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Kapitel 2 – Aller Anfang

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„Danke für unsern neuen Doktor,

Danke, dass Dr. Reich da ist,

Danke, denn schon eh‘ wir ihn kannten,

haben wir ihn vermisst!“

Die letzten Klänge des Klaviers verklingen und ich versuche, möglichst elegant den Krampf aus meinen Wangen zu bekommen. Ein freundliches Lächeln ist ja das Mindeste, was ich als Dankeschön für den Kinderchor des Dorfes übrig haben kann. Und mehr ist auch nicht drin.

Schon als ich in das Dorf einfuhr, konnte ich die Aufbauten für meine Begrüßungszeremonie nicht übersehen: Am Eingang des Dorfes wehte ein „Herzlich Willkommen“-Banner quer über der Straße. Vor „meinem“ Haus hatte sich offenbar das gesamte Dorf versammelt.

Das Haus, in dem ich ab heute vorübergehend leben und arbeiten werde, liegt fast direkt hinter dem von mir genutzten Ortseingang. Nicht, dass es von der anderen Seite kommend viel weiter gewesen wäre. Es handelt sich um ein altes Fachwerkhaus mit Reetdach, das innen zum Glück etwas modernisiert wurde, wie ich von meinem ersten Besuch weiß. Die Toilette befindet sich also innen und hat auch schon fließend Wasser. Liebhaber würden das Haus bestimmt als ein „Juwel der Baugeschichte“ bezeichnen. In meinen Augen handelt es sich eher um eine Bruchbude, die abzureißen allerdings nicht der Mühe wert wäre. Aber für die paar Wochen hier wird es wohl reichen.

Vor dem Haus gibt es eine kleine Veranda aus Eichenholz, zu der fünf Stufen hochführen. Behindertengerecht ist anders. Auf diesen Stufen hatte sich der Kinderchor versammelt, um synchron mit dem Ausschalten meines Automotors die ersten Töne des bekannten Kirchenliedes anzustimmen. Alle sechs Strophen plus einer selbst gedichteten.

Alle starren mich erwartungsvoll an, sodass ich lächelnd aus dem Auto steige.

„Ich muss sagen: Dieser Auftritt hat mir wirklich eine Gänsehaut beschert!“

Das ist doch nett, oder? Zumindest, wenn man nicht weiß, was genau ich damit meine, aber Ironie ist bestimmt noch nicht auf dem Land eingetroffen. „Woher wussten Sie nur, dass ich genau jetzt ankomme?“ Offenbar ist das für die Landbevölkerung ein Witz, denn alle lachten herzhaft los. Um nicht wie ein kompletter Idiot dazustehen, lache ich zaghaft mit und beschließe, dieser Frage später auf den Grund zu gehen.

„Nun ja, dann werde ich mich mal einrichten gehen...“

Mein Plan ist, dass ich mit diesen Worten einfach meinen Koffer nehmen und alles einräumen könnte. Der Plan des Dorfes sieht offenbar anders aus. Frau Hufschmied ergreift das Wort: „Lieber Herr Dr. Reich. PAUSE) Ich möchte sagen – und ich glaube, ich darf es auch – (HAHAHA) also ich fasse mich auch ganz kurz, weil sie ja auch bestimmt erschöpft sind von der Reise. (PAUSE) Wir freuen uns und deshalb möchte ich Sie in aller Bescheidenheit hier bei uns ganz herzlich willkommen heißen! (KLATSCHEN) Wie Sie sehen werden, haben wir ein kleines Büffet arrangiert und würden gerne mit Ihnen anstoßen und allen die Möglichkeit geben, Sie auch einmal kennenzulernen.“ KLATSCHEN!

Diese Ansprache hat der Anspannung meiner verkrampften Lachmuskeln nicht wirklich Entspannung gebracht. Aber was soll ich sagen? Mir bleibt nur eins:

„Dann sage ich mal: Hereinspaziert in die gute Stube! Fühlen Sie sich wie Zuhause!“ Irgendwer muss es ja tun.

„Moooooment“, tönt es da etwas zitterig durch die Menge. „Erst die Formalitäten!“

Unter dem allgemeinen Gelächter teilt sich die Menge wie einst das Rote Meer und gibt den Blick auf meinen Vorgänger frei. Doktor Reiter – der Himmel weiß, welche Bewandtnis es mit diesem Namen auf sich hat – steht etwas unsicher links neben der Treppe. In seinem grauen Anzug, den er bestimmt schon seit seiner Konfirmation besitzt, sieht er etwas verloren aus. Seine Hautfarbe hat sich dem Anzug mittlerweile fast angeglichen und sein Gesicht ist eines Faltenhundes würdig. Einziger Farbtupfer ist ein deutlicher Senffleck auf der ebenfalls grauen Krawatte. Doktor Reiter strahlt mich durch seine riesige Brille mit den unendlich dicken Gläsern schief an und fängt an zu reden:

„Lieber Herr Doktor Reich. Als Ihr Vorgänger im Amte des zuständigen Arztes und Vormieter in dieser bescheidenen Hütte möchte ich Ihnen hiermit ganz offiziell die Schlüssel zu Ihrem neuen Haus überreichen! Mögen Sie darin eine ähnlich erfüllte Zeit erleben, wie ich es tat – und vor allem eine ähnlich lange!“

Ein allgemeiner Jubel bricht aus, der meine Qualen nicht gerade mindert. Auch zu diesen Worten muss ich freundlich lächeln und schaffe es tatsächlich noch einmal, mir ein „Dankeschön“ abzuringen. Mit dem Schlüssel in der Hand erklimme ich dann die erste Stufe.

„Moooment“, ertönt es da erneut. Alle lachen, während ich versuche, mir den nächsten Schauder nicht anmerken zu lassen. „Als Bürgermeister möchte ich auch noch ein paar Worte sagen!“

Stimmt, der Herr Bürgermeister. Auch ihn habe ich schon beim Vorstellungsgespräch kennengelernt. Herr Bürgermeister Meister. Hahaha. Da hat schon der erste grandiose Witz meinerseits gezeigt, wie hier der Hase läuft: „Meister? In der wievielten Generation sind sie denn Bürgermeister?“ – „In fünfter! Wieso?“ Aha, ok.

Der kleine, dicke Mann stellt sich vor mich und renkt sich fast den obersten Halswirbel aus, als er versucht, mir in die Augen zu schauen. Seine blauen Augen, die halb durch die buschigen Augenbrauen verdeckt sind, aber messerscharf durch die Brille auf mich blicken, sind dementsprechend feucht. Vielleicht liegt es auch an der Freude, dass ich endlich da bin und den alten Sack von Vorgänger ablöse. Vielleicht sind es aber auch Nackenschmerzen oder Alkoholentzug. Immerhin ist es schon fast Mittag.

Auch Herr Meister strahlt mich an, sodass die stark gerötete Haut über seinen dicken Wangen zu platzen droht. Die Adern auf der Stirn treten deutlich hervor und bieten den Schweißperlen eine perfekte Linienführung, um sauber an den Augen vorbei Richtung Hals zu fließen. Das schüttere, schon leicht gräuliche Haar zittert mit den Händen des Bürgermeisters um die Wette, als er zu reden beginnt:

„Lieber Herr Doktor. Sie treten ein schweres Erbe an.“ Ha, das ich nicht lache! „Ihr Vorgänger, Herr Doktor Reiter, war allseits beliebt, hatte immer ein offenes Ohr und wusste stets, die richtigen Worte zu finden. Tag und Nacht konnte sich das gesamte Dorf auf ihn verlassen.“ Klar! Hauptsache, das wird als Nachtarbeit und Überstunden abgerechnet! „Wir wünschen Ihnen einen guten Start – und dass diese Fußstapfen für Sie auch nicht zu groß sind!“

Der Bürgermeister zwinkert ins Volk und vergewissert sich der eingeplanten Lacher. Dann schüttelt er mir glücklich und so heftig die Hand, dass ich mich kurz versichern muss, dass meine Schulter noch intakt ist.

Eine meiner löblichsten Eigenschaften ist es, dass ich schnell lerne. Also drehe ich mich nicht sofort um, um die letzten Stufen zu erklimmen, sondern warte noch eine Weile, ob nicht noch jemand etwas zur Begrüßung sagen will.

„Worauf warten Sie noch?“, fragt da jemand, „Der Schnaps steht in der Küche!“

Diesmal lache ich wirklich herzlich und ernstgemeint mit allen mit.

Also gehe ich zur Tür und schließe diese unter großem Jubel auf. Alle drängen sich hinter mir ins Haus und verteilen sich blitzschnell in alle Ecken, in denen auch etwas zu Essen steht. Oder etwas zu trinken, denn als erstes fällt mir ein riesiges Fass Bier auf, dass fast den ganzen Flur ausfüllt.

Fast den ganzen Rest des Raumes beansprucht Frau Hufschmied. Sie hat ihren wuchtigen Körper heute wirklich besonders herausgeputzt. Zumindest soll das wohl schick wirken, was sie da trägt: Ein viel zu enges und viel zu buntes Glitzerkleid, eine dazu passende, riesige Hornbrille und als Krönung ein ebenso glitzerndes Band, dass sie dekorativ um ihren Dutt gebunden hat. Nicht zu vergessen die knallrot geschminkten Lippen und gleichfarbigen Ohrringe. Was in jeder normalen Gesellschaft unter der Bezeichnung „Knallbonbon“ für Schmunzeln gesorgt hätte, scheint hier echte Begeisterung hervorzurufen. Jede Menge Frauen stürmen auf Frau Hufschmied ein und beglückwünschen sie zu ihrem Aussehen. Bevor ihre Gesichtsfarbe sich endgültig ihren Ohrringen angleicht, lässt sie ein deutliches: „So, jetzt muss ich aber mal zapfen!“, ertönen.

Auf geht’s. Nach kurzer Zeit habe ich mein zweites Bier in der Hand und gefühlt mit jedem Einwohner, der groß genug ist, ein Bierglas zu halten, mindestens einmal angestoßen. Wo steht nochmal das Essen?

Und da habe ich plötzlich auch schon ein Brötchen mit einer dicken Scheibe Fleisch in der Hand. Ich höre nur noch so etwas wie „selbstgeschlachtet“, bevor ich meine Zähne dankbar darin versenke.

Danach brauche ich „natürlich einen Schnaps“, der auch viel zu schnell schon von seinem Doppelgänger abgelöst wird, denn „auf einem Bein kann man ja nicht stehen“. HAHAHA. Ich höre nur noch „selbstgebrannt“.

Plötzlich sitze ich in meinem neuen Arbeitszimmer und merke, wie mehrere Kameras auf mich gerichtet sind. Da es sich zum Glück nur um Fotoapparate handelt, kann ich die Situation durch ein strahlendes Lächeln retten.

Ebenso plötzlich, wie sie erschienen sind, sind alle wieder weg und ich sitze alleine in meinem Sessel. Meine Güte, was ist da in dem Schnaps drin?

Frau Hufschmied betritt mit einem Tablett das Zimmer. „Na, das war ja mal ein lustiger Empfang. (PAUSE) Aber jetzt dachte ich mir, dass Sie bestimmt Hunger haben!? (FRAGENDE PAUSE) Na? (AUFFORNDERNDE PAUSE) Haben Sie Hunger?“

Faszinierend, wie sie ihre Pausen betonen kann.

Schnell schließe ich meinen Mund, der mir, wie ich feststelle, vor Konzentration auf die Worte und die Pausen aufgesprungen zu sein scheint. Und ich muss zugeben, dass ich dankbar bin: „Ja, gerne, nichts lieber als das!“

Glaube ich, gesagt zu haben. An dem kurzzeitig verwirrten Blick meiner neuen Sekretärin kann ich erkennen, dass ich vielleicht nicht ganz so wohlartikuliert geklungen habe, aber das ist mir jetzt egal. Ich entreiße ihr förmlich das Tablett, kurz bevor sie es auf dem Tisch vor mir abstellt und verschlinge Käsebrötchen, Mettwürste und Frikadellen.

Als das Tablett abgefressen ist, lehne ich mich zufrieden zurück, seufze und sage: „Danke, das war wirklich gut. Der Schnaps hätte mich fast umgebracht. Was ist das für Zeug?“

Glaube ich, gesagt zu haben. Auch diesmal schaut Frau Hufschmied ganz kurz verwirrt, dann aber schon deutlich belustigter. Nach einer vielsagenden Pause gibt sie endlich zu: „Ach, beim Hinnerk, also dem Herrn Bauer, weiß man das so genau eigentlich nie...“

Ich winke ab, will den Rest nicht hören. Ich muss mich hinlegen. Schnell.

Mühsam erhebe ich mich und deute nur nach oben. Frau Hufschmied versteht und hält mir die Tür auf. Ich ziele direkt auf den Schrank daneben, kriege noch die Kurve und bin so schön im Schwung, dass ich auch direkt die Treppe ins Obergeschoss treffe. „Zweite Tür links!“, höre ich Frau Hufschmied noch rufen.

Gute Idee. Toilette.

Das Wasser aus dem Hahn ist zum Glück eiskalt, sodass meine Lebensgeister wieder etwas geweckt werden. Nichtsdestotrotz bin ich echt erschlagen und beschließe, mich hinzulegen.

Meinen Koffer kann ich auch nachher noch holen, immerhin ist Sonntag. Und wer soll hier schon was klauen? Vor allem: Wo sollte jemand etwas, geschweige denn sich selber, verstecken? Mit diesen Gedanken schlummere ich, angezogen und ausgestreckt, auf meinem neuen Bett ein.

Mit dem Gedanken: „Wo bin ich? Was ist das für ein Bett?“, schrecke ich ungefähr eine Stunde später hoch. Ach ja: Ich bin jetzt Landarzt.

Erschöpft lasse ich mich wieder auf das Kissen sinken und betrachte meine Umgebung. Mein Schlafzimmer ist eines alten Hauses würdig eingerichtet: Dunkles Holz, schwere und große Schränke, Gardinen mit Blümchenmuster vor den kleinen Fenstern, ein Waschbecken in der Ecke des Raumes. Oje, wo bin ich hier nur hineingeraten.

Mühevoll erhebe ich mich und verlasse das Zimmer. Auch der Flur ist ähnlich dunkel gehalten, das Fenster am Ende ist allerdings größer als im Schlafzimmer. „Das Licht am Ende des Tunnels“, kommt mir spontan in den Sinn. Ich gehe aber erst einmal Gegenüber ins Badezimmer. Zum einen möchte ich überprüfen, wie zerknittert ich vom Schlafen bin, zum anderen bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich vorhin irgendwelche Handtücher auf den Boden geschmissen habe.

Nach diesem kurzen Zwischenstopp – alles soweit ok! – gehe ich die Treppe hinunter und zur Vordertür hinaus. Wie erwartet steht mein Auto noch da, wo ich es abgestellt habe. Sogar die Tür ist noch auf und der Schlüssel steckt noch. Das ist ja mal ein Service. Da kann ich das Auto ja direkt mal auf den Parkplatz mit der „Arzt“-Markierung fahren. Vorhin standen da so viele Leute, dass ich das nicht erledigen konnte.

Mit dem Koffer in der Hand gehe ich zurück ins Haus und treffe auf Frau Hufschmied. „Na, wieder alles gut?“ Vor Schreck lasse ich fast den Koffer fallen: Eine kurze Frage, ganz ohne Pause? So betrunken bin ich noch?

„Ja, also (Pause) wie soll ich sagen...“ beginne ich und unterbreche mich. Hat dieser Alkohol etwa dafür gesorgt, dass ich mit meiner Sekretärin die Rollen getauscht habe? Konzentration, nochmal: „Ja. Alles wieder gut. Da war die Erschöpfung größer als gedacht.“

Frau Hufschmied lächelt freundlich und sagt nach einer musternden Pause: „Wenn Sie ausgepackt haben, können Sie ja noch mal runterkommen. (PAUSE) Es wäre gut, wenn wir uns mal zusammensetzen würden. (FRAGENDE PAUSE) Beruflich? (UNGEDULDIGE PAUSE) Nachher?“

Puh, alles wieder normal!

„Ja klar, ich beeile mich!“ Immerhin will ich mich hier ja nicht häuslich niederlassen, setze ich in Gedanken hinzu.

Wenige Minuten später treffe ich also wieder in meinem neuen Arbeitszimmer ein. Da das Vorzimmer nicht auf dem Weg liegt, rufe ich Frau Hufschmied zu mir, die auch sofort auf ihren knallgrünen Pumps hereinstolziert kommt. Diese Schuhe waren mir noch gar nicht aufgefallen. Zum Glück, sonst hätte der Schnaps wohl noch schneller und heftiger gewirkt.

Ich will nicht ins Detail gehen, was die nächste Stunde angeht, denn die Ausführungen von Frau Hufschmied sind extrem ausschweifend. Eine qualifizierte Fachkraft hätte mir wohl in wenigen Minuten erklärt, was ich wo finde, aber sowas kann ich in diesem Dorf wohl nicht erwarten. Immerhin kann sie alles erklären und ich verstehe alles. Ein Anfang.

Kurz bevor Frau Hufschmied mich verlässt, fällt mir meine Frage von heute Morgen wieder ein: „Sagen Sie mal, Frau Hufschmied, woher wussten Sie nun, dass ich genau dann ins Dorf komme?“

Frau Hufschmied lächelt nachgiebig. Nach einer erwartungssteigernden Pause erklärt sie: „Also, Herr Doktor, wissen Sie, hier auf dem Lande ist ebendieses ja sehr platt. (AUFFORDERNDE PAUSE) Deshalb haben wir hier den Vorteil, alles früh zu sehen. (BELUSTIGTE PAUSE) Nicht, dass das der einzige Vorteil wäre, aber das würde zu weit führen. (BELUSTIGTE PAUSE) Und wie sagt man so schön? (FRAGENDE PAUSE) Wir können morgens um 9 schon sehen, wer uns abends um 18 Uhr besuchen kommt. (FRÖHLICHE PAUSE) Nun, jedenfalls habe ich hier auf der Veranda gesessen und in Richtung Landstraße geguckt. (ERWARTUNGSVOLLE PAUSE) Ich wusste ja spätestens nach ihrem Anruf ungefähr, wann Sie kommen. (NOCH FRÖHLICHERE PAUSE) Jedenfalls habe ich Sie gesehen. (ZÖGERNDE PAUSE) Also Ihr Auto, beziehungsweise eine Sandwolke. (VERSTÄNDNIS SUCHENDE PAUSE) Und dann habe ich alle zusammengetrommelt.“

„Aha, vielen Dank Frau Hufschmied. Auf Wiedersehen. Viel Spaß beim Skat.“

Einmal tief durchatmen. Dann beschließe ich, in Ruhe noch ein wenig umzusortieren. Patientenakten von vor 30 Jahren? Weg! Ein Kaktus auf der Fensterbank? Vorsichtig weg!

Die aktuellen Akten lese ich mir aus Langeweile mal durch. Na, da ist ja mächtig was passiert hier. Bestimmt eine Grippewelle pro Jahr, einige haben sich mal Finger gebrochen, die obligatorischen Erbsen in Kindernasen, Nasenbluten, Ohrenschmerzen. Gut, dass ich studiert habe.

Und gut, dass ich bald wieder hier weg bin.

In einer Schublade stoße ich auf Stethoskope. Meine Güte, die sind älter als Doktor Reiter. Älter als dieser Ort. Älter als Hippokrates! Und das Beste ist: Ich finde keine anderen. Das heißt, dass ich damit arbeiten muss. Wow. Ich hätte in Medizingeschichte besser aufpassen sollen.

Belustigt durchsuche ich die anderen Schubladen in dem riesigen Eichenschrank, der fast die ganze Wandseite einnimmt. Mundspatel, Handschuhe, Lampen (sogar mit Batterien!) – insgesamt ist alles vorhanden, was ich so brauchen werde. Nur viel älter. Auch das obligatorische Gerippe, das an der Fensterseite steht, hat schon bessere Tage gesehen. Bei diesem Gedanken muss ich etwas schmunzeln, aber auch die Knochen sahen sicherlich schon einmal weniger vergilbt aus. Und die Gelenke stabiler. Immerhin gibt es ein Gerippe. Woher es stammt, wage ich nicht zu bedenken.

Etwas stutzig machen mich auch die Handschuhe, die deutlich zu lang aussehen. Als würden sie bis zur Schulter reichen. Wahrscheinlich eine Fehlbestellung.

Ich nehme die Schachtel aus der Schublade und bin schon auf dem halben Weg zum Mülleimer neben meinem riesigen Mahagonischreibtisch, als im Vorzimmer das Telefon klingelt.

Dr. Karsten Reich

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