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Kapitel 1
ОглавлениеIn Kleinkinderschuhen zu Beginn des Dritten Reichs
Wie oft hat man mich gefragt in Frankreich, wie ist es möglich, dass fast ein ganzes Land hinter diesem Hitler stand?
Historiker und Intellektuelle haben sich mit der Geschichte des Dritten Reiches auseinandergesetzt. Ich kann nur davon berichten, wie es am Rande meiner kleinen Stadt zu der Zeit ausgesehen hat.
Die Menschen, vor allem die Arbeiter, hatten wieder Hoffnung, schöpften Kraft, konnten ihre Familien besser ernähren; es gab Arbeit, das Leben verlief für viele geordneter. Der Arbeitswille und die Arbeitsfreude waren da. Sehr viel weiter sah man nicht in diesen Kreisen unserer Kleinstadt.
Als ich gegen die Pocken geimpft wurde - ich war wohl zwei oder drei Jahre alt – sagte der Hausarzt nicht „heb mal Deinen Arm hoch“, nein, er sagte „mach mal Heil Hitler“, und schon war ich geimpft.
Uns gegenüber auf der anderen Straßenseite war ein kleines Lebensmittelgeschäft. Der Besitzer liebte kleine Kinder, und ich muss wohl recht drollig gewesen sein. Immer wenn er mich am Fenster erblickte, grüßte er mit erhobenem Arm, d.h. Heil Hitler, und schnell hatte ich es raus, ebenso zurückzugrüßen.
Später, als meine Vettern zu den Pimpfen und ich zu den Jungmädchen gehörten, sagten wir zu Oma, sie müsste auch mit Heil Hitler grüßen. Darüber lachte sie und sagte im besten niedersächsischen Plattdeutsch:“lat mi man…“ Sie blieb bei „guten Morgen, guten Tag, guten Abend“, und so war es in der ganzen Familie.
Wenn ich in der Stadt einem meiner Lehrer begegnete, musste ich natürlich mit „Heil Hitler“ grüßten. Als ich später zur Oberschule ging, wurden wir in der Eingangshalle von einer Studienrätin und einem Studienrat begrüßt, die von uns erwarteten, dass wir mit „Heil Hitler“ grüßten. Machten wir das nicht korrekt, mussten wir umkehren und noch einmal grüßen. Schlimm war es für uns Mädchen nach 1945: wir wurden von denselben Studienräten in der Eingangshalle begrüßt, mussten aber einen Knicks machen, der uns mehr oder weniger gut gelang. Also hieß es umkehren und noch einmal knicksen.
Natürlich war uns das Judenproblem völlig fremd.
Oma kaufte gern in einem jüdischen Geschäft in Stolzenau ein, vor allem schöne Bettwäsche. Sie musste mit dem Zug dorthin fahren, etwa dreißig km. Aber sie liebte das und schätzte sehr den jüdischen Geschäftsmann, da er ihr immer ein Geschenk obendrein machte, z.B. eine schöne Tischdecke.
Ich erinnere mich noch, dass die Jungs meine Spielfreundinnen auf dem Hof – sie waren einige Jahre älter als ich – mit „Ischen“ riefen. Vati machte mich darauf aufmerksam, dass man dieses Wort nicht mehr sagen sollte. Sehr viel später fand ich in einem jüdischen Wörterbuch, daß „Ischen“ Mädchen bedeutet.
Ganz dunkel ist mir in Erinnerung, dass die Eltern Papiere ausfüllen mussten über ihren Stammbaum. Ich verstand nichts davon, aber ich hörte ihre Unterhaltung, dass Tante Line, Tante meines Vaters, die einen Schneider Meyer geheiratet hatte, sich Sorgen machte, was die Papiere ihres Mannes anging. Aber in der kleinen Dorfgemeinde hat man wohl nicht weiter nachgeforscht. Jedenfalls nähte der Onkel weiterhin Anzüge, Hosen, Mäntel u.s.f. für Vati und andere. Schlimm war, dass Vati immer ewig warten musste auf eine Hose oder eine Änderung. Oft fuhren wir mit unseren Rädern vergebens dorthin. Gab er anderen den Vorzug?
Und noch eine nicht sehr schöne Erinnerung habe ich, was das Wort „Juden“ anbetrifft: Als ich einmal in die Waschküche ging, die so dunstig war, dass ich unsere Waschfrau kaum erkennen konnte, sagte diese, als sie meine „laufende“ Nase sah: “Du hast ja einen Juden in der Nase.“ Übersetzt hieß das: “Deine Nase ist schmutzig.“
Ich wusste ja nicht mit meinen 3 oder 4 Jahren, dass es sich bei Juden um Menschen handelte. Einmal möchte ich noch auf unseren Lebensmittelhändler von gegenüber zurückkommen: Kurz vor meinem fünften Geburtstag fragte Mutti mich, welchen Geburtstagskuchen ich am liebsten hätte. Ohne zu zaudern antwortete ich wie immer: „einen Kranzkuchen = Frankfurter Kranz“. „Den werde ich Dir in diesem Jahr wohl nicht backen können, Herr Fiehne verkauft mir nicht genug Butter“ erklärte sie mir. So ganz glücklich machte mich das nicht.
Als wir am nächsten Tag in eben diesem Lebensmittelgeschäft einkaufen wollten, bat mich Herr Fiehne, ihm ein Liedchen zu singen, wie ich das immer tat. Aber diesmal wollte ich das nicht. „Ja, aber warum denn nicht?“ fragte er. Worauf ich prompt antwortete: „weil Du Mutti nicht genug Butter verkaufst für meinen Geburtstagskuchen.“ So steckte er heimlich ein halbes Pfund Butter in Muttis Einkaufskorb. Die Butter war 1938 schon rationiert.
Mein französischer Ehemann sagte mir erst jetzt, dass in Frankreich die Parole Görings „entweder Butter oder Kanonen“ bekannt war.
Mein Vater, der nicht sehr zufrieden war mit seiner Tätigkeit in der Glasfabrik, bemühte sich um eine andere Stelle. Bei einer Firma in Bremen, die Flugzeuge herstellte, konnte er anfangen, musste sich aber um eine Wohnung bemühen. So entschloss er sich, eine Stelle bei der WIFO anzunehmen, Firma, die die Wehrmacht mit Treibstoffen versorgte. Diese Firma lag etwa sechs km südlich der Stadt in Richtung Minden und war mit dem Fahrrad zu erreichen. So blieb er „im Lande“, konnte gelegentlich bei seiner Mutter einspringen, die es nicht ganz leicht hatte mit ihrem schwer behinderten Mann. Dazu kam, dass die WIFO Häuser baute für Arbeiter und Angestellte und damit das Wohnungsproblem gelöst war. Damals verließ man nicht bedenkenlos seine Heimatstadt; man war sesshaft.
So zogen wir um im Januar 1939. Meine Grundschule lag nur etwa 200 m von unserem Haus entfernt. Damals begann das Schuljahr im September. Wir Schulanfänger sollten alle mit unserem Roller, mit Blumen und Kränzen geschmückt, zum Schulfest kommen. Aber es kam anders: der Krieg begann.
Zu Beginn des Schuljahres wurde erst einmal die Fahne gehisst, und es wurde gesungen. Auch die Kleinen kannten ja schon das Lied „Die Fahne hoch“. Später lernten wir das Lied „Auf hebt unsere Fahne in den frischen Morgenwind“. Der Lehrer, der für den Lehrgarten verantwortlich war und der jeden Vogel kannte, wurde gleich eingezogen, leider.
Nach zwei Lehrerinnen, die recht streng waren, hatten wir einen Lehrer. Seine Aufsatzthemen waren aufschlussreich:
- Der 9. November 1923 (Putsch gegen Hitler)
- Die Helden von Stalingrad (4.2.1943)
- Fliegeralarm (13.2.1943)
- Volk, steh auf! (20.2.1943 (Goebbels ruft zum Kriegseinsatz auf am 19.2.1943)
- Horst Wessel (25.2.1943) S.A.-Mann, wurde von Kommunisten ermordet, war der Autor des Liedes (Horst-Wessel-Lied) „Die Fahne hoch“
Heldengedenktag (20.3.1943) Gedenktag im März der Gefallenen des 1.Weltkriegs
- Die 100 Stunden-Schlacht der U-Boote (23.3.1943)
- Unser Vaterland (15.4.1943)
Wie soll man dabei unbeeinflusst bleiben?
Froh war ich Ende des Schuljahres 1943, die Aufnahmeprüfung der Oberschule für Mädchen geschafft zu haben. Die Studienräte und -rätinnen waren mir sehr sympathisch trotz der Begrüßungsszene in der Eingangshalle.
Ab Januar 1939 begann für uns ein neues Leben. Das Haus, das wir bewohnten, war komfortabel. Wir konnten drei Öfen und einen Küchenherd heizen, wenn wir es ganz warm haben wollten. Die noch nicht ganz trockenen Wände trockneten daher schnell.
Vati war voller „Tatendrang“, grub manchmal bei Vollmond den Garten um, mit dem Erfolg, dass alles blühte und gedeihte. Abends spielte er gern auf seiner Mundharmonika, Mutti und ich sangen zweistimmig unsere alten Volkslieder wie „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Ein Brunnen vor dem Tore“, „Horch was kommt von draußen rein“, „Ade nun zur guten Nacht“ und andere.
In den Vorgärten der Häuser unserer Straße hatte die WIFO Fahnenmasten pflanzen lassen, und an allen nationalsozialistischen Feiertagen, auch an Hitlers Geburtstag, sollten wir die mitgelieferte Fahne hissen, aus der später Mutti für mich ein Kleid nähte.
Ich beobachtete, dass nicht alle unserer Nachbarn es eilig hatten mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne! Mutti meinte, die hätten wohl auch wichtigeres zu tun. So schwieg ich still.
Andere Nachbarn wieder, die Katholiken, liefen jeden Sonntag eiligst durch unsere Straße, um pünktlich zur Messe in der Kirche zu sein. Das wunderte mich. Auch ich begleitete Mutti hin und wieder zum Gottesdienst in die evangelisch-lutherische Martinskirche, aber nicht jeden Sonntag …
Noch im Sommer 1939 – vor Beginn des Krieges – kaufte Mutti für mich bei dem Fahrradhändler Fuchs ein schon recht großes Kinderfahrrad, das aber bis Weihnachten im Geschäft bleiben sollte; ich sollte es neben dem Weihnachtsbaum entdecken. Mutti war da gut inspiriert; ab September 1939 gab es kein Fahrrad mehr zu kaufen. Alle möglichen Kunden wollten mein Fahrrad erwerben, das noch im Schaufenster des Fahrradhändlers stand.
So war es mit allem. Meine Eltern waren so gut wie nicht informiert. Hätten sie sich doch kurz vor Kriegsausbruch noch etwas eingekleidet! Aber natürlich war das Geld etwas knapp nach dem Umzug und der Einrichtung des Hauses.
Über den Mangel an Kleidung – die Kleiderkarten gaben nicht viel her – haben wir die ganzen Jahre hindurch gelitten bis 1949 etwa. Ich wuchs aus allem heraus. Die Hosen meines Vaters glänzten, die Jacken auch. Aus dem hinteren Teil seiner Hemden schneiderte Mutti neue Kragen und Manschetten. Da er fast Tag und Nacht in der WIFO arbeitete außer sonntags – ich sah ihn nur bei Fliegeralarm, und dann setzten wir uns im Sommer auf die Gartenbank, und er erklärte mir den leuchtenden Sternenhimmel – nutzten alle seine Sachen ab bis auf den „Festtagsanzug“, und mit dem hatte er Pech. Als er Weihnachten 1943 die Weihnachtskerzen anzünden wollte, stieg er auf einen der Esszimmerstühle mit scharfen spitzen Ecken. Dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel auf eine dieser Spitzen des Stuhls mit dem Ergebnis, dass seine gute Hose ein großes Loch hatte. Zum Glück fand Mutti eine Kunststopferin, die es verstand, das entstandene Loch fast unsichtbar zu machen.
Aber das waren kleine Sorgen verglichen mit dem, was an den Fronten geschah.
In unserer Kleinstadt haben wir nicht viel von dem erfahren, was in Berlin los war, geschweige denn von irgendwelchen Lagern, dem Schicksal der Juden.
Im Grunde war zu der Zeit jeder mit sich selbst beschäftigt, mit dem Wohlsein der Eltern, bzw. Großeltern mit den vielen täglichen Aufgaben. Moderne Maschinen kannten wir nicht. Die „große Wäsche“ war eine Zweitagearbeit, alle sechs bis acht Wochen. Einen Kühlschrank kannten wir auch nicht. So musste häufig eingekauft, die Milch jeden Tag aufgekocht werden.
All diese Erinnerungen sind die Betrachtungen eines Kindes. Von den Erwachsenen war nicht viel zu erfahren. Sie schwiegen, auch später noch.