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DIE „LÖWENBRAUT AUS WIEN“

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Emma Willardt hält ihr Versprechen, sie fährt mit ihrer Tochter nach Hamburg und kauft zwei Berberlöwen, einen Bären und einen Leoparden. Bereits fünf Monate später, am 13. Mai 1883, berichtet das Illustrierte Wiener Extrablatt, dass in der Schaubude Willardt eine junge Tierbändigerin, Fräulein Henriette Willardt, „einzig und allein in ihrer Art in diesem Genre“ zu bewundern sei. Noch im Dezember desselben Jahres reist die junge Dompteuse, der Zirkusdirektor Ernst Renz zur besseren Vermarktung den exotisch klingenden Künstlernamen „Miss Senide“ vorgeschlagen hat, mit ihren Tieren und einem prächtigen Schaukäfig nach Berlin. Reißerisch als „Löwenbraut aus Wien“ angekündigt, gibt sie am 12. Dezember 1883 bei der Damengala im „Zirkus Renz“ ihr Debüt. Der Auftritt ist eine Sensation. Die jugendliche Tierbändigerin lässt sich von einem Löwen die Tatzen auf die Schultern legen, nimmt ein Stück Fleisch in den Mund und lässt den zweiten Löwen danach schnappen. Ein Leopard legt sich ihr schnurrend zu Füßen und setzt sich dann manierlich zu Tisch, ebenso ein Bär und eine Dogge.

Frauen im Raubtierkäfig sind immer eine Attraktion und ein Nervenkitzel für das Publikum, umso mehr, wenn eine erst Siebzehnjährige den Käfig betritt. Doch die Raubtiere gebärden sich nicht als wilde Bestien, wie es die Ankündigungen hätten vermuten lassen, sondern folgen scheinbar sanft den Befehlen der jungen Dame und zeigen willig ihre Kunststücke. Die Vorführungen finden auf engstem Raum, in einem Käfigwagen von fünf Metern Länge und etwas über zwei Metern Breite statt, der in die Manege geschoben wird. Der Abstand zwischen der Dompteuse und dem Tier ist äußerst knapp. Der Berichterstatter des Wiener Extrablatts hatte das Einzigartige in Henriette Willardts Art der Vorführung bereits betont. Mit großer Tierliebe und enormer Nervenstärke arbeitet sie mit den Raubtieren nach der Methode der „zahmen Dressur“, die ohne schmerzhafte Bestrafungen der Tiere auskommt. „Sie liebte einfach die wilden Bestien, sie schlug dieselben nicht, sie hätschelte und liebkoste sie – und siehe da: Die Tiere wurden fromm und gelehrig wie die Pudel, gehorchten auf den leisesten Wink.“5

Mit dieser Methode löst Miss Senide die gängige Praxis der sogenannten „wilden Dressur“ ab, bei der ein Kampf zwischen einem starken Mann, dem Dompteur, und den gefährlichen Bestien, den Tieren, inszeniert wurde. Die Tiere wurden gereizt, mit der Peitsche und glühenden Stangen malträtiert, bis sie in panischer Angst brüllten und sich aufbäumten. Die Dressur bestand darin, dass ein misshandeltes Tier in seiner Angst auf ein Podest oder durch einen brennenden Ring sprang, wenn es keine andere Fluchtmöglichkeit sah. Manchmal wurden die Tiere sogar zu einem Gegenangriff provoziert. Das Publikum erlebte dabei die Überlegenheit des Dompteurs, der sich als Sinnbild männlicher Kraft präsentierte und die Raubtiere seinem Willen unterwarf. Carl Hagenbeck, der als der Erfinder der „zahmen Dressur“ gilt, verlangt als Grundeigenschaft eines Tierbändigers, einer Tierbändigerin Geduld, Selbstbeherrschung und scharfe Beobachtungsgabe. Je geduldiger und gütiger der Dompteur ist, desto mehr Vertrauen werden die Tiere zu ihm fassen. Ist aber die Güte nicht mit Strenge gepaart, die den Gehorsam erzwingt, dann wird es der Vorführung an Sicherheit mangeln. Scharfe Beobachtungsgabe ist ebenfalls notwendig, um schon geringste Veränderung in der Stimmung der Tiere zu erkennen und einer eventuell gefährlichen Situation zuvorzukommen.


Tilly Bébé im Löwenkäfig (Postkarte von 1905)

Selbstverständlich beruhen auch Miss Senides Vorführungen auf einer klaren Rangordnung. Die Dominanz der Dompteuse ist überlebensnotwendig, wird aber nicht mit Gewalt ausgeübt. Sie demonstriert vielmehr, zu welch außergewöhnlichen Leistungen Frauen mit dem Verzicht auf Gewalt imstande sind. Neben der Deutschen Claire Heliot und der Niederösterreicherin Tilly Bébé gehört Miss Senide zu den weltweit bekanntesten Dompteusen. Diese jungen Frauen verkörpern weibliche Souveränität in einem männerdominierten Umfeld. Sie sind bewunderte Ausnahmen, zeigen sich selbstbewusst und unerschrocken, verdienen gut, reisen um die Welt und können alternative Lebens- und Liebesformen jenseits der normativen Geschlechterrollen ausprobieren.

Alles, was ich wollte, war Freiheit

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