Читать книгу Spannt die Pferde vor den Wagen! - Hermine Stampa-Rabe - Страница 8
1944
ОглавлениеWie fröhlich bin ich aufgewacht.
Wie hab' ich geschlafen so sanft die Nacht.
Hab Dank im Himmel, oh Vater mein,
dass Du hast wollen bei mir sein.
Nun sieh auf mich auch diesen Tag,
dass mir kein Leid geschehen mag.
Mutter ging von Bettchen zu Bettchen, weckte uns Rasselbande, faltete unsere kleinen Hände und betete mit uns jeden Morgen unser Morgengebet. Danach wurden wir gewaschen und angezogen.
„Was möchtet ihr zum Frühstück essen? Ich habe Grießbrei und Paulys Nährspeise." Das war Mutters liebevolle Frage. Wir hatten morgens immer großen Hunger.
„Ich möchte Paulys Nährspeise essen!" sagte ich. Paulys Nährspeise war eine Nährmittelspeise mit Schokoladengeschmack.
In unserer Wohnstube, die links von unserem Flur vor unserer Kinderstube lag, war schon der Frühstückstisch gedeckt. Jeder setzte sich auf seinen Stammplatz. Mit dem Essen wurde erst angefangen, wenn Vater den Löffel in die Hand nahm.
Heute früh war Vater aber schon zur Stadtverwaltung zum Dienst gegangen. So warteten wir darauf, dass Mutter den Löffel in die Hand nahm. Bei Tisch wurde nie gesprochen. Wer mit dem Essen fertig war, legte seinen Löffel beiseite und wartete stillschweigend darauf, dass der Letzte mit dem Essen fertig war. Erst dann durfte gesprochen werden. Nun sagte Mutter: „Mahlzeit." Das war das Zeichen für uns, dass wir aufstehen konnten.
In der Zwischenzeit war schon Mutters Hilfe für den Haushalt, Lotte Klawitter, gekommen und hatte unsere große Kinderstube gelüftet, aufgeräumt und gereinigt. Hier befanden sich auch noch außer unseren Bettchen in verschiedenen Größen Tischchen und Stühlchen.
Während Rotraut, Hermann und Dankwart in den Hof gingen, setzten wir kleineren Geschwister uns an die Tischchen und malten, spielten oder bastelten. Papier und Buntstifte waren genügend vorhanden.
Während Lotte Klawitter in der Wohnung war, ging Mutter zum Einkaufen und bereitete danach das Mittagessen.
Weil ich nicht die ganze Zeit bis zum Mittagessen stillsitzen konnte, nahm ich mir meinen Kreisel und die Peitsche und ging auf unseren Bürgersteig. Dort wickelte ich das Peitschenband in die Rillen meines bunten Kreisels, bis es ganz bis zum Peitschenstiel darauf aufgewickelt war. Während ich noch den Kreisel mit dem Ende der Peitsche in der linken Hand hielt, bückte ich mich, stellte den Kreisel mit der Spitze auf den Gehsteig und zog mit großem Schwung mit der rechten Hand die Peitsche weg. Mit dem Abrollen des Bandes wurde mein Kreisel gedreht und tanzte nun auf dem Weg. Gezielt schlug ich mit der Peitsche das Band immer wieder unten an den Kreisel und zog es genauso schnell wieder ab, so dass er je nach meiner Fertigkeit kürzer oder länger tanzte.
Auch holte ich mir meinen kleinen Holzroller aus dem großen Vorraum, Dazu musste ich von draußen durch die große Haustür gehen. Von hier aus führten auch die Treppen hoch zu den oberen Wohnungen.
Rotraut besaß einen großen Tretroller, mit dem sie jetzt auch rollerte. Das war vielleicht ein prima Patent mit dem Tretpedal vor dem Hinterrad! Während Rotraut mit einem Fuß auf dem Roller stand, trat sie mit dem anderen Fuß laufend auf dieses Tretpedal. Dadurch hielt sie den Roller in Bewegung.
Jetzt gab sie ihn mir und fragte mich, ob ich nicht auch einmal darauf fahren möchte. Und ob ich wollte! Aber ich war einfach noch zu klein für diesen großen Roller. Meine Ärmchen mussten zu dem Lenker so hoch reichen, dass ich große Schwierigkeiten bekam, ihn überhaupt zu lenken. So gab ich ihn ihr ganz traurig wieder zurück. Mein kleiner Roller war mir nun doch viel lieber.
Als Vater mittags nach Hause kam, nahm er uns gleich mit in unsere Wohnung. Drinnen war schon der Mittagstisch gedeckt worden. Es duftete herrlich nach Tomatensuppe und Nudeln! Erst wurden unsere Hände gewaschen und dann ging es sofort in die gute Stube zum Mittagessen.
Vater verschwand nach dem Essen in seinem Arbeitszimmer. Es befand sich von der Wohnungstür aus gleich als erstes Zimmer links vor dem Wohnzimmer, unserer guten Stube. Wir durften dort nicht allein hinein. An den Wänden befanden sich große Bücherschränke und vor dem Fenster stand schräg Vaters großer Schreibtisch.
Lotte Klawitter war schon lange vor dem Mittagessen nach Hause gegangen, wie sie es jeden Tag machen konnte. Darum spülte Mutter das Geschirr und zog uns etwas über; denn sie wollte mit uns spazieren gehen.
Weil Vater wieder ins Büro musste, nahm er sich seine Jacke von dem Hirschgeweih, das auf dem Flur als Garderobenstange befestigt war - ein Geschenk seines Großvaters, des Försters aus Rackitt - und half Mutter noch dabei, den Kinderwagen für meine kleinste Schwester Ursula, die am 26.02.1944 geboren worden war, nach draußen zu bringen. Nun ging er wieder in das Rathaus, wo er als Stadtinspektor im Kulturamt tätig war.
Mutter versammelte uns Kinder alle um sich und ging mit uns die Blücherstraße entlang, in der wir in dem Haus Nr. 12A wohnten, in Richtung Eisturm. Die beiden kleinen Geschwister Bärbel und Friedemann, die schon laufen konnten, fassten beide an je einer Seite des hübschen Korbwagens an, dessen Verdeck innen mit rosa Atlasseide drapiert und mit Fransen umrahmt war.
In der Blücherstraße befanden sich beidseitig Häuser mit drei Stockwerken. Der Eisturm stand schon immer am Blücherplatz. Wir gingen rechterhand daran vorbei, über den Blücherplatz und hinunter zur Ihna, dem Fluss, an dem Stargard liegt.
Wir überquerten die Ihna auf der Jungfernbrücke und schlugen den Weidensteig ein, der gleich links unter hohen Bäumen an der Ihna entlang führte. Mutter hatte uns eingeschärft, nicht aus ihrer Nähe hinunter zum Wasser zu gehen, weil wir dann ertrinken würden. Es befand sich nämlich kein trennender Zaun zwischen dem Fluss und dem Weidensteig.
Die Sonne schien und spiegelte sich in dem dahin fließenden Wasser. Von beiden Ufern hingen die Zweige der Bäume tief zum Wasser herab. Es war hier sehr idyllisch.
Mutter hatte diese Richtung eingeschlagen, weil sie mit uns wie fast jeden Tag zu ihren Eltern Teske in die Luisenstraße beim Luisenplatz wollte. Ihre Eltern wurden von uns Oma und Opa Lu genannt. Lu ist die Abkürzung für Luisenstraße; denn unsere andere Oma, die Mutter unseres Vaters, wohnte am Blücherplatz und wurde von uns immer Oma Blücher gerufen.
Kaum waren wir bei Oma und Opa Lu angekommen, ging die große liebevolle Begrüßungszeremonie los. Jeder wurde gedrückt. Dann verteilten wir uns dort auf dem Grundstück.
Während Rotraut zu Opa Lu in die Schmiede ging - denn Opa Lu war Schmiedemeister und hatte viele Pferde zu beschlagen und viele interessante Gegenstände zu schmieden - gingen meine Brüder Hermann, Dankwart und Helmut in den Hof zu den vielen Pferdewagen und Kutschen, die hier standen. Darauf konnten sie schön lange herumturnen, ohne dass sie Langeweile bekamen.
Mich nahm Oma Lu aber gleich mit zu sich in ihre Küche.
„Du sollst jetzt dein Zucker-Ei bekommen", sagte sie dann lächelnd. Das wusste ich schon und konnte das Folgende kaum abwarten. Sie nahm aus ihrem Küchenschrank eine Muck, teilte ein Hühnerei, schlug das Eiweiß zu Eierschnee steif, ließ das Eigelb hineingleiten, tat noch Zucker hinein und rührte alles vorsichtig um. Und dann verschlang ich mit Genuss mein Zucker-Ei. Dabei sah sie mir schmunzelnd zu.
„Na, mein Zucker-Ei, bist du nun satt? Hat es dir gut geschmeckt?"
„Ja, das hat gut geschmeckt!" war meine Antwort.
Den Namen Zucker-Ei hatte ich mir wohl richtig verdient.
Danach ging auch ich zu Opa Lu in die Schmiedewerkstatt und sah ihm zu, wie er gerade ein Pferd beschlagen wollte. Mit einer sehr langen Eisenzange holte er aus der glühenden Esse ein glühendes Hufeisen und drückte es dem Pferd unter den hochgehaltenen Huf, dass es nur so dampfte und nach verbranntem Horn roch. Nun nagelte er es mit Hufnägeln fest.
Die Pferde standen dabei natürlich nie von allein still. Sie hatten in der für sie fremden Umgebung Angst. Dabei halfen meinem Opa Lu dann seine Schmiedegesellen, die das Pferd festhalten mussten. Wenn ich nur an die alte Zeit denke, meine ich noch heute, diesen eigenartigen Geruch zu riechen.
Aber lange hielt ich mich nicht in der Schmiede auf. Draußen befand sich auch Oma Lu’s Blumengarten. Hier setzte ich mich auf die weiße Bank und schaute mir die Blütenpracht an.
Rechts befand sich auf dem Stallgebäude der Taubenschlag mit Mutters weißen Brauttauben und den blau-weißen Strassertauben. Der Anblick dieser herumfliegenden und gurrenden Tauben nahm für lange Zeit meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Brauttauben konnten sogar mit ihrem Schwanz ein Rad schlagen. Mutter konnte sie nicht mit in die Blücherstraße 12A nehmen. Darum erfreuten wir uns immer bei ihren Eltern daran.
Gegen Abend holte uns Mutter wieder alle zusammen und zog uns wieder ordentlich an. Oma Lu oder Tante Wanda, die Frau von Mutters Bruder Hans, halfen gern dabei. Dann verabschiedete sich und ging mit uns wieder den Weidensteig entlang zurück nach Hause. Dort bereitete sie das Abendessen; denn Vater musste gleich nach Hause kommen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen hieß es heute wie immer einmal in der Woche: "Heute wird gebadet."
Das war eine große Freude für uns! Das Wasser wurde in die Badewanne gelassen und wir Kinder wurden alle zusammen dort hineingesetzt. Die Wanne war voll. War das ein Spaß! Wir durften so viel plantschen, wie wir wollten. Dass das ganze Badezimmer unter Wasser gesetzt wurde, spielte keine Rolle. Das Wasser wurde hinterher von Mutter wieder aufgewischt. Vater fing bei den Jüngsten von uns Geschwistern an, uns abzuseifen. Mutter nahm uns mit dem Trockentuch in Empfang und steckte uns nacheinander in unsere Bettchen.
Weil Vater heute Abend noch einmal weggehen musste; denn er war für die Organisation des heutigen Konzertes verantwortlich, fragte mich Mutter:
„Möchtest du in Papis Bett schlafen? Er kommt heute später nach Hause."
„Ja, gern!" war meine Antwort.
So durfte ich in seinem Bett einschlafen. Das Elternschlafzimmer befand sich neben unserem Kinderzimmer. Eine Tür verband sie miteinander. Auf den Nachttischen neben Vaters und Mutters Bett befanden sich Lampen. In der einen konnte ich eine rote Birne und in der anderen eine blaue Birne anknipsen.
Und irgendwann spät in der Nacht holte mich Vater ganz vorsichtig aus seinem von mir in der Zwischenzeit angewärmten Bett und legte mich in meines. Davon habe ich nie etwas gemerkt. Aber schön war es, mit Mutter in einem Zimmer zu Bett zu gehen, noch etwas zu erzählen und dann irgendwann ganz glücklich einzuschlafen.
Natürlich wurde vorher noch gebetet. Mutter ging hier wieder von Bettchen zu Bettchen. Am Fußende eines jeden Bettchens stand ein Stuhl, auf dem schon die Garderobe des- oder derjenigen für den nächsten Tag schön fein säuberlich zusammengefaltet lag. So kam sie auch zu mir. Ich sollte meine kleinen Hände falten, und dann sprach sie auch mit mir das Abendgebet:
Ich bin klein.
Mein Herz mach’ rein.
Soll niemand drin wohnen
als Jesus allein.
Amen.
So verliefen die meisten Tage.
Verspürten wir mal ein menschliches Bedürfnis, dann gingen wir in unsere Badestube. Der Toilettenkörper war mir aber zu hoch. Für diesen Zweck stand daneben ein Töpfchen. Und weil unser Badezimmer kein Fenster hatte und ich deshalb dort nicht sitzen wollte, nahm ich mir das Töpfchen und ging damit in die Speisekammer und schloss von innen die Tür einfach ab.
In der Speisekammer war es hell. Das Fenster stand offen. Außerdem roch es sehr appetitlich. Hier setzte ich mich auf mein Töpfchen. Nach einiger Zeit - es war ein Sonnabend und Vater war zu Hause - hörte ich ihn rufen:
„Mini, wo bist du?"
Mutter und ihm war in der Zwischenzeit aufgefallen, dass ich nicht mehr da war.
„Hier bin ich, in der Speisekammer!" rief ich zurück.
Vater kam zur Speisekammertür und wollte sie öffnen. Aber das ging ja nicht.
„Schließ schnell von innen auf", sagte er mir.
Ich versuchte es, aber umsonst. Meine kleinen Finger waren nicht stark genug.
„Ich kann nicht", sagte ich schon weinerlich, weil ich es jetzt mit der Angst zu tun bekam.
Nach einer kurzen Pause sagte Vater: "Mini, du brauchst nicht zu weinen. Ich hole dich da gleich wieder heraus. Ich komme durch das Kammerfenster. Du musst noch etwas warten."
„Ja", sagte ich ganz verängstigt.
Und tatsächlich hörte ich Vater und Mutter draußen auf dem Hof mit etwas hantieren. Plötzlich erschien am Kammerfenster das obere Ende unserer großen Leiter. Kurz darauf erschien Vater dort oben.
„Komm her zum Fenster.“
Ich kletterte auf das Regal und ließ mich gern von ihm durch das Fenster nach draußen ziehen. Natürlich sollte ich den Schlüssel mitnehmen. Vorsichtig kletterte er mit mir die Leiter wieder zurück in den Hof, wo Mutter stand und dafür sorgte, dass diese nicht wegrutschen konnte.
„Das darfst du aber nie wieder machen", bekam ich nun zu hören. Das versprach ich sofort.
Wir hatten Glück, dass wir parterre wohnten. Gleich unter unserem Kammerfenster ging die Treppe hinunter zum Keller. Das hatte das Rettungsmanöver etwas erschwert.
Meine Geschwister waren natürlich auch alle mit auf dem Hof und hatten interessiert zugeschaut. Weil nun alles so glücklich verlaufen war, schlug Vater vor, dass wir wieder an der Leiter turnen durften. Dazu hielten er und Mutter die Leiter von beiden Seiten fest. Das eine Ende stand auf dem Hof und das andere Ende zeigte steil in die Höhe.
Altersmäßig nacheinander durften wir nun turnen. Rotraut fing als Älteste an. Dann kamen Hermann und Dankwart an die Reihe. Nun durfte ich anfangen. Ich sollte auf der einen Seite der Leiter nach oben klettern, oben auf die andere Seite steigen und wieder herunterkommen. Anschließend kamen meine jüngeren Geschwister Helmut und Friedemann an die Reihe. Bärbel war noch zu klein. Jeder turnte so hoch, wie er es wagte.
Danach sollten wir uns zwischen den Sprossen hindurch winden, um auf die andere Seite zu gelangen und von dort wieder nach der nächsten Querstrebe hindurch auf die erste Seite und so fort bis zum obersten Ende. Dabei entwickelte ich einen großen Ehrgeiz. Meinen drei größeren Geschwistern wollte ich in nichts nachstehen.
Nachher, als Vater wieder mit Mutter in die Wohnung gegangen war, lief ich zu unserer Schaukel. Sie stand hinten auf dem Hof. Mein Freund Rudi Münchow war in der Zwischenzeit zu uns gekommen. Er wohnte auch in der Blücherstraße, aber in dem Haus Nr. 7, in dem wir früher wohnten.
Rudi war mein liebster Spielgefährte. Er kümmerte sich viel um mich, war er doch auch schon fünf Jahre älter als ich. Er hatte dunkle Locken auf dem Kopf. Wenn ich schaukeln wollte, schubste er mich unermüdlich gern und doll an. Wenn ich dann ängstlich rief:
„Mini fällt, Mini fällt!", dann beruhigte er mich gleich wieder und nahm mich anschließend in seine Arme. Er versprach mir damals, dass er mich später heiraten wollte. Darauf war ich ganz stolz.
Als wir nach dem Turnen alle zu ihm gehen wollten, stand ein großer Lastkraftwagen mit Anhänger vor dem Haus Nr. 7. Das reizte uns, dort hinaufzuklettern. Meine großen Geschwister waren mit Rudi zuerst oben. Auch ich schaffte es. Plötzlich kam aber der Fahrer aus dem Haus und befahl uns, sofort wieder von dem Wagen zu klettern. Das ging ihm nicht so schnell, wie er es gehofft hatte. Mein Bruder Hermann befand sich noch oben, als er den Wagen startete und fahren wollte. Sofort war ich vorne beim Führerhaus und rief ganz jämmerlich:
„Du darfst nicht wegfahren. Mein Bruder Hermann ist noch oben!"
Daraufhin wartete er, bis auch Hermann endlich unten war.
Als ich später mal wieder von der Schaukel in die Wohnung gehen wollte, schaute ich neugierig rechts durch ein Fenster, das offen stand. In dem Raum dahinter stand eine Frau und wischte sich die Tränen ab.
Ich fragte sie: „Warum weinst du denn?"
Da zeigte sie mir die vielen Zwiebeln, die sie schon geschält und geschnitten hatte und die anderen, die sie noch schälen und schneiden sollte.
„Dabei wirst du später, wenn du mal groß bist und Zubereiten des Essens Zwiebeln schälen musst, auch weinen", sagte sie zu mir.
Und damit hatte sie auch vollkommen die Wahrheit gesprochen. Heute muss ich beim Schälen meiner Zwiebeln doch noch hin und wieder an sie denken.
Vom Hof aus konnten wir in unseren Keller kommen. Hier waren ein paar Hühner untergebracht worden, die uns schöne frische Eier legten.
Als Haustier besaßen wir in den ersten Jahren noch Mutters Lieblingstier: Schnippi, einen Kurzhaardackel. Weil wir aber so viele Geschwister geworden waren, mussten ihn meine Eltern zu einem älteren Ehepaar in gute Hände abgeben. Dort ist er leider später an der Zuckerkrankheit eingegangen, was meine Mutter und uns sehr traurig machte.
Hin und wieder durfte ich vormittags auch allein zu meinem Vater in das Rathaus gehen. Er saß in einem großen Bürozimmer, in dem noch mehr Tische und Stühle vorhanden waren. Er freute sich immer, wenn ich dort bei ihm auftauchte. Dann brachte er mir viel Papier und Buntstifte und setzte mich an einen freien Tisch. Mit Begeisterung malte ich dort die Blätter voll. Einige Bögen davon mit dem Datum darauf besitze ich noch heute.
Dort beschäftigte er mich so lange, bis er mittags oder abends nach Hause gehen konnte. War das schön!
Und an einem Nachmittag ging Mutter nicht zu Oma und Opa Lu, sondern in das Schwimmbad in der Ihna. Es war draußen so herrlich warm, dass mir Mutter mein Lieblingskleidchen anzog. Es war ein gelbes Hängerchen mit Puffärmeln, einem weißen Krägelchen und vielen kleinen bunten Kullern auf dem gelben Stoff.
Es muss Sonntag gewesen sein; denn Vater kam mit uns mit. Weil ich noch nicht schwimmen konnte, durfte ich nur dort in das Wasser gehen, wo es sehr flach war. Mutter passte sehr gut auf. Aber wie sehr staunte ich, als ich die großen Männer und Frauen so frei im Wasser schwimmen sah. Das wollte ich später auch unbedingt lernen, nahm ich mir vor.
In diesem Sommer bekam ich Masern und musste das Bett hüten. Draußen schien die Sonne. In der Stube war es sehr warm. Mutter hatte die Gardinen vor die Fenster gezogen, weil mir die Helligkeit in den Augen schmerzte. Mutter stellte mir ein kleines Betttischchen über das Oberbett, stützte mit einem Kissen meinen Rücken ab und gab mir herrlich gezuckerte Erdbeeren. Danach legte sie mir Papier und Buntstifte hin. Bei dieser Beschäftigung vergaß ich alles um mich herum, bis ich müde wurde und zum Schlafen hingelegt wurde.
Als ich wieder gesund war, gingen Vater und Mutter mit uns sonnabends und sonntags gern in unseren Garten. Dazu mussten wir wieder bis zum Eisturm, an ihm rechts unter den hohen Bäumen des Blücherplatzes quer zur Jungfernbrücke über die Ihna gehen. Anstatt links den Weidensteig zu nehmen, gingen wir geradeaus quer über den Bismarckplatz zur Wiekstraße. Hier hinten befand sich unser Grundstück, wo Vater später ein Haus für uns bauen wollte. Bis jetzt hatte er das Grundstück vorne mit Blumen und Gemüse und dahinter mit vielen Obstbäumen bepflanzt.
Heute zeigte er uns die neue Gartenlaube, die er gebaut hatte. In ihrem Innern befanden sich rundherum Bänke. In der Mitte stand ein Tisch, von dem wir aßen. Meine Lieblingsblumen waren die weißen Phloxstauden mit dem roten Punkt in jeder Blütenmitte. Und während ich mich gerade an einer Blütendolde erfreute, kam eine für meine Verhältnisse große Heuschrecke auf meinen Fuß gesprungen und biss mich. Mit lautem Wehklagen suchte ich Hilfe und Schutz bei Vater und Mutter. Seitdem habe ich um diese Tierchen immer einen großen Bogen gemacht.
An diesem Tag war Oma Blücher auch zu uns in den Garten gekommen. Sie war eine resolute alte Dame und fing einen Maulwurf, der in unserem Garten seinen Maulwurfshügel aufgeworfen hatte. Kurz entschlossen tötete sie ihn und befestigte ihn auf einer Stange, die sie in dem Garten aufstellte.
„Warum machst du das denn, Oma?" fragte ich sie.
Sie antwortete mir mit felsenfester Überzeugung: „Wenn andere Maulwürfe diesen toten Maulwurf sehen und merken, dass er nicht mehr lebt, dann kommt keiner mehr in unseren Garten, um ihn umzuwühlen."
Und dann nach einer kleinen Pause erzählte sie mir: "Früher habe ich alle gefangenen Maulwürfe auch noch abgezogen und die kleinen Felle gegerbt. Zum Trocknen heftete ich sie an die innere Kellertür. Daraus ließ ich mir dann eine Pelzjacke anfertigen."
Das imponierte mir sehr.
Gegen Abend gingen wir wieder langsam nach Hause. Nach dem Abendessen und vor dem Abendgebet sangen wir noch mit Vater und Mutter dieses Lied:
Weißt du, wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt Du, wie viel Wölkchen ziehen
weit hinüber alle Welt.
Gott, der Herr, hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet
an der ganzen großen Zahl,
an der ganzen großen Zahl.
Weißt Du, wie viel Mücklein spielen
in der heißen Sonnenglut?
Wie viel Fischlein auch sich kühlen
in der hellen Wasserflut?
Gott, der Herr, rief sie mit Namen,
dass sie alle ins Leben kamen,
dass sie nun so fröhlich sind,
dass sie nun so fröhlich sind.
Weißt Du, wie viel Kinder frühe
stehen aus ihrem Bettlein auf?
Dass sie ohne Sorg und Mühe
fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
seine Lust und Wohlgefallen,
kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.
Bald waren wir in einen tiefen und gesunden Schlaf gefallen.
Das Haus Blücherstraße 12A beherbergte noch mehr Familien. Über uns wohnte der Studienrat Krockow, darüber der Staatsanwalt Weiß und ganz oben Frau Puttlich. Uns gegenüber in der Blücherstraße wohnte eine sehr dicke Frau. Sie hieß Frau Hackelberg. Wenn bei uns mal der Strom ausfiel, sagte Vater immer: „Frau Hackelberg sitzt auf der Leitung."
Darüber musste ich immer sehr lachen.
Schräg gegenüber in der Blücherstraße Nr. 7 wohnte Tante Rave. Bevor meine kleine Schwester Bärbel geboren wurde, hatten wir dort unter ihr gewohnt. Tante Rave war eine von Mutters besten Freundinnen. Sie hatte uns Kinder immer sehr geliebt.
Einmal habe ich sie ganz allein besucht. Zu ihr musste ich Treppen steigen. Es war vormittags. Sie hatte gerade zwei für meine Verhältnisse große Fische gekauft.
„Komm mit mir in die Küche", sagte sie, nahm mich mit dorthin und nahm die Fische aus. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Bei uns wurde nämlich nie Fisch gegessen.
Sie trennte die Schwimmblasen aus den Fischkörpern, zeigte sie mir und sagte:
„Sieh mal, Herminchen, in diesen beiden Blasen befindet sich Luft. Nur dadurch können die Fische im Wasser beim Schwimmen in der richtigen Lage schweben. Platzt einmal aus irgendeinem Grund eine Blase, muss der Fisch elend sterben."
Tante Rave nahm mich gern auf ihre Knie und spielte mit mir Hoppe Reiter. Dazu sagte sie zwei verschiedene Verse auf. Der erste lautete so:
Hoppe, hoppe Reiter.
Wenn er fällt, dann schreit er.
Fällt er in den Graben,
fressen ihn die Raben.
Fällt er in das grüne Gras,
macht er sich die Höschen nass.
Fällt er in den Sumpf,
macht der Reiter plumps!
Aber der zweite Vers ging ganz anders. Den kannte sie von ihrer Großmutter, bei der sie aufgewachsen war. Tante Rave war über vierzig Jahre älter als ich. Wenn wir dann das Alter von ihrer Großmutter dazuzählen, kommen wir ungefähr auf die Zeit, in der dieser Vers immer gesprochen wurde:
So reiten die Herren
mit blanken Gewehren,
mit blanken Pistolen.
Sie reiten nach Polen
und wollen unserer kleinen Hermine
eine neue Puppe holen.
Und die dummen Bauern hinterdrein
auf ihren Zuckelpferdchen.
Backappel, Backappel, Backappel runter gefallen!
Jedes meiner Geschwister und ich besaßen einen kleinen Porzellanvogel, der mit einer Spange an der Wohnstuben-Übergardine befestigt war. Meiner war ein ganz bunter und hübscher kleiner Zeisig.
Und irgendwie bin ich mal zu einer brennenden Kerze gekommen. Ich erfreute mich an der kleinen flackernden Flamme und stand im Elternschlafzimmer am Fenster dicht bei der Gardine. Diese fing Feuer. Zum Glück war Mutter in meiner Nähe und konnte es, bevor es zu großen Schaden anrichten konnte, wieder löschen. Das wäre beinahe ein sehr großes Unglück geworden.
Und eines Tages brachte Vater aus Großborn, wo er jetzt als Soldat diente, einen Schuhkarton mit. Er stellte ihn auf den Tisch und sagte zu uns:
„Ratet doch mal, was in dem Karton ist."
Der Deckel des Kartons hatte kleine Luftlöcher. Aber hineinschauen durften wir natürlich nicht. Aus dem Innern kamen komische und schabende Geräusche. Das konnte kein Vogel sein, wie wir zuerst annahmen. Keiner von uns konnte es erraten. Da nahm Vater lächelnd den Deckel ab und holte eine kleine Landschildkröte hervor. Weil sie sich mit einem so zackigen und rhythmischen Schritt vorwärts bewegte, wurde sie auf den Namen „Napoleon" getauft. Napoleon durfte während unserer Mahlzeiten auf dem Tisch sein Salatblatt auffressen. Drollig sah es aus, wenn er mit seinem Maul Dreiecke in das Salatblatt biss.
An diesem Abend wurden wir wie immer ins Bett gebracht. Wenn Vater nicht zu Hause sein konnte, weil er dienstlich oder wegen der Feuerwehr, in der er auch war, abends noch einmal weg musste, durfte ich ja in seinem Bett schlafen.
An diesem Abend wurden wir alle - auch ich - in unserem eigenen Bett eingekuschelt. Nach dem Abendgebet ging Mutter aus dem Kinderschlafzimmer und machte die Tür zu. Aus irgendeinem Grunde wachte ich aber wieder auf und musste zur Toilette. Dabei stellte ich fest, dass Mutter nicht zu Hause war. Das kannte ich nicht und wollte sie suchen. Für mich war es klar, dass sie bestimmt zu Oma und Opa Lu gegangen war.
Ich zog mich an. Da es draußen schon ziemlich dunkel war, zog ich mir auch noch meinen dunkelblauen Mantel an, bei dem eine Spange mit phosphoreszierenden Katzenaugen befestigt war, damit mich niemand umrannte. So machte ich mich auf den Weg, den meine Mutter immer mit uns allen gegangen war. Darauf, dass ich das so genau wusste, war ich ganz stolz.
Zuerst ging ich die Blücherstraße nach links bis ans Ende, überquerte den Blücherplatz, indem ich am Eisturm rechts vorbei ging. Dort am Blücherplatz befand sich das große Haus, in dem Oma Blücher wohnte. Dort in der Nähe führte eine kleine Brücke über die Ihna. Auf der anderen Seite angekommen, ging ich wieder links den Weidensteig entlang.
Dass ich an zwei Brücken, die in die Stadt führten, vorbeigehen musste, wusste ich ganz genau. Die zählte ich auch. Über die dritte Brücke musste ich gehen und mich danach rechts halten und war nach kurzem Weg am Luisenplatz, den ich noch überqueren musste und gleich nach einer weiteren kleinen Brücke in der Luisenstraße. Hier wohnten Oma und Opa Lu in dem dritten Haus links.
Als ich klingelte und Oma mir die Tür öffnete, war sie gar nicht so fröhlich, mich zu sehen. Vielmehr machte sie ein ganz entsetztes Gesicht und sagte:
„Mein Zucker-Ei, was machst du denn hier so ganz alleine?"
„Ich will meine Mami nach Hause holen", erwiderte ich ihr.
Ich verstand sie nicht mehr. Oma Lu, Opa Lu, Onkel Hans, Tante Wanda und meine Cousine Waltraud scharten sich verständnislos um mich. Niemand drückte mich liebevoll, wie ich es sonst immer gewohnt war. Aber nun wussten sie, was los war. Irgendwie bekamen sie es fertig, meine Eltern davon zu informieren, dass ich bei ihnen war. Später kamen sie dann und holten mich ab. Mutter nahm mich gleich in ihre Arme und beruhigte mich.
Vater sagte: „Das darfst du aber nie wieder machen."
Zum Glück bekam ich keine Schläge, weil ich weggegangen war. Ich wollte ja etwas Gutes tun. Jedenfalls hatte ich meine Mami wieder. Das hatte ich dann doch erreicht.
Meine Geschwister Rotraut, Hermann und Dankwart gingen schon zur Schule. Jetzt waren die Sommerferien für sie vorbei. Auch ich sollte demnächst eingeschult werden. Da fragte Rotraut ihre Klassenlehrerin, Fräulein Bohnenstengel, ob sie mich mal mitbringen dürfe. Sie erhielt dazu die Erlaubnis. Also durfte ich mal neben meiner großen Schwester in der Klasse sitzen und beim Unterricht eine Stunde lang zuhören. Das war ein einmaliges Erlebnis!
Vater sagte danach zu mir: „Mini, jetzt kommst du auch zur Schule. Das ist etwas ganz Besonderes. Zur Feier dieses Anlasses fahre ich mit dir allein zum Madü-See und gehe dort mit dir Kaffee trinken und Kuchen essen. Möchtest du mit?"
Und ob ich wollte!
„Ja, das möchte ich", war meine Antwort.
Das tat er dann auch. Das werde ich nie vergessen.
Es war ein herrlicher Sonntag mit Wärme und Sonnenschein. Mutter zog mir meinen Sonntagsstaat an: Einen dunkelblauen Trägerrock aus Samt, der mit vielen kleinen bunten Herzen übersät war. Dazu trug ich eine kleine weiße Bluse mit Puffärmeln, weiße Kniestrümpfe und Halbschuhe.
Dann nahm mich Vater mit seinem Fahrrad mit und fuhr zum Madü-See. Hier tummelten sich schon viel mehr Menschen als in der Stadt. Er nahm mich bei der Hand und ging mit mir zuerst auf dem weißen Sand zum Ufer. Gebadet haben wir nicht, aber ich hielt meine Hände in das angenehm warme Wasser. Darauf wanderte Vater mit mir in die Gaststätte und bestellte für uns beide Kuchen, für sich Kaffee und für mich Kakao. Und hier erzählte er mir die Geschichte, wie die Maränen in den Madü-See gekommen sind:
'Im Kloster Kolbatz ist der Koch zum See gegangen und wollte Maränen fangen. Es befanden sich aber keine in seinem Fischernetz, als er dieses wieder hochgezogen hatte. Er sagte: "Wenn der Teufel käme, dann könnte er die Maränen aus Ostpreußen hierher holen."
Tatsächlich ist ihm der Teufel erschienen, und er bat darum. Der Teufel sagte ihm dies zu, aber nur unter der Bedingung, dass er ihm seine Seele verschreiben müsse. Der Koch versprach es ihm aber nur, wenn der Teufel mit den Maränen noch vor dem ersten Hahnenschrei ankommt. Sonst hätte der Teufel verloren und würde seine Seele nicht bekommen. Der Teufel verschwand.
Über Nacht versteckte sich der Mönchskoch im Schilf. Als gegen Morgen die Hähne krähen müssten, es aber noch nicht taten, ließ er den Hahnenschrei hören. Daraufhin haben alle Hähne in der Nachbarschaft zu krähen angefangen. Aber der Teufel war noch nicht da. Als er merkte, dass er zu spät gekommen war, hat er vor Wut den Sack mit den Maränen aus Ostpreußen in den Madü-See geschmissen. Und seitdem gibt es die Maränen in diesem See und keinem anderen in Pommern.'
Ganz glücklich saß ich auf dem Rückweg wieder bei Vater auf dem Fahrrad. Ich freute mich schon sehr auf die Schule.
Am 24. August 1944 wurde ich eingeschult. Meine Schule hieß Ihna-Volksschule. Auch bekam ich Fräulein Bohnenstengel als Klassenlehrerin. Sie erkannte mich gleich wieder.
Das erste, was wir lernen mussten, war das Grüßen am Anfang der ersten Stunde. Bevor unsere Lehrerin in den Klassenraum kam, stellten wir uns auf den Gang neben unsere Tische. Sobald Fräulein Bohnenstengel dann im Raum stand, hoben wir alle die rechte Hand schräg hoch in die Höhe und grüßten mit den Worten: „Heil Hitler." Unsere Lehrerin grüßte genauso zurück. Nun durften wir uns wieder hinsetzen und der normale Unterricht fing an.
In diesen ersten Monaten bis zum 8. Februar 1945 lernte ich noch, in der altdeutschen Schrift zu schreiben.
Mein erstes Lied, das ich bei Fräulein Bohnenstengel lernte, gefiel mir so, dass ich es später sogar meinen drei kleinen Kindern beibrachte:
Die Fröschelein, die Fröschelein, das ist ein lustig Chor,
sie haben ja, sie haben ja kein Schwänzchen und kein Ohr.
Quak, quak, quak,.......
Und kommt der Storch und kommt der Storch, verschwinden sie im Moor.
Und kommt der Storch und kommt der Storch, verschwinden sie im Moor
Quak, quak, quak, ........
Und ist er fort und ist er fort, dann kommen sie wieder hervor. Und ist er fort und ist er fort, dann kommen sie wieder hervor.
Quak, quak, quak, .......
In meiner Klasse schloss ich Freundschaft mit einem Mädchen, das in unserer Nähe im Krankenhaus wohnte. Den Namen weiß ich leider nicht mehr. Aber einmal wurde ich von ihren Eltern eingeladen, sie zu besuchen. Ich fand auch den Weg zu ihr. Aber was mir allein lebhaft von diesem Besuch in Erinnerung geblieben ist, das ist, dass sie mir erzählte, dass sich im Nebengebäude die ganzen Leichen befänden von den Menschen, die in den letzten Tagen im Krankenhaus gestorben waren.
Ich bin nie wieder zu ihr gegangen.
Langsam kam jetzt der Herbst, den ich als faszinierende Jahreszeit in Erinnerung habe. Meine Mutter hatte mich zu ihrer Näherin mitgenommen, bei der ich hinter dem Haus auf dem Rasen vor ihrem Fenster spielen durfte. Mit Begeisterung schaute ich den gelben Blättern zu, wie sie langsam zu Boden taumelten.
Wenn ich mit meinen Schuhen durch sie hindurch ging, raschelte es immer so geheimnisvoll. Ich sammelte mir meine Schürze voller hübscher Blätter, steckte jeweils den Stiel eines Blattes durch ein kleines von mir gemachtes Loch in den oberen Teil eines anderen Blattes und stellte auf diese Weise eine lange Blätterschlange mit roten, gelben, hellbraunen und gescheckten Blättern her.
An einem dieser Herbsttage holte mich Oma Blücher mit ihrem Handwagen ab, setzte mich in ihn hinein und zog mich so zu ihrem Garten. Während sie sich dort beschäftigte, durfte ich darin spielen, bis sie wieder nach Hause musste. Von ihrem Garten ist mir nur noch die Einfassung des Zaunes zur Straße hin in Erinnerung. Dort blühten in einer langen Reihe blaue Herbstastern. Das ist wohl der Grund, weshalb ich diese kleinen blauen Blütensterne so sehr liebe.
Oma Blücher schenkte mir einen Apfel, den ich zu Hause gleich aufaß. Weil ich davon sehr durstig wurde, ging ich in die Küche und trank aus meiner Muck Wasser. Das löste bei meinen Eltern einen großen Alarm aus. Sofort wurde unser Hausarzt, Dr. Götsch, angerufen. Er kam sofort, untersuchte mich und beruhigte meine Eltern und mich wieder. Mein Magen brauchte nicht ausgepumpt zu werden, wie meine Eltern es zuerst befürchtet hatten. Da hatte ich noch einmal Glück gehabt. Seitdem passte ich höllisch auf, auf Obst kein Wasser innerhalb einer Stunde zu trinken.
Zum ersten Advent band Vater aus Tannenzweigen einen Adventskranz. Ein verziertes Holzkreuz wurde mit seinen vier Enden darauf festgebunden. An den vier Enden und in der Mitte standen Kerzen, also insgesamt fünf Stück. An roten, breiten Schleifen hing dieser Kranz in der Wohnstube in unserer Augenhöhe von der Decke herunter. In dieser Stube stand Vaters Klavier. Darauf spielte er Weihnachtslieder und sang uns alle Strophen vor. Währenddessen bildeten wir Geschwister, die wir schon gut laufen konnten, mit Mutter einen Kreis.
Wer konnte, der sang schon kräftig mit. Wer noch nicht singen konnte, der versuchte es jedenfalls. Dazu brannte beim ersten Advent die Kerze in der Mitte, während es in der ganzen Stube dunkel war. Wir gingen, mit den Augen die Kerze auf dem Kranz betrachtend, im Kreis singend um den Kranz. Nach jeder Strophe wechselten wir die Richtung. Das war feierlich. Und Vater kannte sehr viele Lieder für Weihnachten mit sämtlichen Strophen!
Am zweiten Advent wurden zwei gegenüberliegende Kerzen angezündet. Am dritten Advent kamen die beiden äußeren Kerzen, die noch nicht gebrannt hatten, mit der mittleren Kerze an die Reihe, während am vierten Advent alle äußeren Kerzen angezündet wurden. Am Heiligen Abend gab es bei uns noch keine Weihnachtsbescherung.
An diesem Abend brannten alle fünf Kerzen auf dem Adventskranz. Immer tanzten wir um ihn herum und sangen unsere Weihnachtslieder.
Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Vater sagte zu Mutter: „Das ist bestimmt der Weihnachtsmann."
Dieser Ausspruch löste in mir eine sagenhafte Angst aus. Wie der Blitz war ich unter Mutters Bett verschwunden. Irgendwie wurde ich aber auch wieder aus meinem Versteck hervorgezogen. Was danach geschah, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass wir erst am ersten Weihnachtstag morgens die Weihnachtsbescherung hatten. Das war so in Vaters Familie üblich.