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Kapitel 1 – Alles nur Kathrins Schuld

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Na super – Stau. Zumindest nennt man das dort, wo ich hinfahre, sicherlich so, wenn man auf einer Landstraße im nirgendwo zwischen einer Kuh- und einer Schafherde eingekesselt im Auto steht.

Wo ich hinfahre? Auch wenn mir das etwas unangenehm ist und ich kaum wage, es auszusprechen: Ich fahre zu meiner ersten Arbeitsstelle. Da ich normalerweise ein Ausbund an Pünktlichkeit bin, werde ich besser wegen meiner vermutlich verspäteten Ankunftszeit dort anrufen.

„Reich hier... Dr. Reich... Ihr neuer Arzt... Ja, genau... Ich wollte nur kurz sagen, dass ich im Stau stehe... Im Auto, genau... Ja, Landstraße... Naja, ich komme später... Ja, deshalb rufe ich an... Kühe und Schafe... Ja, genau, witzig, haha... Ja, bis später...“

Das war Frau Hufschmied am Telefon. Meine neue Arzthelferin. Wahrscheinlich eher eine Vorzimmerdame, eine echte Ausbildung kann ich mir da nicht vorstellen.

Frau Hufschmied ist altersmäßig irgendwo in den Fünfzigern und hat einen Humor, den zu finden mir noch nicht gelungen ist. Und sie ist so ruhig, dass sie mir schon träge erscheint. Schon beim Vorstellungsgespräch haben die Formulierungen ihrer Fragen so lange gedauert, dass ich manchmal Sorge hatte, einzuschlafen: „Also, Herr Dr. Reich. (PAUSE) Nun. (PAUSE) Sie sind ja noch ein recht junger Mann. (PAUSE) Also, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. (PAUSE) Aber haben Sie sich das gut überlegt?“ NEIN, NATÜRLICH NICHT!

Schon bei der Frage wäre ich beinahe eingeschlafen. Die Antwort wiederum hat mich einfach nur wahnsinnige Überwindung gekostet: „Aber natürlich. Ich pflege alles, was ich mache, genau zu überlegen.“

Als Frau Hufschmied später noch einmal Kaffee holen gegangen ist, glaubte ich schon, einen Suchtrupp losschicken zu müssen, so lange war sie unterwegs. Von einem Raum in den Nachbarraum brauchte sie eine geschlagene Minute. Kein Wunder bei den geschätzten 120 Kilogramm, die sie auf die Waage bringt.

Da sind mir direkt die praktischen Fragen ins Hirn geschossen: Ob sie wohl in der Lage ist, in einer echten Notsituation schnell zu reagieren? Was, wenn einmal ein Trecker umkippt und ein Bauer gerettet werden muss? Kann sie mir dann helfen oder steht sie nur beschränkt glotzend im Weg?

Und dann dieses niveaulose Kichern am Telefon vorhin. „Und deshalb rufen Sie an? Hihihi...“

Sehr witzig. Ich bin es gewohnt, dass ich erwartet werde. Es ist keineswegs egal, wenn ich mich verspäte. Ihr wartet da nicht auf irgendwen, ihr Landeier.

Ist doch wahr! Ich bin Einser-Schüler gewesen. Und Einser-Student. Alle Abschlüsse habe ich mit Auszeichnung gemacht. Ich bin zu deutlich höherem berufen als zu einer Stelle als Landarzt. Ich bin... na gut: Ich werde der beste Chirurg Deutschlands. Ach was, der Welt!

Egal, wie stolz meine Mutter auf mich ist („Oh, Karsten, das ist ja toll. Landärzte werden ja so gebraucht!“), werde ich nicht lange in so einem Kaff bleiben. Ich brauche eine Stadt. Hamburg, München, Berlin, Köln. So etwas schwebt mir vor. Kein Kuhdorf mit 200 Einwohnern, wo die nächste Stadt nur mit dem Auto über die Landstraße erreichbar ist.

Der nächste Friseur womöglich auch. Meine armen Haare.

Oh, Mann. Was habe ich da nur vor? Und alles nur wegen Kathrin, dieser unkultivierten Ziege.

Apropos: Der Gestank der Schafherde zieht langsam ins Auto. Da schon seit einer Weile die Sonne scheint, hat sich das Auto dementsprechend aufgeheizt. So verteilt sich das Ganze wie ein Aufguss in der Sauna. Leider auf der anderen Seite der Skala meiner olfaktorischen Vorlieben.

Schnell schalte ich die Lüftung auf Innenzirkulation um. Klimaanlage an. Der Benzinverbrauch ist mir egal, die Abgase meines Autos riechen besser als die von den Kühen.

Kühe mag ich eh nur medium oder als Jacke.

Ich wollte doch einfach nur Chirurg sein. Einfach nur eine Stelle an einer großen, renommierten Klinik, genug Möglichkeiten zum beruflichen Aufstieg, ein super Gehalt. Nette, junge, hübsche Kranken- und OP-Schwestern, die mich selbstverständlich vergöttern. Meine Ansprüche sind doch nicht zu hoch. Nicht bei meinen Qualifikationen.

Und jetzt stehe ich hier. Auf dem Weg zu meiner ersten Stelle. Einer Stelle auf dem Land. Einer Stelle, die ich meinen sogenannten Studienfreunden zu verdanken habe. Die haben eine kleine Schwäche meinerseits ausgenutzt und mich hinterhältig dazu gezwungen, hierher zu müssen. Die wussten doch ganz genau, dass ich keine Stelle ausschlagen würde, wenn ich sie schneller als Kathrin kriege. Egal, wo die Stelle auch sein mag, ich würde sie nehmen, um den entsetzten Gesichtsausdruck meiner Zwillingsschwester zu sehen, wenn ich unseren Eltern verkünde, dass ich einmal etwas als erster geschafft habe.

Und ja, es hat sich gelohnt. Die Erinnerung an das Gesicht meiner um genau 6 Minuten älteren Schwester werde ich wohl niemals vergessen. Als ich beim Familienessen verkündete, dass ich eine Stelle hätte, war das wie Weihnachten und Ostern zusammen.

Der Dämpfer kam, als ich erzählen musste, was für eine Stelle ich habe. Der Stolz meiner Eltern, der sich wenigstens einmal allein auf mich konzentrierte ist es aber wert. Zumindest kurzzeitig.

Und die Erinnerung an den Blick von Kathrin ist es noch mehr wert. Ich habe ihn in mir gespeichert. Für Momente, in denen ich mich nicht gut fühle. Momente wie jetzt.

Schon fühle ich mich besser. Jahrelange Demütigung ist wie auf einen Schlag vorbei. So etwas kommt dabei heraus, wenn man Zwillinge in eine Klasse steckt. Nur Konkurrenz.

Da muss ich mir glatt vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn wir damals auf dem Land gelebt hätten. In einem Dorf. In so einem wie jenes, in das ich jetzt fahre. Wie gesagt: Die Situation war dank meiner Schwester schon nicht schön. Aber wie wäre es gewesen, wenn die ganze Klasse aus Verwandten bestanden hätte?

So stelle ich mir das zumindest in diesem Kaff vor. Ein Klassenzimmer, in dem sämtliche Dorfkinder gemeinsam unterrichtet werden. 200 Einwohner. Die Namen sind noch sehr ursprünglich, ländlich, einfach, beinahe primitiv: Müller, Meier, Hufschmied, Schneider, Metzger. Die müssen doch alle irgendwie miteinander verwandt sein. Die werden es ja nicht so machen, wie mit ihren Tieren, dass sie einmal im Jahr auf eine Auktion gehen und ein paar Außenstehende kaufen...

Ok, Karsten, vergiss diese Gedanken. Atme tief durch und schau Dir mal die Gegend an.

Oh, Mann, da gibt es absolut nichts zu sehen. Felder. Kleinste Wälder. Kühe. Windmühlen. Zwischendurch mal einzelne Häuser. Sogar mal ein Auto in weitester Ferne. Und sonst? Gähnende Leere. Ach Du Scheiße!

So ist es auch in dem Dorf, soweit ich mich an den Besuch beim Vorstellungsgespräch erinnere. Nichts los. Kleinste Gässchen, die Häuser in genug Entfernung zueinander, dass jeder einen Garten rundherum haben kann. Und Scheunen. Mit Tieren drin. Igitt.

Ob es wohl ein Restaurant gibt? Irgendetwas, wo ich abends noch ein wenig entspannen kann? Einen Golfplatz für die Freizeit? Einen Supermarkt? Zivilisatorischen Fortschritt jeglicher Art? Haarpflegemittel?

Schnell kontrolliere ich den Sitz meiner Haare im Rückspiegel. Die dunklen Locken sind perfekt in Form. Nicht zu lang und nicht zu kurz. Ich hoffe, dass ich das so erhalten kann, bis ich eine echte Arbeit beginne.

Mir ist langweilig. Ich hole meinen Tablet-PC heraus und will im Internet nach Stellen suchen. Die Verbindung ist so langsam, sodass ich es schnell aufgebe. Toll, das geht ja super los.

Konzentrier Dich auf Deine Fähigkeiten, Karsten: Problemlösung. Wie sieht das Problem aus? Ich stehe im Stau. In Tierherden. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Ein möglicher Weg führt mitten durch die Kühe. Das würde mir durch eine plötzliche Panik unter dem Viehzeug vielleicht mein Auto ruinieren und ist deshalb völlig inakzeptabel. Außerdem kann es ja sein, dass sie gerade zum Schlachter gebracht werden. Dieser Gedanke lässt mich kurz mit ihnen fühlen. Und in diesem Fall wäre auch Stress durch wildes Hupen kontraproduktiv. Das schmeckt dann doch nicht.

Die zweite Möglichkeit wäre die Flucht über die Felder. Das würde mir mein Auto ziemlich sicher ruinieren. Somit ist auch das gar keine Option. Allein der Gedanke ist skandalös.

Wer bin ich denn?

Ein Arzt. Ein Doktor. Wenn man so will, bin ich Chefarzt einer kleinen Klinik. Wer kann das schon mit Ende zwanzig von sich behaupten?

Ich habe sogar Angestellte. Ok, eine Angestellte. Dass das ausgerechnet eine wie Frau Hufschmied ist, macht es nicht besser.

Oh, mein Gott. Wie ich diese Stelle jetzt schon verachte. Aber ich muss sie antreten, sonst überholt mich Kathrin wieder. Wenigstens kurzfristig sollen meine niederen Instinkte einmal siegen und den Triumph über meine Schwester auskosten dürfen.

Mein Plan ist ganz einfach: Ich warte weiterhin auf Antworten auf meine Bewerbungen, bewerbe mich außerdem weiter und arbeite nebenbei ein bisschen auf dem Land. Was wird diesen Landeiern schon fehlen? Bei 200 Einwohnern werde ich neben den Impfungen und Grippebehandlungen wohl noch Zeit für Bewerbungsgespräche und Kontaktpflege haben.

Dieser Exkurs hat mich der Lösung meines Problems nicht wirklich näher gebracht. Vielleicht muss ich den Stau wegen des ländlichen Familienausfluges einfach durchstehen. Immerhin habe ich es ja nicht wirklich eilig da hin zu kommen.

So schnell, wie ich diese Stelle antreten sollte, scheinen die es aber eilig mit mir zu haben. Der vorige Arzt scheint kurz vor dem Tod aus Altersschwäche zu stehen. Das wird aber nicht der einzige Grund sein. Niemals wären sonst die letzten Worte von Frau Hufschmied nach dem Vorstellungsgespräch gewesen: „Es wäre so schön, wenn Sie zu uns kommen würden, Herr Doktor. Wir brauchen Sie hier wirklich!“

Verständlich, oder? Wer würde mich nicht als Arzt wollen? Wer könnte mich nicht als Arzt brauchen? Wer mich nicht braucht, ist auch nicht krank. Oder tot.

Also keine Panik, Ihr Landeier: Der Herr Doktor kommt!

Der Herr Prädikats-Doktor. Herr Doktor Reich. Wie passend. Nomen est omen.

Wenn auch das Handynetz etwas zu wünschen übrig lässt, bin ich ja schon froh, dass sie überhaupt Telefonanschluss haben. Gespannt bin ich ja mal auf das Internet. Hoffentlich zerstören die bei der Aussaat nicht immer die Kabel.

Und diese Frau Hufschmied geht mir auch schon auf den Senkel. Offenbar war die erste Aufgabe des vorigen Arztes, sie auf die Welt zu bringen. So war von Anfang an klar, dass sie Arzthelferin – oder besser: Helferin des Arztes – werden würde. Sozusagen als Bezahlung für die ärztlichen Mühen bei der Geburt.

Kann das hier jetzt mal weitergehen? Ich rolle hier jetzt schon geschlagene 20 Minuten zwischen Else und ihren Kolleginnen die Landstraße entlang. Das Lenkrad ist durch mein Getrommel bestimmt schon aufgeweicht. Aber jetzt scheint es endlich so, also würde der Bauer auf die Felder rechts abbiegen. Es geht weiter. Meine Euphorie ist kaum zu bändigen. Mein Sarkasmus auch nicht.

Mit Vollgas schieße ich los, im Rückspiegel sehe ich den Bauern, der sich vor Husten krümmt. Was stehst Du auch in meiner Staubwolke, Du Trottel? Landleben kann doch auch schön sein. Ich muss tatsächlich ganz ehrlich lächeln.

Nach einer Weile fahre ich nicht mehr ganz so schnell. Bei den Kurven wäre das fahrlässig. Ich versuche, mich in die passende Stimmung zu bringen: Auf zum fröhlichen Amtsantritt bei der Kurzzeitstelle Landarzt. HURRA! Jetzt werden die Landeier mich kennenlernen. Und sie werden lernen, was es heißt, von einem echten Arzt behandelt zu werden.

Sind die da eigentlich versichert? Vor Schreck bremse ich heftig und knalle fast mit dem Kopf aufs Lenkrad. Erschrocken kontrolliere ich meine Stirn, aber vor allem die Frisur. Sitzt.

Ruhig, Karsten. Wird schon. Auch auf dem Land gibt es Gesetze. Und eigentlich ja auch Geld. Notfalls muss ich die halt verklagen. Spätestens, wenn ich weg bin und die mich nicht mehr mit ihren Mistgabeln erreichen oder mich auf einem Scheiterhaufen verbrennen können.

Das Gehalt ist in der Tat nicht so hoch, wie ich es verdienen würde, aber dafür darf ich dort umsonst wohnen. Darf. HA, dass ich nicht lache.

Das Dorf kommt immer näher, in Sichtweite ist es auf diesem platten Land schon seit einer Weile. Und da kommt ja auch schon das Empfangskomitee. Na, das kann ja heiter werden.

Dr. Karsten Reich

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