepackt und alles in den Pferdewagen gesteckt. Ganz oben lagen die Matratzen und Oberbetten. Es wurde nur noch auf den Befehl gewartet: „Wir müssen fahren!"

Eigentlich war Mami mit ihrer Schwester, Frieda Stampa geb. Teske, verabredet. Mit ihr wollte sie mit uns allen allein mit der Bahn flüchten. Aber durch die Verwandten aus dem Wartegau und Vater, der jetzt in Neubrandenburg als Soldat Dienst tat und immer mal kurz Sonntagsurlaub bekam, wurde beschlossen, mit dem Treck statt der Eisenbahn zu flüchten.

Die Pferde standen alle bei einem Schlachter in der Luisenstraße im Stall, wo sie von den Schwarzmeerdeutschen gepflegt wurden. Das kleinste davon wurde für uns abgestellt.

Oma Blücher wollte mit uns zusammen flüchten und kam zu meinen Großeltern zur Luisenstraße. Als sie dieses kleine Pferdchen sah und hörte, dass es allein unseren großen Treckwagen ziehen sollte, sagte sie ganz ungläubig:

„Was, die Katz? Die schafft das doch nie!"

Aber es war stärker, fleißiger und zäher als vier andere Pferde zusammen. Es hieß „Nis Fuchs".

Jetzt kam Mamis Onkel Franz, der Bruder ihres Vaters und weinte, als er sah, dass wir flüchten mussten. Er war kein Hitler-Freund und hatte schon gleich von Anfang an immer gesagt:

„Wenn wir Hitler wählen, dann gibt es Krieg."

Und nun standen wir ja vor dieser unabänderlichen und schrecklichen Tatsache.

Es war unsere letzte Nacht in Stargard, die wir alle bei Oma Lu verbrachten. Im Haus war nichts mehr zum Heizen. Alles war sehr kalt. Frieda Huß und ihr Mann - das Gutsbesitzerehepaar - haben beide in der Essstube auf dem Sofa geschlafen. In der Schlafstube schlief Oma Lu mit Dankwart und in Opa Lu's Bett Mami mit Rotraut. Er selbst schlief bei seiner Tochter Frieda Stampa geb. Teske in der Zarziger Straße. Meine anderen Geschwister waren auch noch alle in der Wohnung zum Schlafen verteilt worden.

Die Schwarzmeerdeutschen schliefen bei der Familie Bobrich.

In dieser Nacht war es so furchtbar kalt im Haus. Unsere Toilette befand sich auf dem Flur. Frieda Huß musste in dieser Nacht zur Toilette. Unter normalen Umständen war es hier bei Oma Lu genauso wie auf dem Gut bei Frieda gemütlich warm. Nur jetzt nicht. Bei der Kälte wollte sie nicht aus der Stube gehen. So musste ihr einen Eimer geholt werden. Ihr Mann musste ihn danach wieder wegbringen. Er war darüber sehr böse und sagte:

„Frieda, du bist eine echte Pottsau!"

Diesen Spitznamen hatte sie nun für die Zukunft weg.

Der Kanonendonner war schon sehr gut vor Stargards Toren zu hören. Für den Fall, dass wir überraschend in der Nacht fliehen müssten, lagen wir alle komplett angezogen im Bett. Am nächsten Tag sollten wir aufbrechen.

Oma Blücher musste geholt werden. Sie brachte ihre zwei kleinen Zwerghühner mit zu Oma Lu, wo sie bis zur Flucht von Mutters Eltern, die später auch aus Stargard flohen, bleiben sollten.

Es war der 08. Februar 1945. Unsere Devise lautete:

„Spannt die Pferde vor den Wagen. Heute müssen wir fort. Aber bald kommen wir wieder zurück!"

Draußen lag Eis und Schnee. Der Treck, der durch die Luisenstraße fuhr, riss nicht ab. Für die Pferde barg die vereiste Straße große Gefahren. Wenn eins ausglitt, konnte es sich leicht ein Bein brechen, und das war das sichere Todesurteil für dieses Pferd. Willi Huß hatte aber vorgesorgt. Er trug eine ganze Menge Stollen (Eisenstifte) bei sich, die er in die Hufeisen der Pferde steckte, damit diese sicher auf dem Glatteis laufen konnten.

Sehr traurig verabschiedeten wir uns von Oma und Opa Lu. Uns voran fuhr Willi Huß mit seinen beiden Schimmeln. Wir folgten mit dem kleinen Fuchs und hinter uns her fuhren die Schwarzmeerdeutschen mit den zwei großen Füchsen. Wir saßen alle zwischen den Federbetten. Oma Blücher half Mutter während der Fahrt bei der Versorgung unserer großen Familie.

Wir fuhren vom Luisenplatz zur kleinen Mühle hoch, links die Massower Chaussee ab. Diese Chaussee führte uns nach Lenz. Dort wohnten die Eltern von Tante Wanda. Sie war ja die Frau von Mutters Bruder, Hans Teske.

Dort wurden wir alle sehr gut aufgenommen und verbrachten auf diesem großen Bauernhof eine Nacht. Tante Wanda sollte mit ihren Verwandten auch bald auf die Flucht gehen. Dazu wurden viele Gänse geschlachtet, die sie als Ernährung mitnehmen sollten.

Am nächsten Morgen fuhren wir weiter nach Stettin. Zum Essen hielt immer der ganze Treck an und alle stiegen aus. Bei Bauern oder in einer Schule bot sich die Gelegenheit, etwas zu kochen. Nachts schliefen wir in Schulen oder Scheunen.

Die Pferde wurden von den Schwarzmeerdeutschen immer bei Bauern untergestellt und verpflegt. Auf die Gesundheit der Pferde waren wir alle angewiesen, sonst hätten wir zu Fuß gehen müssen.

An den Straßenrändern lagen verletzte und kranke Pferde. Sie konnten nicht mehr mitgeschleppt werden und mussten dort elendig verenden. War ein Berg zu steil und hoch, stiegen alle Insassen aus dem Wagen und gingen nebenher. Oben angelangt, stiegen alle wieder ein. Nur Mutter konnte ihr kleines Töchterchen Ursula nicht allein im Wagen lassen. Sonst wäre ein Unglück passiert.

Wir umfuhren die Stadt Stettin, die stark brannte und beschossen wurde. Es war schon sehr dunkel. Von den Flugzeugen, die am dunklen Firmament mit lauten Motorengeräuschen auftauchten, wurden "Weihnachtsbäume" abgeworfen. Überall explodierten die Bomben. Stettin litt unter einem großen Luftangriff.

Unser Treck hielt mitten auf der Landstraße an. Wir stiegen alle aus dem Pferdewagen und legten uns auf dem Feld in Eis und Schnee nieder. Um uns flogen nur so die Granatsplitter. Einer davon, so groß wie eine Faust, ging neben Mutters Arm nieder. Aber wir hatten Glück im Unglück. Nur holte sich hier leider meine jüngste Schwester Ursula eine starke Erkältung, die später zur Lungenentzündung ausartete.

Als der Luftangriff vorüber war, bestiegen wir wieder unseren Wagen wie die anderen Treckteilnehmer auch und rasteten in dieser Nacht in einem großen Raum mit vielen Hochbetten. In dem Raum, in dem ich schlief, lagen außer den Kindern nur weibliche Erwachsene.

In dieser Nacht wachte ich von einem Geräusch auf. Durch die Tür kam ein Mann im langen schwarzen Mantel und ging die Betten suchend ab. Schräg rechts von mir blieb er stehen und weckte die dort oben schlafende junge Frau, die meines Erachtens so ca. zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alt war. Er flüsterte mit ihr etwas. Daraufhin kam sie vom Bett herunter, nahm ihre weiteren Sachen - wir schliefen nämlich alle angezogen, weil wir in jeder Nacht mit einem Russenüberfall rechnen mussten - und ging mit ihm aus dem Zimmer. Sie kam nicht wieder. Als wir am anderen Morgen alle aufstanden, wurde sie von den anderen Frauen vermisst. Da meldete ich mich zu Wort und sagte:

„Heute Nacht kam ein schwarzer Mann und hat sie weggeholt."

Daraufhin sagte eine Frau: „Na, dann hat er sie sich wohl geholt."

Seit jener Nacht hatte ich immer sehr große Angst, dass ich auch mal nachts weggeholt werden würde. Ich konnte mir das nicht zusammenreimen. In meiner Phantasie war es der Teufel oder Tod, der sich diese Frau geholt hatte. Nachts hatte ich davon oft Alpträume.

Unsere Flucht mit dem Treck ging bis Prenzlau. Hier trennten sich unsere Wege. Mutter telefonierte mit Vater in Neubrandenburg, der gleich zu uns kam. Er brachte uns auch Geld mit.

Frieda Huß fuhr weiter und nahm unseren Wagen und das Pferdchen mit sich mit. Sie fuhren direkt weiter nach Celle.

Von Prenzlau fuhren wir mit einem Auto bis Pasewalk. Mutter saß mit uns Kindern dort in einem großen Wartesaal, während Vater mit dem ganzen Gepäck draußen auf dem Bahnsteig in der eisigen Kälte stand, darauf aufpasste und auf den richtigen Zug wartete. Der Zug hatte Verspätung. Wir waren alle übermüdet und warteten auf unseren Vater, der uns holen wollte, sobald der Zug draußen einläuft.

Dieser Wartesaal hatte eine eigenartige Stuhlreihen-Anordnung. Wir saßen alle im Kreis. Die Stuhlreihen waren wie in einem Hörsaal vom Mittelpunkt nach außen immer etwas höher angebracht. Ich weiß noch, dass mir schräg gegenüber zwei Frauen saßen, die sich unterhielten und dabei strickten, ohne auf ihr Strickzeug zu sehen. Das imponierte mir so sehr, dass ich mir vornahm, später auch "blind" stricken zu können.

Hier muss ich dann doch eingeschlafen sein. Plötzlich wachte ich auf, weil mich jemand wachrüttelte. Ganz verstört schaute ich hoch. Vater war es. Er sagte zu mir: „Mini, komm ganz schnell, sonst schaffen wir den Zug nicht mehr."

Draußen lag Schnee. Auf der Straße war Glatteis. Wir liefen so schnell es ging auf dem Bahnhof zum Zug, der zum Glück noch stand. Wir wurden schon von Mutter erwartet, die an der offenen Waggontür stand und uns hoch in den Waggon half. Kaum waren wir oben bei den anderen, fuhr der Zug los. Das war aber knapp!

Wir befanden uns in einem offenen Viehwaggon, der unten mit Stroh ausgelegt worden war. Es herrschte eine grimmige Kälte. Aber wir waren nicht allein. Dicht gedrängt saßen lauter Flüchtlinge mit uns darin. Ich weiß noch, dass wir als Einzige das wichtigste Utensil bei uns hatten, das bald die Runde machte: Eine Mitternachtsvase! Ausgeleert wurde sie über Bord. Anders ging es nicht.

Hier erzählte mir Vater: „Als wir alles Gepäck und deine Geschwister im Waggon untergebracht hatten, zählte ich alle noch einmal durch. Und da fehlte eins. Sofort sprang ich vom Zug, lief in den Wartesaal und sah dich dort sitzend schlafen."

Das war mein Glück. Sonst wäre ich wohl gewiss ein Suchkind geworden. Wer weiß, ob ich dann noch gelebt hätte?!

Unser Zug sollte uns nach Neubrandenburg bringen. Aber die Gleise waren wohl nicht immer bei den Weichen richtig eingestellt worden. So fuhr er laufend hin und her und zurück. Aber er lief dann doch noch in seinem Bestimmungsbahnhof von Neubrandenburg ein. Unter furchtbaren Strapazen kamen wir dort an.

Zwei Nächte brachte uns Vater erst in seiner dortigen Kaserne unter. Dann bekamen wir das Haus Danziger Straße 3 zugesprochen. Friedemanns vierten Geburtstag feierten wir am 13. Februar 1945 schon in diesem neuen Haus.

Es hieß immer, dass die Russen nie bis hierher kommen würden. Im Sommer wollten wir in unsere alte Wohnung in der Blücherstraße 12 A in Stargard wieder einziehen. Wir fühlten uns hier auch ganz sicher. Dieses Haus lag abseits von der Stadt. In Friedenszeiten wären wir auch gern hier in dieser Stadt geblieben. Es gab in der Umgebung einen See und Wald.

Bevor Vater wieder zurück zum Militär musste, schaufelte er hinter dem Haus im Garten ein sehr tiefes Loch und vergrub darin in einer großen Metallkiste unsere Wertsachen. Dieses war für den Fall der Fälle. Dann musste er uns wieder verlassen. Nun waren wir mit Oma Blücher allein. Aber Oma Blücher nahm bald Kontakt mit ihrer Tochter Hilde in Berlin auf und fuhr zu ihr.

Und plötzlich standen Oma und Opa Lu vor unserer Tür. Auch sie waren geflohen und blieben nun bei uns.

Das Frühjahr kam rechtzeitig. Wir gingen jeden Tag mit Mutter, Oma und Opa Lu spazieren. Neubrandenburg hatte verhältnismäßig breite Straßen. Hinter unserem Haus befand sich ein Garten, den Opa bald für den Frühling vorbereitete. Außerdem waren noch zwei Hühner im Hühnerstall vorhanden, die nun für uns ihre Eier legten. Das war für uns eine große Freude.

Auf Opa Lu waren wir sehr stolz. Er war eine stattliche Erscheinung mit einem Kaiser-Wilhelm-Bart. Seinen Handstock konnte er so elegant schwingen, dass wir auch versuchten, es ihm nachzuahmen.

Damit Opas Bartenden auch am anderen Morgen schön geschwungen nach oben standen, trug er nachts eine Bartbinde, was wir sehr bewunderten.

Opa Lu war unser großes Vorbild. Er aß leidenschaftlich gern jeden Tag seine Knoblauchpillen, deren Geruch ich noch heute zu riechen mir einbilde.

Zuerst rauchte er dicke Zigarren. Später, als diese zur Neige gegangen waren, drehte er sich mit Hilfe eines kleinen Apparates Zigaretten. Das war ein fast quadratisches Brettchen mit einer Längsrille darin. Parallel dazu befand sich ein länglicher Schlitz, aus dem ein schmaler Streifen Zigarettenpapier schaute. Mit dem Daumen schob er das Papier über die breite Längsrille, drückte es in der Mitte von oben bis unten etwas hinein, holte sich etwas Tabak aus seinem Tabakbeutel, verteilte ihn schön gleichmäßig darin, drehte die eine Seite des Papiers darüber, leckte die andere Längsseite an und drückte sie gefühlvoll auf das andere Papier. Nun holte er die neue Zigarette hoch, zog den überstehenden Tabak ab und tat ihn wieder zurück in seinen Tabaksbeutel. Die Herstellung seiner Zigaretten ging so geschwind und geschickt vor sich, dass ich es auch übte und später schon ganz gut konnte.

Opa Lu war hier in Neubrandenburg unser von allen geliebtes und geachtetes Familienoberhaupt. Bei den Mahlzeiten gehörte ihm der Platz an der Stirnseite des Tisches, wo sonst Vater gesessen hätte. Neben ihm saßen wir alle altersmäßig gegliedert mit Mutter und Oma Lu dazwischen um den Tisch herum.

Einmal passierte ihm ein lautes Malheur. Er wurde daraufhin rot und sagte aber schlagfertig: „Der musste raus. Der hatte keine Miete bezahlt."

Ein schallendes Gelächter unsererseits war die Antwort.

Auch hier in Neubrandenburg gingen wir jeden Tag spazieren. An jeder Seite von Opa Lu gingen seine ständigen Begleiter: Hermann und Dankwart. Sie hatten ihn für sich gepachtet, so schien es mir. Rotraut und ich hielten uns immer an Mutter und Oma Lu.

Ein krasses Ende nahm diese eigentlich doch ganz schöne Zeit, als der Arzt am 23. April 1945 bei Mutter und mir Scharlach feststellte. Der Arzt bestellte uns eine Transportmöglichkeit, um ins Krankenhaus zu gelangen. Wir kamen beide in ein kleines geschlossenes Fahrzeug, das nach allen Seiten mit einer gelblichen und leicht durchsichtigen Folie bespannt war. Wir wurden von einem Mann gezogen. Durch diese Folie sah ich ein dichtes Menschengewühl auf der Straße. Hin und wieder fuhren große Militärfahrzeuge an uns vorüber.

Mutter und ich wurden zusammen in ein Zimmer mit Doppelbetten gelegt. Außer uns befanden sich noch zwei weitere Personen in diesem Raum, und zwar eine ältere Frau und ein anderes kleines Mädchen.

Wir bekamen unsere Medizin, unsere Eiswickel um den Hals und mussten laufend Fieber messen. Das peinlichste Erlebnis dabei war ja, dass bei mir das Fieber im Darm gemessen wurde. Das hatte noch niemand mit mir gemacht. Leider bekamen das meine Geschwister heraus und machten sich später oft darüber lustig.

An diesem 23. April jedenfalls wachte Mutter abends von einer dunklen Stimme auf und dachte im Halbschlaf: "Nun kommt Jochen. Denn heute ist sein 34. Geburtstag." Aber es war leider nur eine Täuschung. Ein Arzt kam in unser Krankenzimmer.

Nach ca. einer Woche Aufenthalt im Krankenhaus wurden wir wieder entlassen. Jetzt ging in Neubrandenburg alles drunter und drüber, weil der Russe vor den Toren stand. In der Zeit unseres Krankenhausaufenthaltes hätte sich die letzte Möglichkeit für uns geboten, mit einem Lkw in den Westen zu fliehen. Aber jetzt konnten wir nicht mehr aus Neubrandenburg weg.

Mutter hatte im Krankenhaus ein Mädchen kennen gelernt, das uns helfen wollte. Sie wurde früher als wir entlassen und wollte nur noch in der Stadt etwas einkaufen und wieder zu uns zurückkommen. Sie wusste nicht, wo ihre Eltern waren und war froh, dass sie sich uns anschließen konnte. Aber in der Stadt traf sie deutsche Soldaten und ließ sich von ihnen mitnehmen.

Immer öfter heulten die Sirenen wegen des Fliegeralarms. Ich nahm jedes Mal auch meine neue hübsche Puppe mit der BdM-Tracht mit in unseren Keller.

Und plötzlich stand ein Nachbarjunge bei uns in der Stube und rief: "Die Marzipanfabrik brennt! Wollt ihr mitkommen und Marzipan holen?"

Und ob wir wollten! Wie die Wiesel liefen Rotraut, Hermann, Dankwart und ich hinter ihm her. Die Fabrik stand in hellen Flammen. Die großen Tore standen sperrangelweit offen. So gelangten wir in den großen Lieferraum, an dessen Wänden auf Regalen viele Tabletts mit den verschiedensten Marzipanfiguren in mehreren Farben standen. Jeder von uns griff sich so ein Blech. Und gemeinsam liefen wir vorsichtig damit zurück nach Hause. Nun schwelgten wir in Marzipan. Da habe ich mir dieses so übergegessen, dass ich noch heute im Jahre 1987 keinen Appetit mehr darauf habe.

Schräg gegenüber von unserem Haus stand das sehr große Privathaus eines Fabrikbesitzers. Wir wurden aufgefordert, bei jedem Fliegeralarm dort in den Keller zu gehen. Aber nach jeder Entwarnung konnten wir wieder zurück in unser Haus.

Plötzlich hörten wir Maschinengewehrsalven in der Ferne. Es war der 28. April 1945. Hermann, Dankwart und ich kletterten hoch auf den hohen Turm, der sich auf dem großen Haus des Fabrikbesitzers befand. Von dort oben sahen wir auf die Dächer Neubrandenburgs hinunter. Am Horizont brannte ein Tor. Nun sausten wir schnell wie die Wiesel wieder hinunter, weil wir es jetzt sehr mit der Angst zu tun bekamen.

„Mami, Mami, es brennt! Die Russen sind da!" rief Hermann.

Unsere ganze Familie wollte nun so schnell wie möglich wieder in den großen Keller des Fabrikbesitzers gehen. Mutter war eigentlich krank und lag oben in ihrem Bett, wenn wir in diesen Tagen im Haus waren. Wir konnten aber nicht gleich hinübergehen, weil mein kleiner Bruder Helmut nicht zu Hause war.

Während ich so oben aus dem Fenster schaute, sah ich den ersten Panzer mit den Russen in die Straße einbiegen. Die Panzersperre, die dort aufgebaut war, walzte er einfach platt. Neben ihm liefen Russen mit Panzerfäusten in den erhobenen Händen. Plötzlich sah ich Helmut, der in Windeseile zu uns lief. Sofort gingen wir alle wieder hinüber in den Keller.

Aber es dauerte nicht lange, so erschienen hier unten die Russen und suchten in erster Linie nach deutschen Soldaten. Weil sich hier aber nur viele Frauen, Mütter mit Kindern und Omas und Opas versammelt hatten, wollten sie Schmuck, Uhren, Schnaps und Radios von uns haben. Alle Gepäckstücke, die hierher mitgenommen worden waren, wurden aufgeschnitten und durchwühlt. Wie wir nun von diesem vornehmen Haus in unser Haus zurück wollten, wurde unser Nachbarhaus bombardiert. Es gehörte einem leitenden Offizier der deutschen Wehrmacht. Es ging in Flammen auf. Unser Haus blieb zum Glück verschont. Wir gingen wieder hinein.

Leider hatte ich meine Puppe nicht mit hinüber in den großen Keller genommen. In der Zwischenzeit muss unser Haus von Russen durchsucht worden sein; denn sie hatten sie mitgenommen. Das machte mich ganz traurig.

Mutters alte Puppe mit den Gelenken an den Knien, Hüften, Schultern und Ellenbogen hatten sie liegengelassen. Nur das war aber ja nicht meine!

Alle Adeligen mit ihren ganzen Familien und auch die Angehörigen von leitenden Offizieren der NS-Mitglieder wurden an die Wand gestellt und totgeschlagen. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.

Jeden Abend kamen jetzt die Russen zu uns. Obgleich sich Mutter auf Anraten ihrer Eltern wie eine ganz alte Frau ausstaffierte, holten sie sie immer aus unserer Mitte. Trotz ihres Weinens und Bettelns musste sie mit ihnen mitkommen. Es waren immer mehrere, die gemeinsam kamen. Sie sagten nur: "Frau, kommt mit!"

Weil wir aus diesem Grund aus diesem Haus ausziehen wollten und schon die gepackten Koffer unten in der Stube hatten, schnitten sie sie mit ihren langen gebogenen Messern auf, um sie zu untersuchen, ob da nicht vielleicht doch noch eine Uhr versteckt war.

Mein Opa Lu sagte zu ihnen, dass sie die Koffer nun wieder heil machen sollten. Da lachten sie nur, klappten die Koffer zu, spuckten auf die aufgeschlitzten Seiten, wischten mit den Händen darüber hin und her und sagten: „Nun wieder heil."

Am nächsten Tag stand plötzlich ein Russe in unserer Stube und sagte: "Neubrandenburg ist Kriegsschauplatz. Alle müssen aus den Häusern."

Wir mussten unsere Wohnung verlassen, weil Neubrandenburg nicht kapitulieren wollte. Es kam zum Luftangriff.

Mit Oma und Opa Lu gingen wir in den Wald und mussten da übernachten. Wir hatten aber nichts, worauf wir schlafen konnten. Opa Lu sammelte Laub und Zweige und bereitete für unsere Familie ein Lager unter dichten Bäumen.

Russen durchsuchten in dieser Nacht den Wald nach Männern, Frauen und Kindern. Alle, die sie fanden, schleppten sie ab, schmissen sie auf Lastwagen und transportierten sie nach Sibirien oder ins Konzentrationslager, wo sie arbeiten mussten, ohne etwas zu Essen zu bekommen. Dort sind sie an Entkräftung umgekommen.

An diesem ersten Abend suchte Oma Lu in der Nachbarschaft Kühe auf, die verlassen mit prallen Eutern brav stillstanden und sich gern melken ließen. So hatten wir wenigstens Milch zum Trinken. Am nächsten Morgen suchte sie wieder Kühe, aber jetzt waren sie fort. Im Forsthaus fand sie eine Ziege, die sie trotz der dort hausenden Russen melken durfte.

Als wir so drei Tage im Wald verbracht hatten, suchten wir vorübergehend Quartier in der Wilhelm-Gustloff-Str. 12. Aber dort wurden wir sofort wieder ausgewiesen. Opa Lu besorgte uns in einem einstöckigen Haus eine neue Wohnung in der Greifswalder Straße Nr. 3, in die wir zogen.

Unsere Ernährung war sehr mangelhaft. Deshalb gingen wir von hier aus betteln. Oma Lu besorgte uns öfter Fleisch von den Russen, die doch hin und wieder gutmütig waren und es ihr gaben, weil sie sagte, dass sie viele kleine kranke Kinder zu Hause hätte.

Hierbei fanden wir auch in einem leer stehenden Haus eine Blockflöte, die wir mitnahmen. Unsere Ernährung bestand sonst hauptsächlich aus Kartoffeln. Hin und wieder bekamen wir Brot. Sonst gab es morgens Stampfkartoffeln mit Salz, mittags Kartoffelsuppe mit Salz und abends Pellkartoffeln mit Salz.

Trotzdem gingen wir in die Stadt. Der Krieg war ja schon seit dem 8. Mai 1945 zu Ende. Hier in Neubrandenburg herrschten die Russen und verbreiteten Angst und Schrecken. Überall an den Straßenrändern lagen tote Pferde und Kühe mit stark aufgeblähten Bäuchen.

Mutter unterhielt sich mit vielen anderen deutschen Frauen. Mehrere davon trugen an den Handgelenken Verbände, weil sie sich die Pulsadern aufschneiden wollten, sie aber nicht mit dem Messer erreicht hatten.

Eine andere Mutter, die unsere Mutter schon von der Zeit vor dem Russeneinfall kannte, trafen wir. Sie hatte von ihren vielen Kindern nur ein kleines Mädchen auf dem Arm.

Mutter fragte sie: „Wo sind denn ihre anderen Kinder?"

"Die habe ich alle im Neubrandenburger See ertränkt. Als ich mit dem Jüngsten ins Wasser gehen wollte, konnte ich es nicht mehr. Was wird bloß mein Mann sagen, wenn er das erfährt?" antwortete sie meiner Mutter ganz niedergeschlagen.

Es war ein einziges Drama, weil die Russen alle Frauen vergewaltigten.

Ich hörte, wie eine andere Frau, die auch an den Handgelenken Verbände trug, sagte: „Die Russen haben sogar Frauen Maulwürfe an ihre Geschlechtsteile gesetzt, die dann dort hineingekrochen sind."

Meine jüngste Schwester Ursula hatte sich während des Trecks doch eine Lungenentzündung zugezogen, die sie sehr geschwächt hatte. Durch die schlechte Ernährung wurde sie nicht wieder richtig gesund und wurde immer dünner.

Bei uns brach Typhus aus. Hieran erkrankten außer Ursula auch noch meine Geschwister Helmut, Friedemann, Bärbel, Opa und Oma Lu und Mutter. Mutter bekam dazu auch noch die ansteckende Gelbsucht und später gleich danach Diphtherie mit Sprach- und Schlucklähmung und wurde fast blind.

Oma Lu hielt sich aber noch aufrecht und ging trotz ihrer Krankheit in der Wohnung umher und sorgte für das Nötigste.

Von einem Russen bekamen wir einen halben Zentner Hirse geschenkt, weil er mit uns Mitleid hatte. Diese Hirse hat uns sicher sehr am Leben erhalten.

In diesem Haus, in dem wir in der ersten Etage wohnten, lebten viele Flüchtlinge. In dem Zimmer neben uns wohnte eine Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter. Wenn wir in unsere Küche wollten, mussten wir immer an dieser Tür vorbei. Von dort ging auch die Treppe nach unten zum Garten.

In diesem Zimmer spielte sich lange Zeit ein Drama ab. Nur Geschrei und Weinen drang zu uns heraus. Es stand nämlich in der ersten Zeit eine lange Schlange Russen die ganze Treppe Stufe um Stufe hoch bis vor ihre Tür, die alle nacheinander in diese Stube gingen, wenn zwei herauskamen und vergewaltigten die beiden Frauen.

In der Küche auf unserer Etage stand ein ganz großer und breiter Kohleherd. Die beiden Fenster zeigten hinunter zum Hof. Diese Küche war der Treffpunkt, wo alle Flüchtlingsparteien sich täglich sahen und unterhielten; denn dort mussten wir alle kochen.

Als das Korn draußen auf den Feldern reifte, wurden Gerstenkörner auf den Kochplatten geröstet und zu Gerstenkaffee gemahlen. Hatte jemand einen Knochen erstanden, wurde dieser mindestens eine ganze Woche hintereinander wieder und wieder ausgekocht, um Nährstoffe für eine Brühe zu bekommen. Jeder hütete seinen Besitz.

Wir hatten viele Silberbestecke und wollten diese gegen ein Schwein eintauschen. Wir sollten dafür aber nur ein halbes Schwein bekommen. Hermann schaute beim Schlachten zu. Dieses halbe Schwein wurde unten im Keller in einer Zinkwanne mit Salz eingepökelt. Daraufhin bildete sich eine Pökellake. Oft bin ich unten gewesen und habe von dieser Pökelflüssigkeit getrunken, obgleich schon mehrere Maden darin schwammen.

Leider wurde uns dieses Schwein entwendet. Nun hatten wir weder das Silber noch das Schweinefleisch.

Weil es meiner kleinen Schwester Ursula so sehr schlecht ging und die ärztliche Versorgung zu dieser Zeit in Neubrandenburg nicht gewährleistet war, machte sich Mutter sehr große Sorgen um sie.

Einmal, als sie gerade aus dem Fenster auf die Straße schaute, sah sie unten eine Ärztin entlanggehen. Sie rief sie zu uns hoch. Die Ärztin untersuchte Ursula, Bärbel, Friedemann und Helmut und stellte Typhus fest. Der ganze Darm sei voller Geschwüre. Wir müssten für sie Milch, Eier und Gemüse besorgen.

Aber wie sollten wir dazu kommen? In der Stadt befand sich auch ein Milchladen. Diesem gab die Ärztin Bescheid, dass wir immer jeden Tag einen halben Liter Milch holen durften.

Es stand immer eine ganz lange Schlange Menschen vor dem Laden, um Milch zu kaufen. Aber ich durfte sofort vorgehen und bekam die Milch. Jeder hier kannte mich bald und ließ mich gewähren. Alle wussten um das Schicksal meiner kleinen Schwester. Wenn die Milch im Geschäft ausverkauft war, mussten die Letzten ohne Milch nach Hause gehen.

Die Familie, die unter uns in diesem Haus wohnte, besaß Hühner. Dort tauschte Mutter sogar ein Brot gegen ein Ei ein. Sie versuchte alles, was möglich war. Aber umsonst. Die kleine Ursula starb. Sie lag am 20. Juli 1945 tot mit weit aufgerissenen Augen in ihrem kleinen Bettchen in Mutters Schlafstube. Mutter war selbst todkrank, so dass sie nicht einmal aufstehen konnte. Oma Lu besorgte alles allein.

An diesem Morgen bekam ich noch vorzugsweise Milch. Aber eigenartig: Am nächsten Tag durfte ich nicht mehr vorgehen. Mir wurde ganz böse gesagt: "Ab heute musst du dich genauso wie wir hinten anstellen; denn deine kleine Schwester ist doch schon gestorben."

Aber dass meine andere kleine Schwester Bärbel auch schon schwerkrank war, wussten sie nicht und wollten es auch nicht glauben. Für Bärbel brauchten wir jetzt unbedingt gute und frische Nahrung. Nur bekamen wir nichts.

Als ich wieder einmal von Mutters Krankenzimmer in die Küche gehen wollte, hörte ich aus der Stube, in der Opa Lu krank im Bett lag, sein Rufen: „Christa! Christa!"

Ich sagte zu Mutter: Opa hat dich eben gerufen.“

Sie sagte: „Ich kann ja nicht aufstehen und zu ihm gehen. Geh du zu ihm hin und frage ihn, was er auf dem Herzen hat."

Als ich seine Stubentür öffnete, konnte ich ihn nichts mehr fragen; denn er lag tot quer über seinem Bett. Viele verschieden große Bluttropfen bedeckten wie versprenkelt sein Kopfkissen und das obere Ende des Bettbezuges. Armer Opa Lu! Es war der 4. September 1945.

Wieder zog Trauer bei uns ein.

Wir gingen wegen der schlimmen Zustände nicht in die Schule. Rotraut und Hermann halfen Oma Lu beim Waschen unserer Wäsche. Ich sehe Rotraut noch vor mir, wie sie Mutter, die krank im Bett lag, ihre kleinen Hände nach dem Wäschewaschen zeigten, an denen sich schon Blasen gebildet hatten.

Als Mutter Diphtherie bekam, ging sie kurz vor dem Ersticken mit ihrer Mutter zur Ärztin. Diese riss Mutter das große Geschwür ohne Betäubung aus dem Hals. Sie kamen beide wieder nach Hause. Aber das Geschwür wuchs wieder ganz schnell nach und drohte, Mutter zu ersticken. Sie besprach mit ihrer Mutter alles, was zu tun wäre, wenn sie nun sterben müsste. Da bekam sie einen sehr starken Hustenanfall, durch den das neue Geschwür platzte. Als aller Eiter und alles Blut von dieser Wunde abgelaufen war, gesundete sie wieder zum Glück. Eine halbseitige Lähmung blieb zurück. Auch bekam sie anschließend alle Nachfolgekrankheiten, die diese schreckliche Krankheit nach sich zog.

Und irgendwann hatten wir Läuse. Erst Kleider- und dann später auch Kopfläuse. Weil meine Brüder Hermann und Dankwart in die Schule gehen sollten genauso wie Rotraut, schickte sie Mutter zum Friseur. Sie sollten mit ordentlichem Haarschnitt in der Schule erscheinen.

Aber der Friseur stellte die Kopfläuse fest und schickte uns jemand vom Gesundheitsamt in die Wohnung. Als er feststellte, dass wir alle von diesem Ungeziefer befallen waren, bekamen wir einen Termin, an dem wir uns in einem Gebäude einzufinden hatten.

Von Oma Lu bis hin zu meiner kleinen kranken Schwester Bärbel wurden uns sämtliche Haare abrasiert, der Kopf mit einer Creme einmassiert und alles abgespült. Hierzu mussten wir uns nackt ausziehen und bekamen jeder einzeln zwei Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Anschließend kamen wir zu mehreren in eine Badewanne.

Mit mir saßen Dankwart und Oma Lu in einer Wanne. Plötzlich war Oma unter das Wasser gerutscht. Aber sie wurde noch schnell wieder hochgezogen. Das war aber knapp am Ertrinken vorbeigegangen.

Als wir nun alle mit kahlem Kopf zu Hause eintrafen, fühlten wir uns absolut nicht mehr wohl. Das Jugendamt hatte vorher bestimmt, dass auch ich mit meinen drei älteren Geschwistern Rotraut, Hermann und Dankwart in Neubrandenburg zur Schule gehen sollte.

Aber mit der Glatze trauten wir uns nicht. Rotraut und ich hatten noch von Stargard her eine Kapuze - Rotraut eine rote und ich eine blaue -. Diese setzten wir auf und gingen auch tatsächlich in die Schule. Wie Hermann und Dankwart hingekommen sind, weiß ich nicht. Sie mussten ja in die Knabenschule.

Jedenfalls wurden wir beiden Schwestern von der Lehrerin aufgefordert, die Kapuzen abzunehmen, draußen sei es doch noch sehr warm. Aber wir weigerten uns beharrlich. Als sie dann später herausbekam, warum wir sie nicht abnehmen wollten, brauchten wir nicht mehr in die Schule zu kommen.

In diesem Durcheinander in der Stadt fiel das sowieso nicht auf. So blieben wir zu Hause.

In diesem Haus wohnte auch ein Mädchen, das zwölf Jahre alt war und stricken konnte. Ich bat sie, mir diese Fertigkeit beizubringen. Das tat sie auch. Ich war glücklich. Nun hatte ich eine sehr angenehme Beschäftigung, auch wenn es sehr mühsam war, durch eine Masche eine neue Schlaufe zu ziehen, die mir oft wieder von der Nadelspitze rutschte. Aber ich hatte viel Geduld und wollte ja später sogar blind stricken können wie die zwei Frauen im Warteraum in Pasewalk.

Zum Stricken gingen wir zwei Mädchen immer auf den Boden. Da schien die Sonne durch kleine helle Scheiben des schrägen Daches. Hin und wieder saß dort auch eine alte weißhaarige Frau auf einem Stuhl. Sie hatte die Hände gefaltet und drehte immer ihre Daumen umeinander, mal in diese und mal in die entgegen gesetzte Richtung.

Dazwischen sah ich einmal Fischgräten mit noch etwas Essbarem daran. Sie hatte wohl Angst, dass ihr jemand diesen Schatz wegnehmen könnte. Aber sie sagte nichts auf meine Frage:

„Warum hast du denn die Gräten in deiner Faust?"

Wenn wir morgens statt Kartoffeln mal Brot von Oma Lu bekamen, dann hatten wir Geschwister eine Art Spiel damit entdeckt: Wer zuletzt noch etwas von seiner Stulle mit Salz besaß, war der Sieger. So bissen wir trotz des großen Hungers von unserer Stulle nur kleine Krümel ab und kauten darauf herum, bis wir es nicht mehr aushalten konnten und wieder etwas abbissen. Rotraut war eigentlich immer die Siegerin bei diesem "Spiel" geblieben.

Und eines Tages wurde brauner Kandiszucker unter uns allen verteilt. Jeder bekam eine kleine spitze weiße Tüte mit dieser Köstlichkeit. Um den Zucker nicht zu schnell aufzulutschen, stellte ich mich umgedreht in unsere Stube und warf meine Tüte in die Höhe auf den hohen Schrank. Diesmal wollte ich mal Siegerin bleiben. Aber ob ich es geworden bin, weiß ich nicht mehr.

An jedem Abend und jedem Morgen wurden wir gewaschen. Dazu stand in unserer Schlafstube eine große Waschschüssel mit Wasser. Da das Wasser abends nicht mehr ausgegossen wurde, sondern erst morgens, wenn wir wieder gewaschen werden sollten, blieb es in unserer Stube stehen. Der Seifenschaum hatte die ganze Oberfläche bedeckt.

Wenn ich nachts wegen des großen Durstes wach wurde, dann ging ich zu dieser Schüssel, pustete den Seifenschaum zur Seite, tauchte meine Lippen in das Wasser und schlürfte das abgestandene Wasser in mich hinein. Dann ging ich wieder schlafen. Es hat mir nicht geschadet; denn ich erkrankte glücklicherweise nicht an Typhus.

So hausten wir durch den Sommer hindurch mehr schlecht als recht in dieser Wohnung.

Draußen wurden Kriegsgefangenenkolonnen durch Neubrandenburgs Straßen getrieben. Sie gingen in Viererreihen und wurden von Russen hoch zu Pferde mit der Peitsche angetrieben. Aber die deutschen Gefangenen waren sehr müde, durstig und hungrig. Von Zeit zu Zeit durften sie sich ausruhen, indem die Schlange der vielen Männer einfach stehen blieb. Einige setzten sich auf die Straße.

Rotraut, Hermann, Dankwart, Helmut und ich waren dann immer draußen und suchten die vielen Männer nach unserem Vater ab. Wir hofften, ihn dazwischen zu finden und mit nach Hause nehmen zu können. Aber wir fanden ihn nicht.

Stattdessen wurden wir von allen anderen Soldaten nach Wasser und Essen angefleht. Wir merkten uns die Stelle, an der der Mann stand, dem wir Wasser bringen wollten, liefen zurück in die Wohnung, holten Wasser und suchten den Mann wieder. Überall wurde nach dem köstlichen Nass gebettelt. Aber da, wo wir uns den Mann gemerkt hatten, stand er nicht mehr.

In der Uniform sahen sie für mich alle gleich aus. Inzwischen war nämlich die Kolonne wieder weitergedrängt worden. So bekamen andere unser Wasser. Immer mehr konnten wir so erfrischen. Aber unseren Vater entdeckten wir zwischen ihnen leider nicht.

Einer dieser Soldaten erkannte meine Brüder Hermann und Dankwart und konnte sich aus der Kolonne stehlen. Meine Brüder brachten ihn mit zu meiner kranken Mutter, die ja im Bett lag. Es handelte sich um unseren Onkel Erich Cizelsky, den Mann von Vaters Schwester Reinarda, von uns kurz Tante Reni genannt. Er brachte ein Glas Marmelade, das Mutter aufessen sollte, mit. Mutter gab ihm unsere Adresse. Er floh damit vor den Russen in den Westen. Diese Adresse verbreitete er bei unserer ganzen Verwandtschaft.

Vater, der Ende Februar 1945 zur Insel Usedom abkommandiert worden war, wurde später nach Heidebrink auf Wollin verlegt. Nach einiger Zeit wurde er mit den anderen Soldaten von der Marine bei Haferhorst an Bord genommen und betrat am 8. Mai 1945 das besetzte Deutschland in Schleswig-Holstein.

In Gudendorf bei Meldorf in Dithmarschen kam er in Kriegsgefangenschaft, fand dort seinen Bruder Eberhard und wurde mit ihm am 20. Juli 1945 nach Flensburg entlassen, wo er den Sommer über bei Onkel Eberhards Schwiegermutter, Frau Repenning, in der Brixstraße 5 wohnte.

Dort kam Vater durch Onkel Walters Tochter Else zu unserer Adresse und schrieb uns daraufhin eine Karte aus Schleswig-Holstein. Er schrieb, von wem er unsere Adresse bekommen hatte und dass er, wenn es möglich ist, zu uns kommen wollte.

Im Oktober 1945 machte sich Vater allein auf den Weg und fuhr über Friedland zu uns nach Neubrandenburg. Dort hat er sich anonym zu uns durchgefragt.

Es war noch immer verhältnismäßig warm und Sonnenschein, als ich wie immer unten im Hof spielte. Wenn jemand den Hof betrat, schaute ich neugierig hin.

An diesem Nachmittag, kam auch mal wieder ein fremder Mann. Ich traute meinen Augen nicht: Ich erkannte meinen Vater, der da zu uns kam! Wie der Wind war ich bei ihm.

„Mini, das bist du ja, meine kleine Mini", sagte er nur voll Rührung und ganz glücklich, dass er uns nun endlich gefunden hatte. Er nahm mich bei der Hand und ließ sich von mir nach oben führen. Dort fand er Mutter und die anderen vor. Nun hatten sich meine Eltern sehr viel zu erzählen! Auch über den schweren Verlust der kleinen Ursula und von Opa Lu.

Es war der 28. Oktober 1945, als Vater uns fand. Er schnitzte für Ursula und Opa Lu eine Grabtafel und stellte sie auf dem Neubrandenburger Friedhof auf die noch ziemlich frischen Gräber.

Nun grub er die Dokumente in dem Garten des Hauses Danziger Straße aus, die er ja früher eingegraben hatte und holte auch noch seine Briefmarkenalben aus diesem Haus. Er hatte Glück, dass die Russen ihn nicht gesehen hatten; denn sonst hätten sie ihn erschossen.

Nun begann er, unsere Habseligkeiten zu packen. Für Mutter besorgte er einen größeren Handwagen, auf dem er sie ziehen konnte; denn sie war ja nicht in der Lage, zu gehen, weil sie halbseitig gelähmt war. Auch einen kleineren Rolli-Handwagen besorgte er, auf dem unser Gepäck transportiert werden konnte.

Am 23. November 1945, dem 80. Geburtstag von Oma Lu, zogen wir aus dem Haus Greifswalder Straße Nr. 3 in Neubrandenburg aus und fuhren per Eisenbahn in den Westen. Es war kalt. Die Fensterscheiben der Eisenbahn waren kaputt. Es herrschte dauernd eisiger Durchzug. Wir lernten von Vater, mit unseren weit ausgebreiteten Armen um unseren Körper zu schlagen, um uns zu erwärmen.

In strapazenreicher Flucht ging es über Wittenberge - Magdeburg - Sangershausen nach Heiligenstadt, wo wir Registrierscheine bekamen und in den Westen entlassen wurden. In Arenshausen erhielten wir den ersten Grenzproviant und fuhren weiter zum Flüchtlingsauffanglager Friedland, wo wir am 27. November 1945 eintrafen.

Dort lagen wir in einer großen Halle, die mit Stroh als Unterlage ausgelegt worden war. Viele Flüchtlingsfamilien hatten hier ihre Ruhelager. Endlich gab es auch mal warmes Essen. Hier in dieser Halle befand sich eine sehr schlechte Luft.

Da in Wacken bei Itzehoe in Schleswig-Holstein Vaters Bruder Aribert wohnte und dieser dort seine Arztpraxis betrieb und meine Oma Lu und Mutter noch sehr krank waren, fuhren wir über Göttingen - Hannover - Bremen - Hamburg zu ihm.

Es war gerade die Adventszeit. Onkel Aribert und Tante Miggi kümmerten sich lieb um uns. Wie hübsch war das rote bemalte Steingutgeschirr, aus dem wir dort essen durften. Abends wurde gemeinsam musiziert und gesungen.

Am Adventssonntag hing auch dort der hübsche Adventskranz von der Decke herunter mit den brennenden Kerzen auf dem bemalten Holzkreuz in der Mitte des Kranzes. In für uns fremder Umgebung feierten wir diesen Feiertag mit ausgiebigem Singen. Ich weiß es zwar nicht mehr, aber ich glaube, dass Tante Miggi bestimmt Kuchen gebacken hatte. Onkel Aribert und Tante Miggi hatten vier Töchter: Gudrun, Holle, Almut und Herrat. Herrat, konnte Ballett und tanzte uns allen etwas vor.

Aber für längere Zeit hatte Onkel Aribert für uns auch keinen Platz. So mussten wir nach einer Woche Aufenthalt wieder weiter.

Oma Lu's Gesundheitszustand ließ es nicht mehr zu, mit uns weiter zu reisen. Sie kam in ein Altenpflegeheim in Wacken. Mutter musste sich sehr schweren Herzens von ihr trennen. Beide wussten, dass es das letzte Mal war, wo sie sich noch lebend in den Armen hielten.

Als wir schon weg waren, starb Oma Lu dort am 11. Dezember 1945, Dankwarts Geburtstag.

Per Eisenbahn ging es mit uns also weiter in den Norden, diesmal mit Ziel zu Onkel Eberhard in Flensburg. Die folgende Nacht verbrachten wir in Heide/Holstein auf dem Bahnhof. Die Bahnhofsmission nahm uns auf und bot uns Nachtlager.

Am nächsten Morgen fuhren wir weiter über Neumünster nach Flensburg. Onkel Eberhard besaß nur eine kleine Mietwohnung, wo er zusammen mit seiner Frau, Tante Christel, und seinen drei Kindern Klaus, Armin und Sonja wohnte. Und doch wurden wir dort sehr liebevoll und herzlich aufgenommen.

Onkel Eberhard besaß eine Tischlerwerkstatt unten im Hof, wo wir ihm zusehen durften. Das war etwas für meine Brüder!

Mich hielt es dort nicht so lange. Ich hatte bei Tante Christel in ihrer Wohnstube Strickzeug liegen gesehen. Deshalb ging ich hoch zu ihr und fragte: "Tante Christel, hast du auch für mich zwei Stricknadeln und etwas Wolle?"

„Kannst du denn schon stricken?" war ihre Gegenfrage.

„Ja, ein wenig. Das hat mir ein Mädchen in Neubrandenburg gezeigt."

Über Tante Christels Gesicht huschte ein Lächeln. Sie holte für mich zwei Stricknadeln und ein kleines Knäuel Wolle hervor und brachte mir bei, wie ich die erste Maschenreihe aufnehmen musste, um überhaupt stricken zu können. Das sollte ich unter ihrer Anweisung üben. Sie war mir eine gute Lehrmeisterin. Und danach konnte ich meine kleinen Strickkünste verbessern.

Tante Christel hatte ihre Freude an mir, weil sie selbst auch gern strickte.

Hier verbrachten wir drei Tage. Nachts war für uns aber nicht genug Platz in der Wohnung vorhanden. Darum wurden wir bei Onkel Eberhard und in der Kaserne in Flensburg zum Schlafen verteilt. Ich lag mit meinem Bruder Hermann in einer kleinen schrägen und dunklen Abseite oben in der Kaserne.

Während dieser drei Tage Aufenthalt in Flensburg besorgte uns Onkel Eberhard Unterkunft bei dem Bauern Struve in Kalleby.

Bevor wir aus Stargard flohen, versicherte uns Vater, dass wir nach einem halben Jahr wieder in unsere Heimatstadt zurückkehren könnten. Aber was war nun geschehen? Ich hatte Sehnsucht nach Stargard, wo ich so glücklich war. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und fragte Vater:

"Wann fahren wir wieder zurück nach Stargard?"

„Wenn der Russe aus Stargard raus ist, reisen wir sofort wieder nach Hause und bauen alles wieder auf, was kaputt ist", war seine prompte Antwort.

Also musste ich auf diesen Augenblick warten.

Spannt die Pferde vor den Wagen!

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